Leben mit dem Dioxin

Die ungeschriebene Geschichte der Familien,
die Opfer von Agent Orange sind.

Jacques Maître und Bernard Doray

Die katastrophalen Auswirkungen der Herbizide, die über einem großen Teil von Südvietnam vor drei Jahrzehnten versprüht wurden, sind von Naturwissenschaftlern, vor allem Biologen, analysiert worden. In diesem Beitrag soll unsere Aufmerksamkeit dem alltäglichen Leben der Opfer gelten, deren Existenz durch die Folgen der Entlaubungsaktionen und/oder die verheerenden Auswirkungen des Dioxins, das in diesen Produkten enthalten war, massiv beeinträchtigt worden ist.

Wenn der Titel unseres Beitrags auch die Entlaubungsaktionen insgesamt fokussiert, so muß man in geographischer Sicht unterscheiden zwischen den Zonen, die massiv betroffen sind und dem Rest des Landes, ebenso wie zwischen der direkten Zerstörung der Vegetation und den Folgen der Vergiftung durch Dioxin. Die verheerenden gesundheitlichen Auswirkungen des Dioxins bei den vergifteten Menschen und ihren Kindern sind allerdings heutzutage im ganzen Land aufzufinden, und zwar wegen der Migrationen und vor allem, weil die Kämpfer, die dem Gift in den Kriegsgebieten des Südens ausgesetzt waren, aus dem ganzen Land stammten, einschließlich des Nordens. Die Verwüstungen sind allerdings weit größer dort, wo die gesamte Bevölkerung betroffen worden ist und wo das Verbleiben des Dioxins im Boden die die Gefahr einer Vergiftung für die Bewohner noch länger hat dauern lassen. Im übrigen haben die Entlaubungsaktionen vor allem Waldgebiete betroffen. Betroffen waren zwar auch die Mangrovenwälder am Ufer des Meeres oder Kautschukplantagen in der Ebene, am schlimmsten aber traf es die Berggebiete, weil der tropische Urwald bewußt zerstört wurde, wo oft Angehörige der ethnischen Minderheiten wohnen, Jäger- und Sammlervölker, die normalerweise Ackerbau und Viehzucht nur in rudimentären Formen praktizieren. Darüber hinaus hatten die Entlaubungsaktionen oft das Ziel, Nahrungsmittelpflanzen zu zerstören, um die Bevölkerung die Möglichkeit zu nehmen, sich zu ernähren. Sie sollten dem Hunger ausgesetzt werden.

Seit langem haben die medizinisch-sozialen Dienste und die Hilfsorganisationen systematisch die Familien der Opfer aufgesucht, um ihre Bedürfnisse zu registrieren und mit ihnen Gespräche zu führen. Oberhalb der Ebene der Einzelfälle mußte aber auch ein Überblick gewonnen und untersucht werden, welche Störungen dem Dioxin angelastet werden können. Zu diesem Zweck mußten die Gespräche mit den Familien zunächst Klarheit darüber schaffen, welche medizinischen Befunde vorliegen, es mußte eine epidemiologische Erhebung der Krankheiten erfolgen, die auch möglichst die Ursachen aufklären (um etwa die Hypothese der genetischen Vererbung der Vergiftungen zu verifizieren) und die pathologischen und sozioökonomischen Folgen (Arbeitsunfähigkeit, Armut, Störungen des sozialen Zusammenlebens, finanzielle Belastung durch die Behandlungen) ermitteln sollte. Da derzeit biologische Untersuchungen, die für jeden Einzelfall den Beweis erbringen, ob das Dioxin die Ursache ist, nicht möglich sind, und weil die wirklichen Dimensionen der ganzen Tragödie noch unbekannt sind, mußte in einem Anfangsstadium damit begonnen werden, einzelne Familienschicksale innerhalb der betroffenen Bevölkerung zu untersuchen. Trotz dieser Schwierigkeit, eindeutige medizinisch-soziale Beweise vorzulegen, erlauben es die bereits veröffentlichten Resultate, bestimmte aussagekräftige Hypothesen über das individuelle persönliche Leiden zu formulieren. Die sozialen Befragungen zur Ermittlung der "Bedürfnisse" der Opfer haben es auch erlaubt, deren erlebte Geschichte zu erfahren. Denn es wurden Befragungen vom "nicht geleiteten" Typ durchgeführt, die insbesondere dazu führten, daß sich das persönliche und familiäre Leiden unter weitgehender Ausschaltung einer sozialen Kontrolle Ausdruck verschaffte, die normalerweise dazu führt, daß das Reden der Menschen in bestimmten Bahnen verläuft. In dieser Arbeit hat seit mehreren Jahren das CGFED eine Pionierrolle gespielt, indem es Interviews mit Müttern von "Dioxinkindern" in verschiedenen Regionen von Vietnam führte. Die Veröffentlichung und Verbreitung dieser Arbeiten war der Ausgangspunkt für gesellschaftswissenschaftliche Felduntersuchungen.

Subjektive und kulturelle Antriebe

Psychisches Leiden

Im Vordergrund steht die Angst im Hinblick auf die Zukunftsperspektive der betroffenen Kinder. Die nahe Zukunft stellt die Probleme der Einschulung, der Berufsausbildung und der Zugang zu medizinischer Versorgung. Darüber hinaus beunruhigt die Eltern die Frage, was nach ihrem Tod passieren wird. Diese Angst wird in den Darstellungen ihrer Lage sehr häufig geäußert. Ein quälende Vorstellung ergibt sich für sie aus dem Verhältnis der Generationen: das schwer behinderte Kind wird nicht in der Lage sein, die Eltern im Alter zu unterstützen, es wird auch nicht den "Ahnenkult" weiterführen können. Dieser Kult ist ein zentrales Element der vietnamesischen Kultur und beruht auf dem Grundwert der Familie, nämlich der Überzeugung, eine Schuld gegenüber den vorigen Generationen zu haben, ihnen gegenüber Respekt, Liebe und Solidarität zu üben, was jeden Menschen an diejenigen bindet, die vor ihm gelebt haben. Dieser Kult manifestiert sich in den Todesriten, den Ahnenaltären in fast jedem Haus, der Aufopferungsbereitschaft den Eltern und den noch lebenden Großeltern gegenüber, usw. Traditionell wird die Hilfsbereitschaft der Toten den lebenden Nachkommen gegenüber danach gemessen, wie diese ihre Schuld begleichen. Entsprechend ist das Schicksal der Verstorbenen im Jenseits dadurch bestimmt, wie die Lebenden mit ihrer Schuld umgehen: Tote, denen nicht genügend Ehre erwiesen wird, werden zu "herumirrenden Seelen", unglücklich und möglicherweise rachsüchtig.

Aber die Furcht, die am häufigsten von den Eltern eines durch Dioxineinwirkung behinderten Kindes geäußert wird, ist der Schmerz darüber, daß das Kind niemanden mehr haben wird, der für es sorgt, wenn es erst einmal zum Waisenkind geworden sein würde.

Der Wunsch nach einem normalen Kind könnte dazu führen, daß eine künstliche Befruchtung durch den Samen eines fremden Spenders gewünscht würde, wenn es die medizinischen und kulturellen Voraussetzungen erlauben. Bis dahin kommt es oft vor, daß böse Zungen von einem Ehebruch sprechen, wenn ein Kind ohne Behinderung in einer Familie geboren wird, in der es behinderte gibt. Und in vielen Fällen führt die Angst, noch ein unnormales Kind zu gebären, zu Schwangerschaftsunterbrechungen.

Eine weitere Gefahr für die Würde einer Familie ist die Schande, die ein behindertes Kind darstellen kann in einer kulturellen Tradition, in der ein solches Unglück als Fehlverhalten den Ahnen gegenüber gedeutet wird. Die Schande setzt sich fort, wenn Heiratspläne scheitern, weil die Existenz eines Dioxinkindes auf einen Fluch hindeutet, der über der Familie liegt. Sogar en junger gesunder Mensch kann so als Träger eines vererbten Mangels der Familie verdächtigt werden, der verdächtigt wird, er könne ihn an seine Nachkommen weitergeben.

Die kulturelle Seite

Ein aufmerksames Anhören der Äußerungen, die soziale, subjektive und biologische Elemente artikulieren, erfordert die kundige Einbeziehung der kulturellen Seite, sowohl in bezug auf die vietnamesische Kultur im Allgemeinen, als auch auf den verschiedenen regionalen Ebenen und der lokalen Milieus und familiären Traditionen.

Man denkt natürlich an solche kulturellen Besonderheiten besonders dann, wenn es sch um ethnische (15 %) oder religiöse Minderheiten handelt: Katholiken (8 bis 10 %), Protestanten, sowie die lokalen Religionen in Vietnam wie der Caodaismus oder die Hoa Hao. Wenn man es genau nimmt, so verbinden sich sogar in den majoritären Traditionen verschiedene Strömungen (Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus) volkstümliche religiöse Praktiken (vor allem bei den Frauen), deren Auswirkungen in den Gebieten, die uns im Zusammenhang mit dem Dioxin interessieren, besonders spürbar sind: Das Leben nach dem Tod, die Erklärung des Leidens und des Unglücks, der Verschwörungscharakter der Krankheit, der Tod. Zum Beispiel ist der Kult von Quam An, der Göttin des Mitleids, vor allem bei Frauen sehr verbreitet, und wir haben eine fromme Frau getroffen, die einer Priesterin der Quam An ihre Tochter anvertraut hat, weil sie an einer durch Dioxin hervorgerufenen Behinderung litt.

Die Kultur sielt eine große Rolle im ideologischen Bereich, wenn es um die Darstellung der Gründe für eine Behinderung geht, sowohl auf materieller, als auch auf geistiger Ebene. Wenn man sich mit den Familien unterhält wird häufig das "Schicksal" beschworen. Es bleibt zu fragen, wie dieses "Schicksal" genauer zu verstehen ist: Karma, böse Geister, Willen eines überirdischen Wesens (das Rache nimmt oder Erlösung bietet), Hexerei? Man muß die Traditionen entwirren, welche die soziale und religiöse oder irreligiöse Sozialisation der Gesprächspartner geprägt haben, in einem Land, in dem der Budhhsimsu weit berreitet ist, wo es aber auch Katholizismus gibt, Sekten, "neue Religionen", und wo jede ethnische Minderheit ihre eigenen Traditionen hat -,ganz zu schweigen von der Verbreitung des Marxismus durch das politische Regime.

Auf einer subjektiveren Ebene ist es auch aufschlußreich, darauf zu achten, auf welche Weise das religiöse Schema affektiv verankert ist in bezug auf die Behinderung des Kindes: Schuldgefühle, Verfolgungsangst usw.

Medizinische Aspekte

Die Erkenntnis, daß Dioxin die Behinderung verursacht hat.

Wir wissen, daß der Anteil des Dioxins am Entstehen der vielfältigen Mißbildungen oder geistigen Behinderungen medizinisch schwer zu beweisen ist. Darüber hinaus sind wissenschaftliche Nachweise für die Entstehung der Behinderungen für die Familien keineswegs etwas Selbstverständliches sind, wie die folgenden Äußerungen von Müttern belegen:

Alle sagen, daß mein Sohn ein Opfer des Dioxins ist. Ich weiß nicht warum. Ich weiß auch nicht, welche Region von Dioxin verseucht ist. Aber wir leben hier, seit wir Kinder waren. Wir sind jetzt sehr traurig, aber wir müssen es eben ertragen.

Eine andere:
Mein älterer Bruder hat fünf Söhne, die sind jetzt verheiratet und haben keine Probleme. Niemandem geht es so schlecht wie mir. Die Leute sagen, daß ich eine vom Pech verfolgte Frau bin.

Hinzu kommt, daß die offizielle Einstufung eines Behinderungsfalls als durch Dioxin verursacht von großer Bedeutung ist, weil sie den Weg für materielle Hilfen eröffnet, die davon abhängig sind; auch wenn diese im Licht unserer reichen Länder minimal scheinen, sind sie für die Familien überlebenswichtig.

Geburtenkontrolle

Sogar in sehr abgelegenen Gemeinden haben wir festgestellt, daß schwangerschaftsverhütende Maßnahmen durch die vom lokalen Krankenhaus zur Verfügung gestellte Pille praktiziert werden. Immerhin steht diese Praxis im Einklang mit dem politischen Programm der Verminderung des Bevölkerungswachstums. Auch die Sterilisierung des Mannes oder der Frau kann ebenfalls die Weitergabe der Leidensfälle an spätere Generationen unterbrechen, was ebenfalls im Sinne der erwähnte Politik ist. Im Gegensatz dazu haben die Personen, die wir in diesen Gebieten besucht haben, keinen Zugang zu Untersuchungen, die Behinderungen schon vor der Geburt erkennbar werden lassen.

Die Kosten der Behandlungen

Die Behandlungskosten sind, wenn man im Verhältnis mit der finanziellen Situation der Familien betrachtet, sehr hoch. Insofern sind die Zuwendungen, die den als Dioxinopfer anerkannten Kindern zustehen, weitgehend ungenügend. Wenn ein Eingriff notwendig wird, müssen die armen Familien ihre elementaren Besitztümer einsetzen (Wasserbüffel verkaufen, Schulden machen usw.) oder auf freiwillige Spenden warten, die von reicheren Personen oder von Organisationen kommen. Zu diesen Schwierigkeiten der Finanzierung kommt noch das Hindernis der weiten Reise für diejenigen hinzu, die weit weg von einem entsprechend ausgestatteten Krankenhaus wohnen, das heißt in Gebieten, die gesundheitspolitisch schlecht abgedeckt sind.

Die Anwendung der traditionellen Medizin wirft die Frage nach deren therapeutischer Wirkung auf, aber auch die nach den ideologischen Bedeutung, vor allem in Hinblick auf die Vorstellungen, die man von der Entstehung der Krankheit hat und auf die Akzeptanz der wissenschaftlichen Medizin. Da sie billiger und geographisch weit besser erreichbar ist als diese, bleibt die traditionelle Medizin immer noch ein zentrales Element des medizinischen Umgang mit den sanitären Folgen der Sprühaktionen mit Entlaubungsmitteln.

Ökonomische Aspekte

Dioxin kann auch heute noch verheerende wirtschaftliche Auswirkungen haben auf die Flora, die Fauna und das Wasser. Diese biologischen Prozesse können also nicht übersehen werden, wenn man über die wirtschaftlichen Aspekte analysiert. Indessen können wir hier nur solche Faktoren aufgreifen, die sozialer und psychischer Natur sind. Auf hallgemeinerer Perspektive lasten die Folgen der Entlaubung und der Vergiftung durch Dioxin äußerst schwer auf der Bevölkerung vor allem durch die Kumulierung von Armut und Marginalisation.

Auch die Kultur übt einen Einfluß auf die Wirtschaft aus, zum Beispiel durch die Produktionsweise einiger Minderheiten, aber auch durch die Sitten und Gebräuche: Solidarität im lokalen Bereich, Angemessenheit der sozialen Belastungen.

Im Gegensatz dazu können die kulturellen Normen auch einen unterstützenden Einfluß haben. Außerhalb des Bereichs der Kernfamilie funktionieren Verhaltensweisen der Solidarität auch im erweiterten Familien- oder Nachbarschaftsbereich.

Die Auswirkungen des Dioxins auf die Gesundheit der Eltern und die Behinderungen der Kinder machen sich vor allem in einem wesentlichen Aspekt negativ bemerkbar: der Zeitökonomie des familiären Lebens. Die zur Verfügung stehende Arbeitszeit ist abhängig von den Behinderungen und dem Schulbesuch. Zum Beispiel kommt es oft vor, daß der Vater unter den Folgen seiner Kontamination durch das Dioxin leidet, unter Verwundungen aus der Kriegszeit und/oder unter Krankheiten wie der Malaria. Darüber hinaus wird die zur Verfügung stehende Zeit aktiver Arbeit zum Teil verbraucht durch häusliche Aufgaben und die Pflege der Behinderten.

Schließlich hängt das persönliche Schicksale der Kinder und der ganzen Familie in hohem Maß vom Schulbesuch ab. Die betroffenen Kinder sind mehr als alle andren darauf angewiesen, die Schule zu besuchen, seien es allgemeine Bildungseinrichtungen oder spezielle Zentren für die Rehabilitation und Behandlung der Behinderungen. Indessen haben diese Kinder oft große Schwierigkeiten, sich zu bewegen. So tragen diese sozialen Lasten immer mehr dazu bei, die Familie um ihre schon bescheidenen Einkünfte zu bringen.

Die Bergvölker

Unsere gemeinsame Arbeit mir dem CGFED war von Beginn an auf die Wechselwirkungen zwischen sozialen und subjektiven Faktoren konzentriert. Wir sind uns dabei von der Art und Weise ausgegangen, wie die Dioxinopfer (Vater, Mutter, Kind, Geschwister) ihr psychisches Leider in einer Situation äußern, deren objektive Parameter (medizinisch, ökonomisch, schulisch, sozial usw.) unabhängig davon objektiv erfaßt wurden. Die Methode, Lebensberichte unter der Bedingung minimaler Einflußnahme zu sammeln schien uns angemessen, um möglichst adäquates Daten zu erhalten. Was die Regionen angeht, so haben wir uns darauf geeinigt, ins zentrale Hochland zu gehen, etwa 60 km von Hue entfernt, im Distrikt A Luoi (nahe der laotischen Grenze), wo mehr als drei Viertel der Bevölkerung Angehörige Minderheiten der Pa Co, Ta Oi oder Ca Tu gehören. Wie wir es vorgesehen hatten, gehörten die interviewten Familien zu den ärmsten, das heißt sowohl durch Mittellosigkeit, als auch durch Abgelegenheit und kulturelle Eigenheiten am meisten isolierten Teilen der Bevölkerung. Oft spricht man in diesen Minderheiten nicht einmal die vietnamesische Sprache. Diese Erkundungsarbeit vor Ort soll uns dazu verhelfen, die spezifische Situation zu charakterisieren, in der sich die Bewohner eines Distrikts befinden, der mit am meisten von der Apokalypse betroffen wurde. Es folgt daraus natürlich, daß die meisten unserer Beobachtungen nicht unverändert auf das ganze Land übertragen werden können.

Bis in die 1950er Jahre hinein bestand die Bevölkerung aus Gruppen, die in der Höhenregion in einem Urwald lebten. Sie waren vollkommen integriert in das Ökosystem dieser Umgebung und praktizierten als Jäger und Sammler nur eine primitive Landwirtschaft auf der Basis der Brandrodung. Ihr Sicht der Welt orientierte sich an vorbuddhistischen religiösen Vorstellungen: "Genies" oder "Geister" waren für sie Personalisierungen der Naturkräfte, denen die menschlichen Gruppen unterworfen waren. Da gab es den Geist des Waldes, des Wassers, des Reises usw. Während des französischen Krieges unternahmen Truppenteile, die das Land erobern wollten, Patrouillen in die Bergregion zu schicken und richteten eine Flugstützpunkt ein. Eine solche Besetzung war begleitet von den für koloniale Eroberungskriegen charakteristischen Übergriffen. Die Bevölkerung wehrte sich und ihr Widerstand war natürlich Teil des bewaffneten Kampf der Vietnamesen für die Unabhängigkeit. Pa Co, Ta Oi und Ca Tu traten in die Geschichte ein und hatten zum ersten Mal ein Anrecht auf Würde als Menschen, die im ganzen Land anerkannt waren. Im amerikanischen Krieg spielten sie eine wesentliche Rolle, denn der Ho Chi Minh-Pfad führte genau durch das Gebiet von A Luoi und die USA hatten in dem Hochplateau drei Militärflughäfen gebaut. Mehrere große Schlachten dieses Krieges fanden in der Region statt. Infolgedessen begann die US-Airforce, damit die umliegenden Berge und die Hochebene besonders intensiv zu entlauben, was dazu führte, daß der Wald verschwand und die Bevölkerung dem Dioxin ungeschützt ausgesetzt war.

Heute versucht man, auf der Hochebene eine neue Vegetation wachsen zu lassen, vor allem für die Landwirtschaft und Viehzucht, und hat dafür einen großangelegten Entwicklungsplan ausgearbeitet. Der Geist des Waldes ist mit dem Ökosystem verschwunden, dessen wichtigstes geistiges Element er war. Eine so tiefgreifende Veränderung der Produktionsweise setzt eine sehr konkrete Integration der örtlichen Gesellschaft in die öffentlichen Pläne der vietnamesischen Behörden voraus, unter Beteiligung von eingeborenen Kadern, die den nationalen Entwicklungsprozeß unterstützen. Aber die wirtschaftliche Dynamik erreicht noch nicht massiv die Schicht der armen Bauern, die große Mehrheit der Bewohner, die immer noch in einer sehr prekären wirtschaftlichen Situation leben. Für deren behinderte Kinder ist der Zugang zu medizinischer Behandlung immer noch durch die Entfernungen, durch die Kosten und durch die kulturellen Differenzen sehr erschwert. Auch der Schulbesuch ist solchen Einschränkungen unterworfen. Hinzu kommen chronische Erkrankungen, Mange an Trinkwasser und die Folgen der hohen Armut (Unterernährung, die hohen Kosten der medizinischen Versorgung). Wenn wir zu solchen Familien gehen, die sowohl vom Dioxin betroffen sind als auch am äußersten Rand einer Gesellschaft leben. in der das Gefälle zwischen Stadt und Land immer größer wird, dann kann unsere Zusammenarbeit mit der CGFED vor Ort auch diesen Familien ein Stimme geben, die von den Folgen des Krieges existentiell bedroht und in der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung ohne Chancen sind.

Soziale und subjektive Faktoren

Die Zerstörung der Wälder und die Störungen bei der Fortpflanzung des menschlichen Lebens stellen ernsthafte Verletzungen der Biosphäre dar. Nicht nur haben sie schreckliche materielle Auswirkungen, sie zerreißen auch das soziale Netz, indem sie die Funktion der Symbole aufheben, mit deren Hilfe die Menschen sich und untereinander ihr Verhältnis zur Natur vorstellen und artikulieren. Diese Verbindungen wiederherzustellen und die vernchteten Visionen durch neue zu ersetzen kann nicht durch mechanische Reformen in der Dorfgemeinschaft, durch Erschließungspläne für den Boden oder durch Schulbesuch oder durch Aufklärungskampagnen erreicht werden. Ein wesentliche Teil der Wiederverknüpfung sozialer Bindungen muß auf dem Niveau des persönlichen Erlebens jedes Einzelnen und auf dem intersubjektiven Niveau der Familie geschehen. In der vietnamesischen Kultur ist es nicht gebräuchlich, einander seine Sorgen zu erzählen oder sich zu beklagen. Unsere Aufgabe sahen wir darin, keine ökonomische oder administrative Macht auf unsere Gesprächpartner auszuüben, um so zu erreichen, daß wir das Erzählen von Lebensgeschichten auf nicht-geleitete Weise anregen und aufmerksam zuhören konnten. Dies schien uns die geeignete Methode zu sein, um behutsam Neuerungen im sozialen Umgang anzusprechen und als vorteilhaft erscheinen zu lassen. Wir gingen dabei von dem aus, was die Menschen wirklich erlebten und wie sie das Erlebte selbst gefühlt hatten. Auch Initiativen auf dem Niveau der mikroökonomischen Familienaktivität (wenn zum Beispiel der Staat denjenigen einen Kredit gibt, die davon ein Rind kaufen und damit die Tierzucht in ihrem Distrikt einzuführen helfen) hängen von der verfügbaren psychischen Dispositionen ab, eine solche Initiative zu ergreifen.

Wenn man sich darauf einläßt, den Aufbau einer neuen Vision der Welt zu fördern, muß man zuallererst beachten, wie weit die traditionellen Prozesse veraltet sind, um die Bedeutung der unternommenen Erneuerungen einschätzen zu können. So haben wir in den Häusern, in die wir eingelassen wurden, keine Ahnenaltäre gesehen (wie sie allgemeine bei den Kinh verbreitet sind, der bei weitem größten Ethnie in Vietnam), aber sehr wohl Photos von "Onkel Ho" und darum herum eingerahmte Urkunden, die militärische Auszeichnungen dokumentieren, welche Familienmitglieder erhalten haben. Ebenso tragen viele Angehörige der Pa Co-Minderheit nicht mehr den Namen ihrer Väter aus der männlichen Abstammung, sondern statt dessen den Namen "Ho" angenommen, womit gleichzeitig die an einige der Vorfahren-Namen gekoppelten traditionellen Verbote bestimmter Nahrungsmittel ihre Gültigkeit verloren. Um zu erfahren, welche Auswirkungen ein solcher Bezug zu Onkel Ho auf die grundlegenden Orientierungspunkte in Denkweise und Kommunikationsaustausch innerhalb der Familie hat, muß man sich die Mühe machen, geduldig zuzuhören. Insbesondere, wie die entscheidende Frage des Umgangs mit den Behinderten gesehen und gelebt wird: "Warum passiert das ausgerechnet mir? - "Warum passiert das ausgerechnet uns?" - "Da die Menschen mit all ihren Fähigkeiten nicht dazu in der Lage sind, unsere Kinder zu heilen, an welche übermenschliche Instanz wenden wir uns dann? Oder gibt es eine solche nicht?" Ebenso ist es bei der Art, wie die Dinge gefühlt werden in der Familie, oder im Bewußtsein eines jeden Einzelnen, wichtig, zu wissen, welches ist der reale Einfluß der offiziellen Verlautbarungen (politisch, medizinisch, menschlich usw.) auf die Idee, die sich über das Dioxin bildet?

Schlussfolgerungen

Die verheerenden Auswirkungen der Versprühung von Entlaubungsmitteln werden auf dramatische Weise verschärft durch die aus einem Jahrhundert Kolonialherrschaft und einem dreißig Jahre dauernden Krieg zu ihrer Abschaffung ererbten Schwierigkeiten. Der schnelle wirtschaftliche Aufschwung, der die gegenwärtige Epoche charakterisiert, ist noch weit davon entfernt, für das vietnamesische Volk die Voraussetzungen zu schaffen, über die ein industrialisiertes Land verfügt, um die Umwelt wiederherzustellen, die Opfer mit den Mitteln der modernen Medizin zu behandeln, und den Familien der betroffenen Kinder eine soziale Versorgung bieten zu können, die sich mit der eines Landes wie Frankreich, Deutschland oder den skandinavischen Ländern messen könnte.

Im übrigen läßt eine anthropologische Analyse der Situation die besonderen kulturellen Bedingungen erkennen, unter denen die Vietnamesen die Entlaubungsaktionen und/oder die Langzeitwirkungen des Dioxins erleben. So nehmen die Besonderheiten des religiösen Glaubens und der religiösen Praktiken, der Familienstruktur, und des Rückgriffs auf die traditionelle Medizin einen wichtigen Platz ein bei der Einschätzung der persönlichen und kollektiven Auswirkungen dieser Katastrophe. Diese Faktoren haben verschiedene Einflüsse je nach Minderheit oder Religion.

Dieser kulturelle Aspekt drängt sich besonders auf, wenn man es mit Personene zu tun hat, die ehtnischen Minderheiten angehören. Dabei muß für jede dieser Minderheiten genau festgestellt werden, welche ihre Produktionsweise ist, wie die Verwandtschaftsverhältnisse eingeschätzt werden und in welchem religiösen gedanklichen Milieu sie leben (so etwa, ob der Ahnenkult zwingend dazu führt, daß man eine Nachkommenschaft will) sowie wie das Leiden ihnen erklärt werden kann usw. Die besondere Aufmerksamkeit, die hier den Bergvölkern galt läßt sehr wohl die sozialen Prozesse erkennen, die sich auf jeden Fall in abgeänderter Form in allen Regionen wiederfinden lassen.

Schließlich muß der Beitrag, den wir zur Linderung der Leiden leisten können, heute im Rahmen des wirtschaftlichen Aufschwungs gesehen werden, den Vietnam derzeit nimmt: neue Möglichkeiten zeichnen sich ab, auch zur Heilung der Kriegswunden. Die Arbeiten an der Verwandlung des Ho Chi Minh-Pfades in die "Vereinigungs-Autobahn", die von der chinesischen Grenze bis in den äußersten Süden des Landes führt, illustriert und konkretisiert den Willen, die Bergregionen entlang der "indochinesischen Kordilliere" zu erschließen; Und dieser neue Verbindungsweg durchquert bereits den Distrikt A Luoi in ganzer Länge.

Gleichzeitig verschärft sich derzeit der wachsende Abstand zwischen dem Lebensstandard der vietnamesischen Bauern und dem ihrer städtischen Landsleute immer mehr, und das betrifft auch insbesondere die hier aufgeworfenen Probleme. Dabei sehen sich die Bevölkerungsteile, deren natürliche Umgebung am meisten zerstört wurde, und die Familien, die die Vergiftung durch Dioxin am intensivsten erfahren haben, als besonders benachteiligt an, wenn es darum geht, ihren Anteil am Aufschwung einzufordern. Deswegen haben sie ein Recht darauf, von unserer Seite eine besondere moralisches und materielle Unterstützung zu erhalten.

Jacques Maître (gest. 2013) war Soziologe am CNRS und Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Frankreich-Vietnam (AAFV),
Bernard Doray ist Psychiater.

Quelle:L'agent orange au Vietnam.
Crime d'hier, Tragédie d'aujourd'hui,
hrsg. von der AAFV, Paris 2005.
Übersetzung: Günter Giesenfeld

Veröffentlicht in Vietnam Kurier 1/2007

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