Allein über die Straße

Eine Kurzgeschichte von Le Minh Khue

"Also, deine Tante und ich werden für einige Wochen verreisen. Du kannst den Laden hüten. Abends kommt deine Cousine Van und kümmert sich um die Kasse. Das Geschäft läuft sowieso schleppend. Du hast dein Vorstellungsgespräch hinter dir und momentan nichts zu tun als abzuwarten, und wenn du nicht hier im Laden sitzt, bummelst du nur durch die Gegend und schluckst dabei Staub oder du sitzt in einem Café rum und starrst den arbeitslosen Mädchen nach, die im Minirock vorbeiziehen und ihre Beine herzeigen. Das alles wäre doch völlig nutzlos.

Bliebe das Geschäft geschlossen, würden wir den Kontakt mit den Kunden verlieren. Die Kunden würden woanders hingehen, und sag mir nur, wo in dieser ganzen Stadt ein Haus direkt an der Straße liegt und kein Geschäft ist? Kein einziger Meter bleibt ungenutzt, alles nur Läden und Geschäfte, alles! Unsere ganze Stadt ist ein einziger, riesiger Markt, das ist wahrscheinlich einmalig auf der Welt. In anderen Städten sieht man doch einige Flächen vor für Parks, Wiesen, Bäume oder Blumenbeete, und für den Handel gibt es eigene Viertel; bei uns dagegen drängen sich die Geschäfte überall. Das ist aber auch ungemein praktisch. Streichhölzer kaufen kann man direkt vor der Tür, ein Motorrad dort um die Ecke, ein Auto drüben auf der anderen Straßenseite. Bäume und Grünflächen existieren da bald nur noch im Traum.

Na, Schluß jetzt mit dem müßigen Gerede! Aber wenn ich dein ernstes, vorzeitig gealtertes Gesicht betrachte, tust du mir leid. Sei uneigennützig und optimistisch wie die früheren Generationen damals auf dem Weg an die Front gegen den Feind, dann wird alles so leicht wie eine Feder.

Aber du mußt begreifen, wie wichtig es ist, das Geschäft offen zu halten: Ein geschlossenes Geschäft würde die Neugierde der Leute wecken, und manche würden sogar bis zur Haustür kommen und durch die Ritzen hineinspähen, um herauszufinden, was los ist. Deshalb musst du mir und deiner Tante helfen.

Wir verkaufen Wasserfiltergeräte, die fast ausschließlich aus China stammen und mit dem Aufkleber ‚Inlandsprodukt' versehen sind, um den Eindruck zu erwecken, daß es sich hier um hochwertige vietnamesische Waren handelt. Gut informierte Kunden würden ihnen keine Beachtung schenken, aber ab und zu gibt es Laufkundschaft: Der Ehemann kommt in die Stadt, kauft für seine Frau daheim ein Geschenk, weil sie sich üblicherweise, wie das ganze Volk, gerne etwas vormachen1läßt. Wenn dann zuhause das gekaufte Produkt funktioniert, ist es gut, wenn nicht, geniert man sich, zu reklamieren. Und welche Firma würde sich nicht mit besonderer Sorgfalt auf die Einlösung ihrer werbewirksamen Kundendienstleistungen vorbereiten. Ein Filtergewebeaustausch ist ja wohl auch Kundendienst, oder? Und was die Analyse des Wassers auf Mangan, Blei oder Eisen betrifft, können sie warten bis zum Sankt-Nimmerleinstag2. Das ist verdammt teuer und dauert ewig. Ich führe den Handel mit Wasserfiltergeräten nur so lange weiter, bis sich jemand findet, der den Laden mietet, denn ich und deine Tante haben keine Kraft mehr und wollen nicht mehr länger den Rücken krumm machen. Und wenn wir dann im Sarg liegen, gibt uns keiner echte Geldscheine ins Jenseits mit. Totengeld in unbegrenzter Menge, ja ... Sackweise..."

"Gut jetzt, du hast schon genug geredet. Unser Neffe hat bereits zugesagt, wozu also das ewige Geschwafel. Wenn ein alter Mensch zu lange redet, heißt es: ‚Hi he hutsch, die Nerven sind futsch'."

Nghias Onkel war nur einen Meter fünfundfünfzig groß, seine Tante einen Meter zweiundsechzig. Die beiden lebten schon über 20 Jahre zusammen, ihre Ehe war so ruhig wie die Wasseroberfläche eines klaren Sees. Der Onkel hatte die schlechte Gewohnheit, lange und laut zu reden, fast so lärmend wie der Lautsprecher des Stadtviertels. Die Tante sprach wenig, aber sie konnte die Dinge oft so lustig beschreiben in der Art der Dichterin Ho Xuan Huong3, daß sie die Zuhörer zum Lachen brachte.

Nghia aber lachte nicht. Er, ein junger Mann im Alter von 23, hatte bereits einen Vollbart. Sein ruhiger Blick ähnelte dem eines Matrosen, der schon manchem rauen Seegang in entlegenen, auf keiner Karte verzeichneten Meeresgegenden ausgesetzt war. Er schaute auf seine Tante und seinen Onkel, hörte dessen Rede an, und sagte dann kurz und klar: "Ihr könnt ruhig verreisen!"

Sie fuhren mit dem nächsten Zug fort, um ihren ältesten Sohn zu besuchen. Sie hatten ihn verstoßen, weil er ohne ihre Zustimmung eine Frau aus Mittelvietnam geheiratet hatte. Doch als eines Tages ihr zweijähriger Enkelsohn, wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte, ins Telefon sprach: "Lieber Opa, liebe Oma, ich bin euer Enkel Ty, ich grüße euch von Herzen!", waren beide dermaßen gerührt, daß Opa hustete und Omas Augen feucht wurden. Wer könnte da widerstehen?

***

Onkel und Tante waren fort. Cousine Van ging nach der Arbeit zu ihrem Freund, der einen Keramikladen in der Altstadt hatte; nur selten kam sie nach Hause. Von ihrem Handy aus rief sie an: "Hallo Nghia, bist du es? Viel Spaß beim Ladenhüten, und kauf Dir von den Einnahmen, was Du willst. Meine Eltern würden es nicht vermissen und auch nicht nachzählen!"

Nanu, was sollte denn das!

Auf der anderen Straßenseite entdeckte Nghia ein kleines Lädchen für Zeitungen, Bücher, Briefmarken. Er schritt durch den Strom blindlings dahinbrausender, wie von Ecstasy berauschter Mopedfahrer. Jedes kleinste Hindernis in ihrer rasenden Fahrt würde sie sofort die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlieren und tödlich stürzen lassen. Er kletterte über die Trennmauer mitten in der Straße, und auf der anderen Fahrspur war es dasselbe. Auch hier fuhren die wilden Burschen so, als seien sie unter Einsatz ihres Lebens aufs Vergnügen aus, als ginge es vor allem darum, riskant und schnell dahinzusausen und es zu genießen, wenn der Wind um die Ohren pfiff. Würden die Bremsen versagen, führen sie direkt zur Hölle4, um dort mit dem König der Unterwelt Bier zu saufen, der angesichts der Unzahl geschnappter Verkehrsteilnehmer schon an Überdruß litt. Das Überqueren der Straße kam Ngia wie ein Kampf vor, er war völlig verschwitzt, und das alles nur, weil er eine Sportzeitung kaufen wollte. Sein Lieblingsteam Arsenal spielte in der letzten Zeit mehr schlecht als recht, verlor ein Spiel nach dem anderen, aber gerade deshalb war entschlossen, diese Mannschaft weiterhin zu lieben, die anscheinend nicht nur um Ruhm spielte, nicht nur wegen des Geldes, und die den Pokal nicht um jeden Preis gewinnen wollte. Ihre Maxime war, traumhaft schön und fair zu spielen, eine romantische Einstellung wie die von Jungverliebten, die nicht an materielle Güter denken. Ein kunstvolles Fußballspiel ohne Härte, ohne schweren körperlichen Einsatz, wurde offenbar in einer Zeit, in der Manipulation und Betrug auf dem Rasen vor den Augen von Milliarden Zuschauern in aller Welt betrieben wurden, nur geringschätzig verlacht. Und man konnte nichts dagegen tun!

Doch wer so dachte, verriet seine Jugendideale. Die Bemühungen seiner Eltern, die Tag für Tag besorgt versucht hatten, ihn von seiner Position abzubringen, hatten ihm gezeigt, daß er sich in dieser Frage nicht im Einklang mit der Gesellschaft befand.

Nghia hockte den ganzen Tag im Laden und war froh, daß kein Kunde kam. Das Wetter war so heiß, daß die Bauern, selbst wenn der Reis oder Schweineverkauf genügend Geld eingebracht hatte, zögerten, zum Einkaufen in die Stadt zu fahren. Gewitzte Städter würden nur Qualitätswaren im Fachhandel erwerben. Und diejenigen, die sich solche Waren nicht leisten konnten, trauten der ganzen Technik nicht und würden aufgrund ihrer Skepsis lieber ungefiltertes Wasser trinken, ja sogar sterben. Deswegen saß er untätig herum.

In der ganzen Stadt war an dieser Kreuzung der Verkehr am dichtesten und die Luft am stickigsten. Und am schrecklichsten war es an Sommernachmittagen nach Arbeitsschluß. Der Reifendruck der zügellosen Raser brachte den Asphalt zum Schmelzen.

Als Nghia in den Laden stolperte, betrachtete ihn das Mädchen, das den Laden betreute, wie ein außerirdisches Wesen.

"Wie siehst du denn aus?"

"Ich habe die Straße überquert. Schrecklich!"

"Was war denn so schrecklich dabei? Auf dem Weg zur Schule überquere ich die Kreuzung tagtäglich, ohne jedes Problem. Vielleicht schaust du zuviel nach rechts und links!"

"Wenn ich mich nicht umsehen würde, würden sie mich umfahren!"

"Du darfst dich nicht umsehen, nicht aufpassen, wie die Leute raten. Du gibst acht, weichst aus, aber wer weicht dir aus? Du kannst von mir lernen: Ich gehe einfach voran, ohne auf irgendetwas zu achten. Niemand würde es wagen, mich anzufahren. Du kannst es ruhig mal versuchen."

"Eigentlich hatte ich auch nicht so viel Angst, ich fand es aber verworren und kompliziert. Ich bin nämlich ein Typ, der gerne den ganzen Tag allein in einer Ecke sitzt. Aber gerade deshalb brauche ich jeden Tag eine Sportzeitung, eine Zeitung mit grünen und roten Überschriften in Riesenlettern. Das Dutzend Sportzeitungen gleicht einander so sehr, daß es egal ist, welche ich lese. Aber es gibt sowieso in der ganzen Straße nur diesen einzigen Zeitungstand."

Das Mädchen lächelte verschmitzt.

"Du hast wohl recht, in dieser Straße Zeitungen zu verkaufen, ist Quatsch. Wer liest sie schon. Mein Großvater hatte nichts zu tun und hat deshalb diesen Laden zum Zeitvertreib eröffnet. Er erzählte mir, daß man früher für eine Zeitung Schlange stehen mußte und sogar einen Bezugsschein brauchte. Mein Opa denkt oft an die alte Zeit zurück. Schau, dort ist er ..."

Im Hause goß ein alter weißhaariger Mann in einem Seidengewand gerade seine Bonsais auf dem Tisch. Er sah selbst wie eine Antiquität aus. Er würde diesen fürchterlichen Motorenlärm, der von draußen hereindrang, nicht hören wollen. Nghia nickte, als er ihn betrachtete und fand, daß die beiden, der Großvater und seine Enkelin, offenbar die gleiche Einstellung hatten. Beide würden die Straße bedenkenlos überqueren. Das Mädchen spürte das Mitgefühl des Jungen für ihren Großvater. Sie zerrte ihn am Ärmel, weil sie von Nghias Gesichtsausdruck die Sorge eines alten Mannes ablesen konnte, der den Straßenverkehr fürchtete. Sie wollte ihm helfen und sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Tagsüber sei sie in der Schule, aber am Spätnachmittag werde sie ihm die Zeitung hinüberbringen.

Nghia schaute unschlüssig vor sich hin. Er wirkte unbeholfen, und wenn er sich ein paar Tage nicht rasiert hatte, erschien es vorzeitig gealtert. Das Mädchen lachte:

"Oder liest du nicht gerne eine ‚lauwarme' Zeitung? Aber man kann sie doch auch am Nachmittag gut lesen! ‚Lauwarm' liest sie sich sogar besser. Auf der anderen Straßenseite lebt ein Mann, der sehr gerne eine ‚lauwarme' Zeitung liest. Er sagt, brandneue Nachrichten machten ihm Angst. Erst wenn er die zustimmenden und ablehnenden Kommentare der Leute gehört hat, liest er selbst. Das Lesen einer ‚lauwarmen' Zeitung bringt ihm Ruhe. Findest du das lustig?"

Nghia lachte nicht. Das junge Mädchen gab ihm die Hand: "Also, abgemacht. Ich heiße Chip5, das ist mein Spitzname zu Hause. In der Schule verwenden sie meinen offiziellen Namen, der ziemlich lang ist: Nguyen Le Vu Thuoc Minh Huong. Fürchterlich. Sogar ein Gruselfilm wäre angenehmer."

Nghia saß auf einem Plastikstuhl und betrachtete den Verkehrsstau an der Kreuzung. Die Stockung war so schlimm, daß in alle vier Himmelsrichtungen alles kohlrabenschwarz erschien, mehrere Kilometer lang. Unter der sengenden Sonne kochte der Asphalt wie auf einem Gasherd. Die Sonne ließ die Luft förmlich auflodern. Die Frauen und Mädchen auf den Mopeds verhüllten Gesicht und Arme, ihre Stoffhandschuhe reichten bis zur Achsel. Sie sahen alle aus wie die Ninja der HongKongFilme. Manche trugen sogar dicke SonnenschutzHosen, wie die Wüstenbewohner. Ihre Sonnenbrillen waren so groß wie EssSchälchen. Aus lauter Angst vor den Abgasen verbargen sie ihre Schönheit.

Nghia fragte Chip: "Also, wo können sie ihre Schönheit denn zeigen?" Chip hielt sich die Hand vor den Mund, um ihre große Zahnlücke zu verdecken. "Sie zeigen ihre Schönheit in der Küche, im klimatisierten Büro, wie dem von meiner Mutter. Am Abend zeigen sie sie im Café. Und nicht zuletzt im Schlafzimmer. Es gibt doch genügend Ort dafür, weißt du?"

Nghia hörte dem 14jährigen Mädchen zu, das fast so redete wie die Jugendlichen, die ihre umfassenden Kenntnisse in Fernsehauftritten bewiesen. Sie wussten einfach alles. Sogar der Geburtstag eines gewissen Herrn X. irgendwo auf einer entfernten dünnbesiedelten Insel im Stillen Ozean war ihnen geläufig. Normalerweise waren Nghia solche Kinder, die alles zu wissen schienen, nicht geheuer. Aber als er Chip zuhörte und ihr Gesicht betrachtete, empfand er nicht so. Und daß sie in ihrem Alter wusste, daß Frauen ihre Schönheit im Schlafzimmer zeigen, war ja auch wohl normal.

Chip redete noch eine Weile über die Schönheit der Frauen. Nghia steuerte auch seinen Beitrag bei. Wirklich schade. Eine Schönheit reitet auf einem Motorrad, die Haare wehen im Wind, der flatternde Rock entblößt die Beine, unter dem Tshirt zeichnet sich die Brust ab ... Durch sie müsste die Stadt eigentlich wunderschön sein. Doch wird man heutzutage vermutlich den ganzen Tag vergeblich auf die Szene warten, wie die Schönen voranschreiten, während ihre hingerissenen Bewunderer ihnen schüchtern den Hof machen. ...

Chip sagte: "Wer hätte denn heute bei der eiligen Jagd nach Schnäppchen noch die Zeit für so etwas? Nimm meine Mutter: Wenn sie nach Hause kommt, schlafe ich schon. Und es ist wirklich lustig, wie meine Eltern miteinander leben. In den Wochen, in denen mein Vater nicht auf Reisen ist, kommt er für zwei Tage zu uns, zu meiner Mutter, mir und dem Großvater, mal am Wochenanfang, mal am Wochenende. Sonst ist er in seiner Wohnung"

"Warum denn das?"

"Ich weiß es nicht. Mein Vater ist beruflich sehr eingespannt, und meiner Mutter geht es genauso. So haben sie beschlossen, daß jeder in seinem eigenen Haus wohnen sollte, um mehr Zeit für sich zu haben. Jeder hat die Freiheit, zu tun, was er will."

"Das ist furchtbar. Das bedeutet doch, daß sie einander nicht lieben!"

"Es ist eine dauerhafte, himmlische Liebe. Jeden Abend führen sie ein inniges Telefongespräch von Haus zu Haus. Ab und zu holt er sie am Sonntagabend ab, zum Tanzen oder ins Café. Ich finde das gut, besser als zwischen meinem Onkel und meiner Tante, die ständig auf Schritt und Tritt zusammen sind, sich aber jeden Tag streiten und aufeinander losgehen. Meine Eltern scheinen einander nicht überdrüssig zu sein. Opa meint, die beiden seien verrückt, das gehöre sich nicht."

"Ich finde es auch nicht in Ordnung. Was für eine Art von Ehe, wenn jeder in seinem Haus wohnt, so wie die Europäer. Aber selbst die Europäer leben nicht so."

"Du bist echt altmodisch," sagte Chip und musterte den stillen Jungen, "so altmodisch wie mein Großvater."

Chip brachte Nghia nun regelmäßig, Abend für Abend, die Sportzeitung. Wenn sie während der abendlichen rush hour kam, schaute Nghia gelassen auf die Straße. Denn während eines Verkehrsstaus steht alles still und das Mädchen braucht sich nur durch die Fahrzeuge zu schlängeln. Aber wenn der Verkehr läuft, dann ist es gefährlich, dann achtet niemand auf den anderen. Mit Vollgas drauflos! Wer ein halbe Radumdrehung Vorsprung hat, fühlt sich, als habe er einen gewaltigen Sieg errungen, deshalb gibt jeder Vollgas.

Weit entfernt, auf der anderen Straßenseite, wippte Chips Haarschopf. Ihr Haar war dicht wie eine Baumwurzel. Sie brauchte eine übergroße Haarspange, um die Frisur zusammenzuhalten. Ihre Stirn wölbte sich nach vorn, ihr Gesicht wirkte rechteckig, weil Stirn und Kinn eckig waren. Sie sah so niedlich und unschuldig aus wie ein kleines Kind, das sich noch von Milch nährt. Aber wie sie über die Dinge nachdachte, war lustig.

"Wozu liest du die Sportzeitung? Ich lese sie nicht. Selbst den Fußball, den saubersten Sport, hat man in Verruf gebracht. Es ist schrecklich, sogar ein Gruselfilm wäre besser!"

Nghia mußte über ihre Redeweise lachen. Die beiden schienen seelenverwandt, so unterhielten sie sich gern miteinander. Einmal während eines Verkehrsstaus, als es stickig heiß war, zeigte Chip auf ein Auto und erklärte:

"Schau mal, da ist ein Murano, der fast 2 Milliarden Dong6 kostet. Und dort die Straße hinunter ist ein Lexus GX 470, mit einem stilisierten L als Markenzeichen. Das ist ein Modell von Toyota für den amerikanischen Markt, ein achtsitziger Geländewagen mit Allrad-Antrieb und einem 4,6-Liter-Motor ... kostet zweieinhalb Milliarden ..."

"Mein Gott, worüber du alles Bescheid weißt?"

Chip lachte so sehr, daß ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden:

"Mein Vater hat einen Auto-Salon. Er erklärt mir alles ganz genau, und ich merke mir jedes Wort."

Mit Chips Hilfe versuchte Nghia, sich die verschiedenen Autotypen einzuprägen. Er erkannte die Limousinen in der Preislage um drei Milliarden Dong, die sich mühsam ihren Weg durch den endlosen Strom der Motorräder bahnen mußten. Die Besitzer der Modelle Murano, Hummer7 usw. saßen unsichtbar in ihrem Wagen, warteten unerschütterlich auf das Auflösen des Staus, während der Rauch der Abgase den Lack angriff. Sie mußten das eben ertragen, niemand konnte dieser Unannehmlichkeit ausweichen.

Wenn man es recht bedenkt, haben es die Reichen in unserem Land auch nicht leicht. Im Altstadtviertel, wo Nghia wohnte, gab es eine berühmte Pho-Garküche8, die die NudelsuppenLiebhaber der Oberschicht persönlich per Auto ansteuerten. Das Erscheinen der neuen noblen MercedesLuxuswagen ließ in der Altstadt den versunkenen Glanz antiker Paläste auferstehen. Aber diese verehrten Damen und Herren, diese Oberschicht der neuen Zeit, mussten mit ihrem Auto Runde um Runde drehen. Hier ließ man sie nicht anhalten, dort scheuchte man sie weg, und mancher Neureiche schaffte es wegen des Parkplatzmangels den ganzen Vormittag nicht, eine Schale Pho zum Frühstück zu bekommen. Dennoch übten sie sich in Geduld. Wenn sie das Auto geparkt hatten, öffneten sie die Tür und begaben sich in ihren millionenteuren Schuhen, im formellen Anzug, im eleganten Kleid auf die Straße, und mochten sie innerlich auch ungeduldig sein, so zeigten sie sich als Angehörige der noblen Oberschicht, die inmitten von Staub und Morast lebten, doch gefaßt solchen Zumutungen gegenüber.

Im abendlichen Verkehrsstau verpuffte die Zeit der milliardenschweren Autobesitzer, aber das musste man eben in Kauf nehmen. Es gab keine Extraspur für die Reichen. Neben den Autos der Reichen waren da die Motorräder der Playboys; Die Scooter mit den starken Motoren sowie die ‚SuperScooter' über 250 ccm der Marken Honda und Yamaha steckten ebenso fest wie die schwachmotorisierten Mopeds aus China oder die japanische ‚Cup' der siebziger Jahre. Chip zeigte auf ein Motorrad von nahezu furchterregender kostspieliger Pracht:

"Schau dir das an. Das ist ein ‚Nashorn in schwarz', eine Wings. Mein Vater hat vor kurzem so eine gekauft."

"Schrecklich. Ich könnte mir gar nicht vorstellen, auf so einem Kaliber in der Stadt herum zu reiten."

Chip warf Nghia einen erstaunten Blick zu und kraulte seinen Vollbart wie eine kleine übermütige Schwester.

"Dann sag mir doch, was dir am besten gefällt?"

"Ich liebe sattgrüne Wiesen, Alleen alter hochgewachsener Bäume, die einen Lehmpfad säumen. In der Ferne sind einige Wohnhäuser zu sehen. Mir gefällt ein im Wald verborgenes Haus. Jeden Tag fahre ich mit dem Fahrrad in die Stadt zur Arbeit, und wenn ich nach Feierabend heimkomme, lehne ich es gegen den Zaun. In der Küche kocht meine Mutter gerade das Abendessen, mein Vater spielt Schach, und ich spiele mit Dir hinter dem Haus Basketball in der sauberen Luft. ..."

Chip lachte schallend wie ein beschwipster Junge:

"Du bist wirklich ein Träumer. Wo gibt es denn hochgewachsene Bäume oder grüne Wiesen für deine Luftschlösser? Den FahrzeugAbgasen und dem Feinstaub, deren Konzentration Tag für Tag ungehindert zunimmt, entkommst Du mit deiner Träumerei nicht ..."

Gelangweilt eine Hand in der Hosentasche, in der anderen die Zigarette, lauschte der Inhaber des benachbarten Oberbekleidungsgeschäfts dem Gespräch der beiden, während die Kreuzung wie an jedem Spätnachmittag total verstopft war

.

"Du bist wohl die Enkelin des alten Herrn vom Zeitungsladen auf der anderen Straßenseite, ich kenne euch doch. Der Schwiegersohn handelt mit Autos, die Milliarden kosten, die Tochter arbeitet bei der Bank. Ihr habt Geld wie Heu, wozu denn da noch der Kiosk für Zeitungen und Bücher?"

Chip gab keine Antwort. Sie schaute ihn unverwandt an, wie ein seltsames Wesen. Er redete wie alle anderen. Jeder glaubte, ihr Großvater sei arbeitswütig und geldgierig. Dabei suchte er ihrer Meinung nach lediglich nach einer Tätigkeit, um sich die Zeit zu vertreiben. Häufig verschenkte er all sein Geld an die zahllosen bettelarmen Verwandten auf dem Land.

Da Nghia befürchtete, Chip werde mit dem Mann aneinander geraten, versuchte er, die angespannte Atmosphäre aufzulockern, und fragte den Nachbarn:

"Wie läuft das Geschäft bei Ihnen?"

"Du bist seit Tagen hier, hast du gesehen, daß irgend jemand mein Geschäft betreten hat? Es ist verdammt heiß. Und meine Alte hat nur Waren eingekauft, die schon aus der Mode sind, und diese jungen Mädchen gehen nach einem kritischem Blick schnell vorüber. Verdammter Mist!"

"Aber ich finde, das Top hier ist doch noch ganz gängig, oder?"

"Ach! Heute in voller Blüte, morgen schon verwelkt. Modisch oder unmodern, das kommt und geht und dreht sich doch nur endlos im Kreis. Ich habe die Sendung ‚Dit-ko-ve-ri'9 im Fernsehen gesehen und fand, daß die Ureinwohner auf den fernen Inseln im Stillen Ozean am modebewußtesten sind. Die Männer stecken ihren Piephahn in ein Schilfrohr, so daß er aussieht wie ein Elefantenzahn, und zur Sicherheit tragen sie auf der Schulter noch weitere Schilfrohre als Ersatz. Davon abgesehen ist ihr Körper nackt, nur der Piephahn steckt im Rohr. Ich wette, daß kein Modedesigner es wagen würde, so etwas zu präsentieren. Meiner Meinung nach ist das eine außergewöhnliche, einmalige Mode, und würde sie in Paris vorgeführt, machten die Leute Augen!"

Nghia hatte sich ein bißchen vorgebeugt, als wolle er mit seinem Körper Chip vor diesen unverblümten Worten des ModengeschäftInhabers abschirmen. Aber Chip schien ganz ungerührt. Schließlich konnte sie ja schon allein die Straße überqueren.

***

Chip hatte Schulferien. Sie sagte, daß sie jetzt die Zeitung zu jeder Tageszeit hinüberbringen könne. Um die Mittagzeit schaute Nghia oft hinaus auf die Straße. Die schwülheiße Luft waberte, als befände man sich unter Wasser. Es flimmerte vor den Augen, daß man schwindlig wurde. Während der Mittagzeit war die Straße wie leergefegt. Eines Tages stürzte urplötzlich, als ob in dem schwülen Dunst jemand auf der Lauer läge, ein Motorradfahrer genau an der Stelle, wo die Reklametafel am Straßenrand stand. Er kroch mühsam hervor, richtete sein Fahrzeug auf, und schaute sich in der Hoffnung um, den Verursacher zu entdecken, um Schmerzensgeld zu fordern. Da er jedoch niemanden fand, stieg er wieder in den Sattel und fuhr verärgert weiter. Eine halbe Stunde darauf flogen zwei Jugendliche an derselben Stelle von ihrem Moped. Auch sie stellten ihr Fahrzeug wieder auf, murmelten einen Fluch vor sich hin und fuhren dann weiter. Wieder eine halbe Stunde später, an genau der gleichen Stelle, stürzte eine Frau mit ihrem Moped, auf dem sie zwei Körbe mit Eiern transportierte. Zwischen Mittag und Abend zählte Nghia nicht weniger als sieben solcher merkwürdiger Unfälle, ohne daß ein Fahrzeug ein anderes streifte. ... Der Inhaber des Modegeschäft meinte, das sei überhaupt nichts Ungewöhnliches. Eine Straße ähnele einem Fluß, der an gewissen Stellen jedes Jahr Menschenopfer fordere. Vermutlich läge dort an der Unfallstelle ein Skelett unter der Erde. Er wohne schon seit Jahren hier und von Zeit zu Zeit habe er so viele Unfälle an dieser Stelle beobachtet, daß seine Augen davon müde geworden seien. Irgendein Geist wolle dort ganz einfach die Menschen ärgern. Nur so ein bißchen ärgern zum Spaß, sonst nichts weiter ...

Wegen der Schulferien kam Chip nicht erst am Spätnachmittag über die Straße, sondern zu beliebigen Zeiten, wenn sich die Gelegenheit bot. Sie kam einfach, um mit Nghia zu plaudern. Gegen drei Uhr nachmittags, wenn die Straße meistens frei war, und die Fahrer wie verrückt Gas gaben, winkte Chip von gegenüber mit der Zeitung. Und bevor Nghia sie daran hindern konnte, flitzte sie schon auf die Straße. Heute trug sie die leuchtendrote Haarspange. Ihr TShirt und die Sportzeitung waren ebenfalls in Rot.

Sie überquerte die Straße genau an der Stelle, wo das geheimnisvolle Unheil seinen Opfern auflauerte. Als Nghia es krachen hörte, wurde ihm schwarz vor Augen. Das Moped von zwei Burschen in Chips Alter sauste wie in einem Rennen heran, wich Chip aus, und schleuderte die beiden, ohne den Bürgersteig auch nur zu berühren, an einen Baum.

Dann raste eine Honda SilverWings, gelenkt von einem HobbyTestfahrer, in Chips Richtung. Es krachte mehrmals wie bei einem Erdbeben, und von beiden Seiten der Straße rannten die Menschen herbei.

Nghia wagte kaum hinzuschauen, als der Rettungswagen Chip wegbrachte. Sie trug ihre roten Sandalen, und hielt die rote Sportzeitung fest in der Hand. Die rote Haarspange war auf die Erde gefallen. Nghia las sie auf und nahm sie mit zum Laden.

"Oh, Himmel, laß ihr nichts passiert sein. Bitte lieber Gott. Chip, ich habe dich doch gewarnt, aber Du wolltest nicht hören. Wie konntest Du allein über die Straße gehen!"

Anmerkungen (der Übersetzer):
1 tu lua (sich selbst) betrügen, anführen, täuschen. Es geht hier nicht so sehr um einen bewußten Betrug, als vielmehr um eine bestimmte Haltung: die Wertschätzung des Schenkens, ohne der Qualität oder der Schönheit des Geschenks großes Gewicht beizumessen.
2 Den tet sao hoa: bis zum Tet-Fest auf dem Mars
3 Ho Xuan Huong, eine Lyrikerin des 18. Jahrhunderts, verwendete eine farbenprächtige und sehr offene Sprache. Sie protestierte vehement gegen die Polygamie, entlarvte soziale Konventionen und schonte die angesehensten Vertreter der Gesellschaft ihrer Zeit nicht: Gelehrte, Bonzen, Helden, Könige und Adelige zog sie in unnachahmlicher Weise durch den Kakao, indem sie mit Doppeldeutigkeiten und höchst unerwarteten Anspielungen jonglierte. (vgl. Nguyen Khac Vien, Huu Ngoc: Vietnamese Literature, Hanoi o. J., S. 74ff.)
4 dia nguc Hölle, Unterwelt, übertragen auch: Zuchthaus.
5 Küken
6 ca. 100.000 €
7 Geländewagen, abgeleitet aus dem Militärfahrzeug HMMWV
8 nordvietnamesiche Spezialität: Nudelsuppe, deren Zutaten besonders sorgfältig ausgewählt und z.T. stundenlang gekocht werden; wird traditionell zum Frühstück gegessen.
9 dit co ve ri verballhorntes "discovery"; verstecktes Wortspiel: dit Gesäß, co junge Frau

Quelle: Le Minh Khue: Mot minh qua duong, in:
Le Minh Khue: Mot minh qua duong [Allein über die Straße].
Nhung truyen ngan moi va nhung truyen tam dac [Neue und wohlbekannte Kurzgeschichten], Hanoi 2006,

ins Deutsche übersetzt von Tran Van Cung und Marianne Ngo

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 3-4/2007

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