Der blaue Fluss

Eine Erzählung von
Le Minh Khue


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hanh Ha schien ein guter Name für das Kind zu sein, wenn auch ein ungewöhnlicher. In diesem abgelegenen Dorf am Meer hatte der Dorflehrer davon geträumt, daß der Charakter seiner Tochter, daß ihre Freude und Lebenslust wie ein Fluss die das Dorf umschließende Bambushecke durchdringen und sich durch Berg und Tal schlängelnd ihren Weg suchen würde, um sich schließlich mit dem Ozean der Menschheit zu vereinen. Solche Träume flossen ein in den Namen, den er für sie wählte: Thanh Ha.

Aber als sie an die Universität kam, traf sie überall andere Thanh Has. Zwei Jungen in ihrem Kurs hießen Ha. Und der Philosophieprofessor an ihrem College hieß Duong Ha.

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eden Morgen um zehn Uhr nahm Ha den Bus, der sie vom südlichen Stadtrand zu ihrem College im Norden der Stadt brachte. An der Bushaltestelle saßen die Leute und schliefen, so daß sie aussah wie eine Herberge. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie eine Gruppe muskulöser junger Männer darauf warten, daß jemand sie für körperliche Arbeiten anheuern würde. Unter ihnen erkannte sie einige, die vor kurzem das College absolviert hatten.

Thu und The stammten aus dem gleichen Dorf. Sie hatten schon ihr Examen, arbeiteten aber als Barmädchen. Sie ließen Ha umsonst bei sich wohnen. The schminkte sich jeden Abend sorgfältig; sie arbeitete in einer Bar beim Bahnhof. Sie schaute dann zu Ha hin und sagte: "Studiere bloß weiter, egal, was passiert. Es ist immer gut, ein College-Diplom zu haben."

Die beiden Barmädchen kehrten immer erst nach Mitternacht auf einem Motorrad zurück. Sie schliefen zusammen in einem schmalen Bett. Ha stellte eine Bank an die Tür und schlief darauf. Das Zimmer maß knapp zwölf Quadratmeter. Moskitos summten in ihrem Ohren. Vor dem Haus war ein Tümpel, der an einen Mann aus der Stadt verkauft worden war. Bald würde der Tümpel zugeschüttet werden, und im Handumdrehen würde ein vierstöckiges Gebäude, schlank wie ein Nagel, über den Hütten mit ihren verwitterten Wellblechdächern thronen. Die Silhouette der Dachfirste in ihrer Nachbarschaft erschien Ha wie eine Reihe schlechter Zähne. Fast erschrak sie bei dem Anblick.

Der Bus, den sie jeden Morgen nahm, fuhr vom Südende zum Nordende der Stadt. Daß Fahrer und Schaffner Uniform trugen, machte die Passagiere keineswegs reinlicher oder gesitteter. Die Sitzpolsterung hing in Fetzen, den schmutzstarrenden Boden bedeckten Grapefruitschalen und Zigarettenstummel. Ha erhob sich unauffällig von ihrem Platz und stellte sich hinter den Fahrer. Sie bewunderte seine Kontrolle über den Bus. Wie konnte er so wendig manövrieren, wenn jeder auf der Straße offenbar zum Selbstmord entschlossen war? Motorräder schwenkten um den Bus herum, darauf aus, ihn zu überholen. Fußgänger ignorierten die Hupe komplett. Doch die Miene des Fahrers blieb kühl und gelassen. Vielleicht waren nur die Kaltblütigen in der Lage, diese Arbeit auf staubigen Straßen voller schwitzender Menschen zu verrichten.

Der Bus stoppte vor dem College für Transportwesen. Die Welt ist voller billiger Scherze. Vor dem College für Transportwesen war immer Verkehrsstau, Morgens, Mittags und Abends. Eine halbe Stunde Warten. Ha nahm ihren Block heraus und versuchte, ihre Notizen nachzulesen, aber sie konnte kein Wort verstehen; alles war ein verwirrendes Durcheinander.

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eden Tag sah sie den Mann gemessenen Schrittes von den Lehrerunterkünften zum vorderen College-Eingang gehen: den Professor für Philosophie. Im Vergleich mit den Lehrenden für praktische Fächer, die schrecklich beschäftigt waren und ständig eingeladen wurden, hier und dort Vorträge zu halten, erschien er gelassen. Sein Haar zeigte graue Strähnen. Sie wußte, daß er immer noch Junggeselle war und nicht an Geldmangel leiden dürfte, und seine Ungepflegtheit schien tadelnswert. Auf dem Weg zum Nachmittagsunterricht entdeckte sie ihn häufig in einer Garküche an der Straße. Sie sah sein zerzaustes Haar, wenn er leise auf den Platz schlüpfte, der für ihn reserviert schien. Er aß immer das gleiche Gericht, das für ihn fertig bereitgehalten wurde. Gott weiß, warum sie sich darüber Gedanken machte. Vielleicht war das ihrer psychischen Verfassung zuzuschreiben: Sie war ein einsames Mädchen vom Land in der großen Stadt. Weder wollte sie zu ihren Wurzeln zurückkehren, noch wußte sie, wie sie hier Erfolg haben könnte. Außerdem hatte es mit diesem Lehrer etwas besonderes auf sich. Zur Vorlesung kleidete er sich etwas besser, obwohl er immer noch vernachlässigt wirkte. Am Anfang las er unzusammenhängend, aber nach und nach wurde er leidenschaftlich, selbst wenn seine Vorlesungen Themen behandelten, die heutige Jugendliche wenig oder gar nicht betrafen.

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hu hörte erstaunt, wie Ha den Professor beschrieb: "Das ist nicht möglich! Wie konnten wir einen Lehrer wie ihn alleine leben lassen?" "Einige Mädchen haben es mit ihm versucht, aber sie verließen ihn nach einer Weile", antwortete Ha. "Sie sagten, er lebe immer noch wie ein Soldat."

Sie saß auf dem Bett der beiden Älteren und schaute zu, wie draußen der Regen in den Tümpel fiel. Ihr Gemüt war in Aufruhr. Sie stand unmittelbar vor ihrem Examen. Vor dem Abschluß. Direkt vor der Suche nach Arbeit.

Die beiden Ex-Studentinnen starrten sie an. "Wie groß ist seine Wohnung?", fragte The spitz. "Ich bin nur daran vorbeigegangen und konnte nicht viel sehen. Aber sie scheint ziemlich groß zu sein. Das Wohnzimmer ist vielleicht zehn Quadratmeter. Über das hintere Zimmer kann ich nichts sagen." The hob die Augenbrauen, die so sauber gezupft waren wie die eines Models. "Hör zu, das ist ein Befehl Deiner älteren Schwestern: Du mußt in die Wohnung dieses Philosophieprofessors ziehen!" "Das könnte ich nicht. Er ist zu alt." "Höchstens vierzig Jahre älter. Ich würde einen Achtzigjährigen heiraten, wenn er mir einen Job verschaffte." "Red keinen Unsinn. Ich bin ein Mädchen vom Lande. Er würde mich nie akzeptieren." "Unterschätze Dich nicht. Schau doch mal in den Spiegel. Glaub mir, so wie Du ihn beschrieben hast, bist Du genau richtig für ihn. Du bist aufrichtig, ein bißchen schüchtern und ein bißchen verrückt. Versuchs!"

Thu brach in schallendes Gelächter aus: "Du hast nichts zu verlieren. Du mußt einen Weg finden, in dieser Stadt zu bleiben." Sie redeten und redeten, einigten sich auf dieses und verwarfen jenes. Schließlich kamen sie zu einem Ergebnis: Ha sollte früher als üblich zum College gehen. Und sie sollte ihr Mittagessen in jener Garküche zu sich nehmen.

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u der Garküche mußte man von der Straße aus ein paar Stufen hinuntersteigen. Auf den Tischen lagen rotkarierte Plastiktischdecken. Ha schaute auf ihre Armbanduhr und setzte sich auf die gleiche wacklige Bank, auf der normalerweise der Professor saß. Sie bestellte gebratenen Tofu und Suppe mit zwei Stückchen Fleisch. 3000 Dong. Ein ziemlich vernünftiger Studentenpreis.

Sie kam nun jeden Tag hierher. Zuerst erkannte der Professor sie nicht. Das College hatte Tausende Studenten, und die Nachfrage nach seinem Fachgebiet war so gering, daß er nur eine Vorlesung pro Woche gab. Aber das stille, schüchterne, aufmerksame Mädchen, das jeden Tag beim Mittagessen neben ihm saß, erregte schließlich seine Aufmerksamkeit. Schließlich fragte er sie nach ihrem Namen. "Ha." "Dann sind wir Namensvettern." "Interessant." "Woher kommen Sie? - Ach, jetzt erinnere ich mich. Ich werde ihren Kurs im nächsten Monat wieder haben." Und eines Tages sagte er: "Bitte rücken Sie näher. Es ist traurig, allein zu essen."

Er bestellte weitere Gerichte und füllte mit den Stäbchen Has Schale. Er selbst aß nur wenig. Sein Lieblingsgericht war Tofu mit Tomatensoße und eingelegten Gemüsen. Zum Essen trank er ein Glas Reiswein. Er fing an, von diesem und jenem zu erzählen. Über die Bombardierungen durch die amerikanischen B52. Über seinen Lebensretter, als er 1969 an der Straße Nr. 9 gekämpft hatte. Dann über sein Dorf, das in diesem Jahr überschwemmt worden war. Er lebte allein, aber bald würde seine Wohnung vor Gästen überquellen. Er hatte eine gewisse Verantwortung für die Versorgung der Kinder seiner Geschwister übernommen, aber er wußte nicht, wie er damit zurecht kommen sollte. Sie hielten ihn für einen reichen Junggesellen und erwarteten seine Unterstützung wie eine Selbstverständlichkeit.

Ha ihrerseits erzählte über ihr Dorf. Über den Bus, den sie zum College nahm. Über den Tümpel und ihr gemietetes Zimmer. Dann war es eines Tages so heiß, daß sie beide nicht mehr weiter essen konnten. "Kommen Sie zum Tee in meine Wohnung", lud er sie ein.

Sein Wohnzimmer war voller Bücher. Philosophieprofessoren läsen viele Bücher, erklärte er, und dann schrieben sie eine Menge Unsinn. Aber Duong Ha hatte nicht die Absicht, etwas zu schreiben. Er hatte mit dem Philosophiestudium begonnen, nachdem er die Armeeuniform ausgezogen hatte, und obwohl er viel las, fühlte er sich immer noch wie ein Frosch auf dem Boden des Brunnens. Um seine Traurigkeit zu verscheuchen, las er, und in seiner Freizeit spielte er Schach mit einem Geschichtslehrer vom Gymnasium, der in der Straße beim College wohnte. Seine Jugend war auf diese Weise vorübergegangen. Jetzt war er Anfang Fünfzig.

Er lächelte traurig. Ha bemerkte, daß das Rasieren wohl das einzige war, worauf er Wert zu legen schien. Vielleicht fürchtete er, daß ihn nach fünf Tagen ohne Rasur niemand mehr erkennen würde. Als sie Tee kochte, sah sie, daß sein Kühlschrank leer war. Wenn sie etwas anderes für ihn zubereiten wollte, würde sie es hier nicht finden. Das ging ihr nur so durch den Kopf.

Bald nachdem er seinen Tee getrunken hatte, legte er sich aufs Sofa und nickte ein. Es war einfach zu heiß. Der Ventilator an der Decke rührte nur die brennende, feuchte Luft im Zimmer herum. In der Hitze roch es nach altem Mann. Aber sie hatte ihr Abenteuer begonnen, und nun mußte sie es durchstehen, selbst wenn dies bedeuten sollte, einen Sprung ins Ungewisse zu wagen.

Während der Professor schlief, schätzte Ha die Größe seiner Wohnung ab. Sie könnte ein Doppelbett in die Mitte des Zimmers stellen, mit seinem Schreibtisch auf der einen Seite und einer Stehlampe auf der anderen. Das durch den Lampenschirm gedämpfte Licht würde den Raum anders aussehen lassen. Sie könnte zwei Wände blau streichen und einige Poster aufhängen. Die Küche sollte anders eingerichtet sein. Alles mußte umgeräumt werden.

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hu und The erstickten fast vor Lachen, als Ha von ihm erzählte. Alles lief gut. "Nächsten Monat, wenn es kühler ist, werde ich ihn fragen, ob wir in seiner Wohnung kochen können. Wir werden damit beginnen, unsere Mahlzeiten zusammen einzunehmen, das ist doch keineswegs ein übler Trick, nicht wahr?"

"Okay. Aber denke daran, daß Du bald Deinen Abschluß machst. Graduierte auf Deinem Gebiet gibt’s wie Sand am Meer. Oder möchtest Du ein Barmädchen werden wie wir?", fragte Thu.

The zuckte zusammen. "Heutzutage bringt es auch ein Barmädchen nicht zu Geld. Die Zeiten sind vorbei, als die Bosse vom Land hereinkamen und mit Staatsgeldern um sich warfen und alles bekamen, was sie wollten. Jetzt, wo sie ihr eigenes Geld ausgeben müssen für einen Kaffee, heulen sie, als hätte man sie kastriert. Wie kann ihnen das Geld locker sitzen beim Karaoke, wenn sie aus ihrer eigenen Tasche blechen müssen? Schau uns an - wir können uns nicht einmal ein anständiges Zimmer leisten. Jedesmal, wenn wir die ein- bis zweihunderttausend Dong pro Monat an unsere Eltern schicken, sind wir fast pleite. Du mußt etwas anderes für Deinen Lebensunterhalt finden. Du mußt Dir diesen Mann schnappen."

Ha bestieg lustlos den Bus. Zerstreut plante sie ihre Zukunft. Tag für Tag in der Hitze und im Staub. Geduldig wartete sie in der Garküche auf ihren Lehrer. Er gab ihr im Voraus Geld, um für seine Mahlzeiten zu bezahlen. Zum Wochenende gab sie ihm den Rest auf den Xu genau zurück. Und während sie aßen, wurde er langsam redseliger und teilte ihr die Geheimnisse seines Lebens mit. Während des Krieges hatte er sich in ein Mädchen aus der Nachrichteneinheit verliebt. Es schien so gut zu passen, ein Artilleriesoldat und ein Nachrichtenmädchen. Aber nach ihrer Demobilisierung verließ sie ihn, ohne zu sagen, warum.

Seit dieser Zeit hatte er keine Freundin halten können. Es lief immer gleich ab. Mädchen kamen in seine Wohnung, schwatzten eine Weile und verschwanden. Vielleicht stand er unter einem schlechten Stern. In seinen Dreißigern hatte er versucht, eine Frau zu finden, wie jeder andere Mann. Vergeblich. Nun spielte er Schach, um die Zeit zu vertreiben.

Ha lächelte traurig. Während ihrer Mahlzeiten, die sie täglich zur gleichen Zeit einnahmen, schien er sich allmählich in einen neuen Mann zu verwandeln. Er trug Schuhe. Er ließ sein Haar schneiden. Er schien öfter zu baden.

Thu meinte, der Fisch nähere sich langsam aber sicher dem Haken. Ha konnte nicht verstehen, warum sie es nicht mochte, wenn Thu und The so über ihn redeten. Sie kehrte ihnen den Rücken zu und machte ihre Hausaufgaben.

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ie stand an der Bushaltestelle, als der Professor auf einem geborgten Roller heranfuhr. Als er sie erblickte, rief er freundlich: "Sie müssen heute alleine essen. Ich werde nicht da sein" – und imitierte dabei einen Dialektausdruck. "Wo fahren Sie hin?" "Zum Bahnhof", sagte er und lachte. "Ich hole meine süßen Früchte aus dem Dorf ab. Ich muß sie zum Einkaufen ausführen und dann in ihr Dorf zurück bringen. Sie heiraten dort sogar in der Sommerhitze."

Er lachte beim Reden. Ha sah seine Augen blitzen. Sie waren unschuldig und zwinkerten. Außerdem trug er heute ein ziemlich schickes Hemd. Sie fragte sich, ob er eine Freundin gefunden hatte.

Sie verabschiedete sich und drehte sich zum Weggehen, da rief er ihren Namen. Als sie zurückschaute, stand er immer noch da. Sein Gesicht war nachdenklich, wirklich nachdenklich, nicht einfach abwesend wie früher. Plötzlich wollten sich ihre Füße nur widerwillig von ihm wegbewegen.

"Morgen muß ich für einige Tage in mein Dorf. Ich weiß, es ist schwer für Dich, so weit vom College entfernt zu wohnen. Bitte komm und räume meine Wohnung auf. Und Du kannst die Katze für mich füttern. Bleibe hier. Fühle Dich wie zu Hause", sagte er.

Er gab ihr den Schlüssel. Ha nahm ihn, wunderte sich über die Katze, denn sie hatte während ihrer Aufenthalte dort nie eine gesehen.

Die Katze erwies sich als ihrem Eigentümer ähnlich, träge und passiv. Sie hing draußen herum und kam nur herein, um in einer mit einer Decke gepolsterten Kiste zu liegen, als ob sie sich in ihr Schicksal füge. Wann immer Ha die Kiste öffnete, schaute die Katze heraus, jedoch ohne ihren Kopf zu heben oder ein Miau für nötig zu erachten.

Während seiner Abwesenheit putzte sie den Fußboden mit den gemusterten Fliesen. Zuerst schwemmte sie die Schmutzschicht weg, dann schrubbte und polierte sie die Fliesen mit einem Jutesack, bis sie glänzten. Als sie die Farben zum Vorschein kommen sah, erfaßte sie ein Gefühl der Rührung. Sie waren genauso staubig und hatten ihre Farben versteckt wie der Professor. Von einem Haken an der Wand hing der Gürtel eines Soldaten. Vielleicht erinnerte ihn das an etwas bedeutsames. Er sah weder neu aus, noch schien er gealtert. Aber nichts in diesem Raum konnte ihm wirklich etwas bedeuten. Ha wusch und polierte eine schöne Keramikvase und füllte sie mit Lotusblüten. Sie hängte einen neuen Vorhang auf, der in der Brise des Standventilators raschelte. Es kostete sie drei Nachmittage, die Wohnung aufzuräumen. Nachdem endlich die Bettlaken trocken waren, machte sie sein Bett. Als sie das einzelne Kissen darauf betrachtete, ermahnte Ha sich selbst. Wieso machte sie sich Sorgen? Wenn sie Glück hätte, könnte dies ihre Wohnung werden. Alles, was sie tun mußte, war, sich an ihren Lehrer zu halten.

Die Katze glitt leise an ihren Beinen vorbei. Die Gleichgültigkeit des Tiers machte ihr ein schlechtes Gewissen.

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he schüttelte sich wieder einmal vor Lachen. "Ich an Deiner Stelle hätte mich in die frischgewaschenen Laken und das gemachte Bett hineingelegt. Und dann einfach gewartet."

In Wirklichkeit waren die beiden älteren Mädchen durchaus nicht so erfahren; sie machten sich einfach über alles lustig. Zogen alles in den Schmutz. Für sie war das einfach: Wenn der Professor nickte, würde Ha bleiben. Wenn er seinen Kopf schüttelte, würde sie gehen.

Aber Ha entwickelte Eigensinn. Langsam war ihr Herz erwacht. Sie nahm an, daß es an dem Tag begonnen hatte, als er sie zu sich nach Hause zum Tee eingeladen hatte. Sie hatte sich um den Tee kümmern müssen, da keiner gekocht war. Sie sah, wie der Professor gleich seinen Kopf mit dem silbergesprenkelten Haar an die Lehne des Sofas sinken ließ und einnickte. Wie er da so saß und döste, hatte er etwas von einem enttäuschten Jungen. Er wirkte pathetisch wie das einzelne gekochte Ei in dem Gericht, das er in der Garküche zu sich nahm. Ha hatte geplant, ihn zu umgarnen, in seine Wohnung einzuziehen. Aber nach und nach hatte sich alles verändert. Jetzt wartete sie schon fünf Tage, aber immer noch gab es kein Zeichen von ihm. Hatte er vielleicht doch irgendwo ein Mädchen?

Thu und The zwinkerten sich zu und schauten dann Ha an: "Geh hin und schlaf heute in seiner Wohnung. Er hat Dich doch gebeten, nach ihr zu sehen. Du bist seltsam! Du hast sie einfach nur geputzt und dann abgesperrt?" "Es gibt dort nichts zu bewachen. Wer sollte denn schon Bücher stehlen?" "Aber Deine Liebesgeschichte läuft doch prima." "Ich gehe nicht hin. Ich habe den Schlüssel einer Nachbarin gegeben." "Du bist verrückt!", riefen die beiden einstimmig.

Ha ging zur Tür. Der Tümpel war inzwischen fast vollständig mit Erde zugeschüttet. Wenn nur ihr Leben auch so schnell arrangiert werden könnte. Vergiß es! Gestern hatte sie einen Brief von ihrem Vater bekommen. Er schrieb, sie könne nach dem Examen nach Hause zurückkehren und ihm helfen, Champignons zu züchten, die sich wie die warmen Semmeln verkauften. Also gut! Da gäbe es dann keine Gelegenheit mehr, den Professor zu treffen.

"Mädchen, Du ziehst ein Schwein auf, und fütterst dann den Tiger. Du bringst seine Wohnung in Ordnung und putzt, wäscht seine Kleider und verwandelst ihn in jemand ganz neuen, und das nur, damit dann irgendein anderes Mädchen ihn in die Krallen bekommt. Sei doch nicht so dumm!", sagte The im Singsang, während sie sich das Gesicht puderte.

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iebe kommt genauso plötzlich wie Schmerz. Zuerst ist sie vage, verstohlen und sanft, und dann plötzlich schnürt sie Dir das Herz ab. Ha stand an die Buswand gelehnt und beobachtete, wie der Schaffner ungeniert auf den Boden spuckte, als stünde er inmitten eines Abfallhaufens. Sie stieg aus und ging den Rest des Weges zu Fuß zur Schule. Er mußte zurückgekommen sein und seine Wohnung aufgeschlossen haben. Der Katzennapf war mit Milch gefüllt worden und wahrscheinlich noch nicht leer gefressen. Sie hatte jedenfalls getan, worum er sie gebeten hatte.

Ein paar Kommilitonen auf dem Weg riefen ihr lärmend zu: "Ha, der Philosophieprofessor hat nach Dir gesucht wie ein Feuerwehrmann nach seinem Löschschlauch. Wir sollen Dir ausrichten, Du sollst bald zu ihm kommen." "Hast Du dieses Hemd für ihn gekauft?" "Was für einen tollen Galgenstrick Du ihm gekauft hast. Da sind wir seit Jahren in einem Kurs, und ich wußte nicht, daß Du einen so guten Geschmack hast."

Sie rempelten einander an, versuchten, mit ihr zu reden und zu lachen. Wie ein Schwarm lachender Drosseln. Sie fühlte sich wie betäubt, wie im Halbschlaf. Sie erhielt die Erlaubnis vom Tutor, dem Unterricht fern zu bleiben - es war ohnehin der letzte Tag der Woche - und ging zum Eingang des Colleges, um auf den Bus zu warten. Dieses eine Mal fuhr sie nicht zurück zum südlichen Stadtrand, sondern stieg, ihre Aktentasche fest im Griff, an einer wenig frequentierten Straße in der Innenstadt aus. Hier schien die schönste Baumallee der Stadt ihrem eigenen Himmel zuzustreben, weit droben. Die sauberen, klaren Farben der Blätter färbten die Luft grün. Weit hinter den Eisenzäunen umsäumten Orchideen die Villen dieser Straße. Nie werde ich diese Welt kennenlernen, dachte Ha, und plötzlich war ihr nach Weinen zumute. Welche Ironie, daß ausgerechnet er der erste Mann war, in den sie sich verliebte. Aber wie dem auch sei, sie hätte nicht versuchen dürfen, ihr Glück herbeizuzwingen.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit streifte sie durch die Stadt. Dann bestieg sie den nahezu leeren Bus. Der Tümpel war nun ganz ausgefüllt worden. In der Nähe unterhielt sich eine Gruppe von Leuten über etwas. Das Zimmer war hell erleuchtet. Vielleicht hatte Thu Gäste. Wie ungewöhnlich - um diese Zeit sollten die beiden eigentlich die Wohnung abgesperrt haben und zu ihren Bars gegangen sein.

Thu saß mit dem Rücken zu Tür. Auf Has Schlaf-Bank saß der Mann und sprach mit ihrer Zimmergenossin. Ein reifer Mann, mit kurzgeschnittenem Haar, die Ärmel seines Hemds aufgekrempelt. Des Hemds, das sie ausgesucht und gekauft und auf dem Laken zurechtgelegt hatte, das von ihr mit Liebe gewaschen worden war.

Thu drehte sich um und lächelte: "Hier ist sie."

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s stellte sich heraus, daß der Napf, den sie für die Katze hingestellt hatte, trocken gewesen war. Wäre der Professor ein paar Tage später zurückgekehrt, hätte sie nach Mäusen Ausschau halten müssen.

Heute war es kühl. Manchmal gibt es solche Sommertage. Der Himmel war von blassem Blau. Ein leiser Duft von Magnolienblüten hing in der Luft. Die beiden Menschen konnten ahnen, woher dieser Duft kam. Sie waren überrascht, daß ihnen nach Flüstern war.

Ha lehnte sich in dem Rohrstuhl zurück, den der Professor gerade gekauft hatte. Etwas Rundes und Warmes strich ihr um die Füße. Ah, die Katze. "Na komm, spring auf meinen Schoß. Okay, jetzt bleib liegen! Mein Lehrer, die Katze ist wie Du: plötzlich ist sie aktiv geworden", scherzte Ha. Ihr Lachen klang kristallklar.

Der Professor stand still am Tor, schaute zurück auf seine hell erleuchtete Wohnung. Er fühlte sich eigentümlich, als ob er in das Heim von jemand anderem blicken würde. Sein Leben, das er für unvollkommen gehalten hatte, war endlich geordnet.

Gut. Jetzt würde er versuchen, zu leben wie alle anderen.

Quelle: VNS 10.03.2002
Übersetzt aus der englischen Fassung von
Ho Anh Thai und Wayne Karlin
von Marianne Ngo

Diese Geschichte wurde von der Autorin später überarbeitet und unter dem neuen Titel "Der Philosophieprofessor" veröffentlicht. In dieser Fassung ist sie auch in unserem Buch "Kleine Tragödien" enthalten.

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 1/2002

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