Das letzte Licht
des sterbenden Tages


Eine Erzählung von Nguyen Khai


Mein Kusine Bo hatte mich gewarnt:

„Wehe du machst aus meiner Geschichte einen Roman oder eine Novelle, dann brauchst du nicht mehr zu mir zu kommen: Nie werde ich auch nur ein Wort mehr mit dir wechseln!“

Das stimmt: Schriftsteller holen sich ihre Anregungen oft aus dem Leben der ihnen Nahestehenden und betonen dabei eher die Fehler und Macken und verschwiegen alle positiven Seiten, die keine „Geschichten“ abgeben. So werden sie von ihren Familien oft gemieden: ihre Frauen und Kinder mögen solche Indiskretionen nicht. Wer seine eigenen Erinnerungen niederschreibt, der versucht im allgemeinen, sich positiv darzustellen, beschreibt seine guten Taten und verschweigt seine schlechten. Nur der Romanautor kann daher die Laster und Missetaten dieser oder jener Menschen hervorheben ...

Warum ist das so? Ich weiß nicht. Und warum bin ich auch so? Ich verstehe es nicht wirklich. Ist das vielleicht mein Schicksal als Romancier?

Aber nun ist alles anders. Dieses Mal werde ich nur das Gute und Schöne beschreiben: Über die Mitglieder meiner Familie werde ich nur Lobenswertes berichten, wenn ich ihre Geschichte erzähle. Und wenn Sie dabei einen Funken Ironie bemerken sollten, dann nehmen Sie es als ein schelmisches Augenzwinkern von mir, um sie zu unterhalten und meinen Bericht etwas pikanter zu machen.

Meine Kusine Bo hat gerade geheiratet ... Es ist ihre erste Hochzeit! Das muß betont werden, denn sie ist ein wenig älter als ich und ich gehe schon auf die 60 zu ... Um es gerade heraus zu sagen: Sie war am Tage ihrer Hochzeit gerade 70 geworden. Es war eine andere Kusine, Dai, die, wie früher in den höheren Kreisen der Mandaringesellchaft, alles arrangiert hat. Es muß gesagt werden, daß in meiner Familie die Männer eher sanft und schüchtern sind. Sie haben Angst vor allem, was ihre heitere Ruhe stören könnte. Im Gegensatz dazu sind die Frauen fürchterlich: Sie fürchten sich vor nichts und die Kühnheit ihrer Initiativen bringen uns immer wieder aus der Fassung. So hat mir meine Kusine Dai eines Tages erklärt, als handele es sich um die banalste Sache der Welt:

„Wir werden unsere Kusine Bo verheiraten. Was meinst du dazu?“

Da wurde ich dann doch laut: „Aber was soll denn das? Die hat doch schon einen Fuß im Grab, und du willst sie verheiraten! Bist du jetzt vollends verrückt geworden?“

Dao blieb ruhig und fuhr fort: „Und du, du bist ein Egoist. du denkst nur an dich selber. du hast nur Angst, daß die Leute reden könnten, nicht wahr?“

„Und ob! Die ganze Stadt wird sich totlachen.“

„Na und? Sollen sie doch! Lassen wir sie doch lachen, soviel sie wollen! Wenn man weiß, was man tut, wenn man für das Wohl eines anderen sorgt, was kümmert uns dann das Lachen dieser Idioten?“

Ich versuchte, mich gegen diese unheimliche Entschlossenheit zu wehren: „Aber denk doch mal nach, Dai! Das ist doch kein Scherz. Wenn dein Vorhaben mißlingt, werden wir zum Gespött der ganzen Stadt. Man muß immer das Für und Wider abwägen.“

„Ich habe alles bedacht, genau abgewogen! Hier sind meine Schlußfolgerungen: Seit vielen Jahren wohnt Bo bei unserer Tante Hoang ... Aber diese Tante Hoang wird bald weggehen und in Frankreich wohnen, mit ihrer ganzen Familie ... Und wo bleibt dann Bo? Bei dir vielleicht?“

Ich schüttelte den Kopf: „Das wäre doch nichts für sie, mit dem höllischen Lärm den ganzen Tag ... Aber warum soll sie nicht bei dir wohnen?“

„Das meinst du doch nicht ernst? Eine Großmutter, das ist schon kaum erträglich für die Kinder. Und dann noch eine! Wie stellst du dir das vor?“

Da hatte sie recht, und das ärgerte mich ... „Okay, die Abreise der Familie Hoang bringt uns in Schwierigkeiten ... In ihrem Alter kann man Bo nicht mehr alleine leben lassen, sie könnte ja plötzlich krank werden ...“

Dai fiel mir ins Wort: „Aber gut, bis dahin kann sie sehr gut alleine leben..., tagsüber zumindest..., aber am Abend muß sich wohl einer von uns aufopfern und die Nacht bei ihr verbringen, du, deine Frau, oder eines deiner Kinder ... Ihr könnt euch ja abwechseln. Solange sie gesund ist, ist das vielleicht noch nicht einmal immer nötig, aber bei der kleinsten Krankheit ...

Die Aussicht, jede zweite Nacht bei meiner Kusine verbringen zu müssen, reizte mich gar nicht, und das entkräftete ernsthaft meine Opposition gegen das Projekt von Dai. Wenn es eine alte Mutter wäre, dann würde man sich ein wenig sträuben, aber man würde es tun... Aber Bo war schließlich nur eine Kusine!

Ach! Diese nutzlosen Traditionen aus alter Zeit, die dich zwingen, deine „Stellung zu halten“, haben schon viele zu Opfern gemacht. In meinem eigenen Familienzweig gab es eine große Anzahl von schönen, intelligenten und gebildeten Frauen, die eine gute Erziehung genossen und sicherlich das Anrecht auf einen herausragenden Rang in der Gesellschaft hatten – ganz zu schweigen von ihrer Rolle als Gattin und Mutter. Aber wegen der schäbigen Machenschaften ihrer Eltern, die immer auf eine noch bessere Partie aus waren, fanden sie sich eines Tages als alte Jungfern wieder oder wurden schließlich im kanonischen Alter dem ersten Besten aufgedrängt. Es kam sogar vor, daß man sie verzweifelt im letzten Augenblick mit einem Nachkommen aus einer dekadenten Familie verheiratete: Sie hatten dann alte Frauen als Schwiegermütter, die sich ihre Zigaretten selbst drehten, die sich aristokratisch gaben, aber keinen Cent in der Tasche hatten, und ihre Ehemänner waren Nichtsnutze, die nicht fähig waren, irgendeinen Beruf auszuüben, ihre Zeit mit Saufen verbrachten und über die verhängnisvolle Politik des „neuen Regimes“ schimpften. Für diese Frauen, die praktisch zu Dienerinnen abgesunken waren, wäre das Alleinsein immer noch besser gewesen!

Was meine Kusine Bo betrifft, so hat sie deshalb nicht geheiratet, weil sich nie jemand für sie interessiert hat: Ihre Eltern waren arm und hatten sie als Gesellschafterin zu einem Onkel geschickt, der ein reicher Mandarin war.

Als die nicht sehr hübsche und oft schlampig gekleidete, schüchterne und unscheinbare „Zurückgebliebene“ war sie stets vergessen worden, und verbrachte bei Abendgesellschaften ihre Zeit in der Küche und nicht im Salon. Sie erhob niemals irgendwelche Ansprüche, als sei sie mit ihrem Schicksal im Reinen, ganz nach den archaischen Regeln und Gebräuchen der alten Zeit. Ihre Kusinen, die Töchter des Mandarins, sagten gerne immer wieder, daß Bo aus den alten Zeiten stamme: Weil sie arm war, wurde sie langsam aber sicher zur „Alten“, hatte kein Recht auf Glück - das war eben der Lauf der Dinge.

Alles begann, um nun wieder auf das Glück meines Kusine Bo zu sprechen zu kommen, so: Vor sieben oder acht Jahren hatte eine andere Kusine, die an die Elfenbeinküste gezogen war, alle Formalitäten hier erfüllt, damit Bo später nachkommen sollte. Die beiden Frauen waren in ihrer Jugend sehr eng befreundet gewesen. Sie verstanden sich gut, sie waren beide engagierte Anhänger des Buddhismus: Daß sie ihre Tage bis zum Ende gemeinsam verbringen würden, erschien als eine glückliche Lösung. Aber denkste! Nichts da! Bo bereitete sich zufrieden auf ihre Abreise vor, als sie einen Brief aus Afrika erhielt: Die politische Lage habe sich verändert, die Kusine wollte jetzt nach Frankreich gehen ... So weit so gut, aber was sollte aus Bo werden?

Dai beklagte sich oft bei mir: „Diese Unglückliche, sie ist im Jahr des Büffels geboren und nun verbringt sie ihre Leben damit, sich abzurackern, als Hausdienerin für ihre Neffen und Kusinen. Und jetzt, wo sie alt ist ... Was bleibt ihr noch? Sie hat nichts, was ihr gehört, sie wird bis zum Ende allein blieben, von allen verlassen.“

Das stimmt, Bo hatte immer im Schatten ihrer Neffen und Kusinen gelebt, hatte deren Freuden und Leiden geteilt, und nun, da sie alle weggingen ... Hoffnungslos! Sie wird nichts mehr zu tun haben, sie wird nur noch der Schatten ihrer selbst sein, ohne Beschäftigung, ohne Zuneigung, ewig allein in ihren zwei kleinen, dunklen und feuchten Zimmern ... Das ist kläglich. Ach! Alle bemitleiden sie in ihrer Lage, aber keiner kommt auf die Idee, ihr vorzuschlagen, daß sie bei ihm wohnen könne! Auch meine Frau und ich, wir drücken uns!

Solange sie noch gesund ist, mag es angehen: aber wenn sie krank wird, dann ist die Katastrophe da.

Glücklicherweise haben wir Dai. Man gesteht ihr das Recht zu, ihre Stimme zu erheben: Sie ist so hilfsbereit und schlau! Hochzeiten, Beerdigungen, immer ist sie es, die alles in die Hand nimmt, und es funktioniert! Sie macht keine großen Gesten, aber es reicht, wenn sie sagt: so wird’s gemacht, soviel wird es kosten, der macht das, und die macht das ... und alle fügen sich und denken nicht daran, ihre Weisungen in Frage zu stellen.

Und jetzt hat sie sich vorgenommen, den Verlauf des Schicksals von Bo zu ändern, mit einem ihrer perfekt ausgetüftelten Pläne. Der sieht so aus:

Lange ist es her... ein halbes Jahrhundert! Da kam ein Hauslehrer zu unserem Onkel dem Mandarin. Es war ein junger Mann, sehr schön aber sehr arm. Der ideale Untertan. Er hatte sein Abitur gemacht und hatte dann gleich den Posten als Hauslehrer bei dem Onkel von Bo übernommen. Zu der Zeit mußte Bo ungefähr 18 Jahre alt gewesen sein. Sie mußte immer das Gartentor öffnen, wenn der junge Hauslehrer kam und ging. Einige Jahre später hatte der junge Mann eine Stelle in einem Krankenhaus gefunden und hielt um die Hand von Bo an. Seine Bewerbung löste lautes Lachen aus: Wie konnte es dieser arme Junge wagen, um die Hand eines Mädchens aus solchen Kreisen anzuhalten? Als Nichte eines Mandarins würde sie nur jemanden heiraten, der aus ihren Kreisen stammte! Der junge Mann empfand eine große Scham und war verzweifelt, er verschwand von der Bildfläche, niemals hörte man wieder von ihm. Für die arme Bo verschwand damit die Hoffnung auf Glück. Wenn man Dai Glauben schenken kann, war das das einzige Mal, daß ein Mann sich für Bo interessierte. Er hatte ihre Sanftheit, ihre Zurückhaltung, ihre weiblichen Qualitäten zu schätzen gewußt... Kurz, er hatte sich in sie verliebt. Dai hat später erfahren, daß er ein schweres Leben gehabt hat. Er hatte geheiratet, Kinder gehabt, seine Frau war gestorben. Er hatte noch einmal geheiratet, mit der zweiten Frau wieder Kinder gehabt und war dann ein zweites Mal Witwer geworden.

Dieser Mann, den das Schicksal so schlecht behandelt hatte, war 71 Jahre alt, ein Jahr älter als Bo, als er in unsere Geschichte eintrat. Dai hatte herausbekommen – weiß der Himmel wie – daß dieser Phuc – so hieß er – vorhatte, nach Frankreich zu gehen, wo einer seiner Söhne wohnte und ihn aufnehmen wollte.

Da setzte sie einen teuflischen Plan in Gang. Sie schlug Phuc vor, Bo mitzunehmen nach Frankreich: Dort sollte er sie an die Kusine weitergeben, die aus der Elfenbeinküste dorthin gekommen war. (Da sie nur Kusinen waren, genügte diese entfernte Verwandtschaft nicht, für Bo die Ausreise genehmigt zu bekommen.) Phuc hatte den Vorschlag sofort akzeptiert, aber ihm war bewußt: „Um das zu erreichen, müssen wir verheiratet sein!“

Und Dai ging sofort darauf ein: „Kein Problem! Sie werden einfach heiraten! Und wenn Sie erst in Frankreich sind, sind Sie beide frei. Sie brauchen sich nicht einmal scheiden zu lassen, es sei denn, einer von Ihnen hat die Absicht, jemand anderen zu heiraten.“

Ich konnte mich nicht zurückhalten, Dai zu fragen, wie sie denn auf diesen seltsamen Vorschlag reagiert habe: „Na wie wohl? Sie wurde rot wie eine Pfingstrose, sie hat sich gewehrt wie ein kleiner Teufel... Sie hat reagiert wie eine verschreckte Jungfrau.“

„Wie man nur auf sowas kommen kannn ... du bist komplett verrückt!“

„Ach so! Hör mal, wenn ich verrückt bin, dann nimm einfach Bo bei dir auf und wir vergessen alles.“

Dieses Argument machte mich sprachlos. Und Dai fuhr fort: „Ich habe mich von Bo beschimpfen lassen, mir Beleidigungen angehört. Und als sie sich endlich ein wenig beruhigt hatte, habe ich ihr nur eine Frage gestellt. 'Du allein entscheidest. Wenn du nicht einverstanden bist, dann sag es. Ich werde dann diesem Herrn ausrichten, daß du nein gesagt hast, daß du nichts von ihm wissen willst, und wir vergessen das Ganze. Also?'“

„Was hat sie gesagt?“

„Was soll sie gesagt haben? Sie hat gesagt, daß sie sich auf mich verlassen würde ... daß sie nicht wisse ... daß sie mir vertraue .. daß ich wohl das Richtige tun würde.“

„So ist also alles abgemacht?“

„Na klar! Weißt du, für mich ist Phuc immer noch in Bo verliebt. Sie war seine erste Liebe, stell dir vor. Wenn nicht, warum hätte er dann so eine Abmachung akzeptiert?“

Und so kam es, daß meine Kusine Bo Phuc geheiratet hat. Um die Wahrheit zu sagen: Es handelte sich natürlich um eine Ehe pro forma. Mit der Urkunde in der Tasche ging jeder zu sich nach Hause! In sein Haus, in sein Bett ... Es gab keinerlei Veränderungen im Leben der beiden! Meine Kusinen, die sich gerne ein wenig schlüpfrig ausdrücken, haben sich dabei das Maul verbrannt. Ich wage es nicht, hier alle die nicht salonfähigen Kommentare über diese „Flitterwochen“ der „jung Verheirateten“ zu zitieren.

Man hat mir erzählt, daß am Tag der Hochzeit der Sekretär des Volkskomitees, vor dem die zukünftigen Ehepartner erschienen waren, sie nach den Regeln der Zeremonie gefragt hatte: „Madame, waren Sie schon einmal verheiratet?“ Bo senkte den Kopf, sie traute sich nicht, zu antworten, und es war Phuc, der für sie das Wort ergriff: „Es ist ihre erste Ehe“.

Eine erste Ehe, ohne Verlobungsfeier, ohne Hochzeitsmahl ... Es gab ein einfaches Familienessen zwei Monate später. ... Was für eine Schande für eine Tochter eines Mandarins! In dem Monat nach der „Hochzeit“ von Bo habe ich mich nicht getraut, sie zu besuchen. Ich hatte Angst, daß es peinlich für sie wäre ... So wartete ich ungeduldig auf das offizielle Essen, wollte nur mal sehen, wie das funktionieren würde. Meine Kusine hat meine Neugier gerochen und weigerte sich hartnäckig, dieses „Schwein von einem Vetter, diesen Schriftsteller“ einzuladen, der das private Leben aller seiner Verwandten an die Öffentlichkeit zerrte.

Dai hatte diesem Essen einen Namen gegebene, es sollte das Solidaritätsessen sein. Ehrlich gesagt paßte dieser revolutionäre Begriff genau zur Situation. Man hätte keinen besseren finden können. Mehrere Tage nach diesem Essen lud meine Kusine Bo zu einem viel intimeren Essen ein, zu dem nur Phuc und einige seiner Kinder eingeladen waren. Bo ist eine gute Köchin, das ist eine ihrer vielen Qualitäten. Also hatte der alte Phuc an der Küche seiner „Gemahlin“ bereits Geschmack gefunden: Er lud sich ein paar Tage später selbst ein ... und dann immer wieder ... Zuletzt ging er jeden Tag zum Essen hin. Erst nur mittags, dann auch abends und schließlich – er hatte zuviel getrunken! Und die Nacht war so finster, sein Haus so weit weg – alle Vorwände waren willkommen, damit er zum Übernachten blieb! Ich breche in Lachen aus, worauf mir Dai einen zornigen Blick zuwirft: „Was gibt es da zu lachen?“ Sie zuckt mit den Schultern und behandelt mich von da an wie einen Geistesgestörten.

Ich habe die frisch Verheirateten schließlich doch getroffen. Am Todestag meines Großvaters väterlicherseits und Dais mütterlicherseits, Großonkel meiner Kusine Bo, fand ein großes Festmahl statt bei unserem Vetter, dem Familienoberhaupt. Bo war schon seit einer Stunde da, als ihr Gemahl eintraf; Sie haben einander kaum begrüßt, gingen miteinander um wie Fremde. Phuc ist älter als siebzig, aber er ist immer noch ein stattlicher Mann, immer noch quicklebendig und attraktiv mit seinem Lächeln und seinen lebhaften Augen: Er hätte vielleicht sogar eine vierzigjährige Frau heiraten können, zumal er auch reich genug ist. Aber wahrscheinlich hatte er immer noch seine erste Liebe im Sinn; wahrscheinlich sah er in Bo immer noch das schüchterne und sanfte Mädchen, von dem er damals überzeugt war, daß sie eine ideale Gattin und hervorragende Mutter sein würde... Als sie sah, daß Bo auf ihren Mann wartete, fragte Dai: „Hast du ihm auch genau erklärt, wie er das Haus findet? Diese kleine Gasse ist nicht leicht zu finden!“

„Ja, habe ich“, antwortete Bo lakonisch.

„Kommt er mit dem Fahrrad?“ Dai ließ nicht locker, „Das wäre unvernünftig, in seinem Alter! Ein Sturz wäre eine Katastrophe ...“

„Ich habs ihm gesagt, aber er hat seinen eigenen Kopf.“

Bei diesen Worten von Bo mußte ich lächeln: Und das sollen die Worte einer frisch Verheirateten sein!

Bei Tisch saß ich in der Nähe von Bo und ihrem Mann; Dai saß uns gegenüber, neben dem Familienoberhaupt, einem Mann, der sich mit Horoskopen und Physiognomien auskannte, sehr seriös, aber eher optimistisch, was die Zukunft angeht. Er beobachtet Bo lange Zeit und macht sich daran, seine Schlüsse zu ziehen:

„Ich lese auf diesen Gesichtszügen sehr günstige Zeichen: Hier haben wir jemand vor uns, auf den ein glückliches Ereignis wartet, im nächsten Jahr.“

Dai äußert eine böse Anspielung, die von allen als peinlich empfunden wird: „Nächstes Jahr? Ein 'glückliches Ereignis' für Bo?“

Man senkt die Blicke, niemand sagt mehr etwas. Bo ist sehr bleich geworden, aber ihr Mann schaut sie an und bricht in Lachen aus. Was für ein Flegel! Das Familienoberhaupt fährt fort mit seiner Analyse, als sei nichts geschehen: „Sie strahlen ja richtig in der letzten Zeit, Sie sind schön geworden...“

Seltsame Komplimente für eine Frau diesen Alters! Bizarre Aussagen für einen, der alles durchschaut! Dai nahm natürlich den Ball auf: „Das kann jeder mit seinen eigenen Augen sehen. Dazu braucht man kein 'Hellseher' zu sein.“

Ich frage mich, ob ich mehr Taktgefühl habe als das Familienoberhaupt. Denn ich traue mich nicht, etwas zu sagen, ich wage es nicht einmal, den frisch Verheirateten in die Augen zu sehen ... Ich höre zu und werfe einen heimlichen Blick: Bo nimmt die Eßstäbchen ihres Mannes und wischt sie mit einer Papierserviette sauber. Sie reinigt sein Eßschälchen ... Sie sagt nichts. Sie nimmt sich ein Hühnerbein, befreit es von den Knochen, schneidet es in bequeme Stückchen und legt alles in die Schale von Phuc ...Was hat er auch für ein Benehmen, dieser Phuc. Faul wartet er, bis ihn seine Frau füttert ... Die Szene ist auch Dai nicht entgangen:

„Da seht ihr den Nichtsnutz! Die arme Bo kriegt nichts ... Eigentlich müßte er sie bedienen.“

Phuc begnügt sich damit, zu lachen und sein herrliches Gebiß zu zeigen: Ganz neue Zähne!

Als der Familienvorstand am Ende des Mahles seinen Gästen heiße Tücher anbietet, wischt Phuc mit dem seinen erst über seine Stirn und reicht es dann an seine Frau weiter, die mit dem nun schon gebrauchten Tuch ihrerseits ihr Gesicht abwischt. Ich senke meinen Blick, meine Gurgel zieht sich zusammen und die Tränen kommen mir in die Augen.

Wenig später mußte Bo sich einer leichten Operation am Auge unterziehen. Sie liegt im Dien Bien Phu-Krankenhaus und die jüngste Tochter von Phuc bleibt bei ihr: Nachts schläft sie auf einer Matte am Boden des Zimmers. Was für eine Hingabe für ein Mädchen aus besserer Familie, von allen verwöhnt als das „Nesthäkchen“! Und der Sohn Phucs sorgte täglich für das Essen der Kranken und hielt Wache vor der Tür. Abends kommt er selbst, aber mittags ist es seine Frau, die herkommt: Sie achten darauf, daß ihre Schwiegermutter gut ißt und kümmern sich nicht um die Kosten!

An dem Tag, als ich sie besuchte, hatte man ihr gerade den Verband abgenommen, aber trotz der Brille sah sie noch nicht gut. Wenig später kam Phuc. Der Arme! In den ersten Tagen des Krankenhausaufenthalts seiner Frau ist er mit dem Fahrrad gestürzt: nichts schlimmes, aber er mußte beim Gehen einen Stock benutzen ... Mit langsamen Schritten kommt er näher und seine Tochter beeilte sich, ihm einen Stuhl an das Kopfende des Betts zu stellen. Phuc hält den Stock zwischen seinen Knien fest und nimmt die kleine Hand seiner Frau und fragt mit sanfter Stimme: „Hast du auch gut geschlafen? Tut dir dein Auge noch weh?“

„Danke, mein Freund, es geht mir heute schon viel besser ... In der Nacht bin ich nur einmal aufgewacht. ...“

Und die Tochter fügt hinzu: „Ah ja! Mama hat sehr gut geschlafen letzte Nacht, und mittags hat sei fast eine ganze Schale Reis gegessen!“

Bos Hand lag immer noch in in der ihres Mannes; sie beklagt sich leise: „Das Auge tut nicht mehr weh, aber ich kann nicht klar sehen damit. Hoffentlich geht das vorbei, sonst ...“

Da mischte sich eine Frau im Bett nebenan ein: „Sie ist besessen von dem Gedanken, daß ihr Augenlicht schwächer werden könnte ... Dann wäre sie eine Last für Sie. Deshalb macht sie sich Sorgen.“

Phuc reagiert sofort: „Aber nein ... Sie hat keinen Grund so zu denken. Als die Kinder klein waren, haben wir ihnen geholfen. Und nun sind sie an der Reihe. Und übrigens wird das sicher nicht lange so gehen ... in unserem Alter ... Einige Jahre noch, und wir werden mit unseren Ahnen vereinigt.“

Ich war so gerührt, daß ich ihn hätte umarmen können: Welche Treue, welche Großmut ... Beispielhaft, ein Vorbild für uns alle!

Aber nach einigen Monaten hatten sich die Augen von Bo merklich erholt: Sie ging wieder selbst zum Einkaufen, kochte jeden Tag drei Mahlzeiten für ihren Mann ... Und Rums! Kaum hatte er sich von seinem ersten Sturz erholt, fiel er zum zweiten Mal vom Rad. Was mußte er auch immer mit dem Fahrrad fahren in einem Alter, in dem ein Sturz fatale Folgen haben kann? Dieses Mal mußte er ins Krankenhaus, zwei oder drei Tage nur. Die Verrenkung war rasch geheilt, aber nun ist er steif ... ein Behinderter also gewissermaßen.

Wenn ich ihn besuche, liegt er auf dem Bett und liest, wie ein Hahn aus Gips, auf blendend weißen Laken in einem schönen Zimmer, sauber und aufgeräumt, während das Zimmer meiner Kusine eher wie eine Bruchbude aussah, voller Kochutensilien und anderem Kram. Sie ist dauernd um ihn herum, sie verhätschelt ihn mit Freude, als müsse sie eine große Schuld abarbeiten. Jedes mal wenn ich komme, wirft sie mir freundlich vor: „Gerade hat Phuc gesagt, daß du dich rar machst.“ und Phuc drängt darauf, daß ich zum Mittagessen bleibe. Meine Kusine kocht immer noch so gut und alle Gerichte, die sie uns serviert, schmecken köstlich, viel besser als die der anderen Frauen in der Familie. Ich frage: „Wo sind die anderen?“ Wenn ich „die anderen“ sage, meine ich die Familie von Phuc, denn aus unserer Familie kommte kaum jemand her um zu helfen ... ja vielleicht mal ein Besuch, schöne Worte, aber keine hilfreiche Geste! „Die anderen“, das sind die Kinder von Phuc ... und ich nenne sie zurecht so, denn bei uns macht man keinen Unterschied: Die Kinder ihres Mannes sind auch ihre Kinder, und Phuc, der meine Gedanken errät, sagt ruhig:

„Oh, wir zwei sind jetzt ganz allein. Wir können nur aufeinander zählen ... Die Kinder nun ja ... Na reden wir Klartext. Wir sind beide nie gleichzeitig krank ... Glücklicherweise hält Bo jetzt ganz gut durch, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß ich in die Küche gehe, um Essen zu machen. Die Kinder haben ihr eigenes Leben, ihre Beschäftigungen und wir sind es leid, sie ständig um Hilfe zu bitten.“

Diese Worte kommen ihm aus tiefem Herzen ... aus seinem guten Herzen, sie sind nicht einfach nur Höflichkei­ten ... sie berühren mich sehr.

Aber Phuc blieb viel länger bewegungsunfähig als vorgesehen. Bald sind es zwei Jahre, daß er bei Bo wohnt, denn dort hat er sich endgültig eingerichtet. Eines Tages habe ich mich bei Dai beklagt: „Also wirklich, die arme Bo, die hat doch ihr ganzes Leben lang das Dienstmädchen gespielt und hätte jetzt, wo sie alt ist, ein Anrecht auf ein wenig Ruhe .. Und nun hat sie einen behinderten Mann auf dem Hals.“

Da schimpfte Dai lautstark mit mir: Nach ihrer Meinung durchlebe Bo jetzt die schönsten Jahre ihres Lebens. Und sie würde gewiß glücklich sterben. Diese Schlußfolgerung brachte mich zum Lachen:

„Wirklich! Einkaufen gehen, drei Mahlzeiten kochen jeden Tag, niemals irgendwo mehr als fünf Minuten bleiben können, denn „Ich muß los, mein Mann ist ganz allein im Haus“. Sie schuftet den ganzen Tag, sie schläft schlecht in der Nacht ... Und das nennst du Glück? du bist verrückt.“

Dai schaute mich bestürzt an: „In ihrem ganzen Leben hatte Bo nie etwas ganz für sich allein. Sie hat nie einen Mann gehabt, und jetzt hat sie einen, ganz für sich allein, sie kann sagen: 'Das ist mein Mann1, meine Liebe, mein Schatz'. Sie ist ganz stolz, diese Worte aussprechen zu können. Sie sagt nie etwas, aber ich bin sicher, daß es so ist, klar doch! Es stimmt, daß sie die meiste Zeit mit der Pflege eines praktisch behinderten Greises verbringt, aber es gibt da ein solches Strahlen in ihren Augen! du, du bist blind. du verstehst überhaupt nichts. Schau mal, ich habe mit 17 geheiratet und ich habe 50 Jahre gebraucht, um meine Schuld abzutragen. Hallo, ja! Wenn man so lange mit einem Mann zusammen lebt. Das ist, als zahle man dauernd eine Schuld ab, die niemals weniger wird. 50 Jahre lang zu Diensten eines einzigen Mannes zu sein, davon bin ich verrückt geworden. Ich hatte die Schnauze gestrichen voll: Mein tägliches Leben war von einer widerlichen Banalität: immer dieselben Gesten wiederholen und dieselben kleinen Phrasen dreschen, dieselben Streitereien um nichts. Das ist tödlich! Ich hatte es so satt, daß ich eines Tages, erinnerst du dich? Ich bin für ein Jahr zu meiner Tochter in die Vereinigten Staaten gegangen. Ich habe mich um ihre Kinder gekümmert: das was ein wenig Abwechslung von meinem Alltagstrott.“

Na ja, sicher hat sie recht! Es stimmt, daß Bo sich niemals beklagt über ihr jetziges Leben. Im Gegenteil, sie strahlt vor Glück! Verschwunden sind auch die kleinen Gebrechen von früher! Sie verbreitet einen zauberhaften Charme, ihr Leben scheint von Tag zu Tag schöner zu werden, sie ist immer lebhafter, geschwätziger sogar. Und immer heiter! So war sie nie gewesen. Das ist eine andere Frau! Was hat sie einen so jugendlichen Anstoß erhalten, in ihrem Alter? Ihre Lebensfreude ist vergnüglich anzuschauen: Sie spricht über die Zukunft, über Projekte ... Sollte das ganz einfach die Liebe sein? Lacht nicht, meine jungen Leser! Seid nicht so dumm zu glauben, daß man nur mit 20 die Kraft und die Macht der Liebe entdecken kann. Seid nicht so fatalistisch. Die alten Leute haben einen Vorrat an Liebe, wenn sie ihn in ihrer Jugend nicht verschwendet haben.

Und deshalb besuche ich von allen meinen Neffen und Kusinen am liebsten Bo und Phuc. Früher suchte ich besonders gern meine Kusine Hoang auf, obwohl sie nicht aufhörte zu sticheln, mir zu sagen, daß die Kommunisten dies, ... daß die Kommunisten das ... das ging soweit, daß ich sauer wurde! Aber ihre Reden hatten einen gewissen Charme und deshalb ging ich ziemlich oft zu ihr. Bei Bo fasziniert mich etwas ganz anderes: Ich beobachte meinen Vetter, ein wenig gebeugt am Tisch sitzend, den Stock zwischen den Beinen: er schaut seiner Frau zu wie sie in der Küche herum werkelt, erzählt ihr Geschichten von früher und von heute, Geschichten aus dem Westen und aus dem Osten, traurige oder lustige. Seine Stimme ist ruhig und sanft. Bo läuft hin und her, immer mit irgendetwas beschäftigt. Aber sie hört zu und bleibt manchmal stehen und stellt eine naive Frage oder gibt sich überrascht oder irritiert: „War das wirklich so? ... eine so schöne Frau ... und ihr passieren so viele schlimme Dinge?“ Nach dem Essen raucht er eine Zigarette. Sie sitzt neben ihm und legt eine magere runzlige Hand auf das Knie ihres Mannes. Dann ergreift er ihre mit seiner Hand und massiert sie, dabei immer weiter redend. „Himmel, was hast du kalte Hände! Gib mir den Tigerbalsam, damit ich dir die Finger einreiben kann.“

Mögen die Götter es meiner Kusine und ihrem Mann vergönnen, noch einige Jahre so weiter zu leben, daß ihr Glück noch von einiger Dauer sei ... Was mich angeht, so kann ich meine Kusine Dai nur beglückwünschen. Ihre Reden reizen uns manchmal, aber sie hat wirklich ein so großes Herz und ihr haben wir es zu verdanken, daß sich endlich eine kleine Knospe entfalten konnte, die gerade dabei war, zu vertrocknen an ihrem Ast, vergessen zu werden.

27. November 1989

Originaltitel: Nang Chieu
Quelle: Les yeux. Recueil de nouvelles vietnamiennes 1945-1996, tome 1,
Editions The Gioi, Hanoi 1997, p. 349-364.
Übersetzung aus dem Französischen
(von Minh Yen und Janine Gillon): Günter Giesenfeld

Nguyen Khai (1930 - 2008 war einer der bekanntesten Schriftsteller in Vietnam. Seinen größten literarischen Erfolg hatte er im Jahre 1960 mit einem Band Kurzgeschichten Mua Luc (Jahreszeit der Erdnüsse), dessen Texte jahrzehntelang in den Schulen als Basislektüre genutzt wurden. Schon 1946 hatte er sich als Krankenpfleger in der Volksarmee engagiert, fing da schon an, als Reporter und Journalist zu arbeiten. In dieser Zeit hatte er engste Kontakte zur Bevölkerung und zu den Bauern, weshalb er als einer der besten Kenner der Lebensumstände und des Denkens der Landbevölkerung gilt.

Nach dem französischen Krieg etablierte er sich 1951 als freier Schriftsteller, war Herausgeber einer Soldatenzeitung und gründete dann die noch heute angesehene und einflußreiche Zeitschrift der Armee für Literatur (Van Nghe Quan Doi). Er war prominentes Mitglied des Schriftstellerverbandes und zeitweilig Abgeordneter der Nationalversammlung. Nach 1975 konzentrierte er sich in seinen Werken auf Probleme der Nachkriegszeit. Häufiges Thema ist die Beziehung zwischen traditionellen Werten und modernen Entwicklungen. Er behandelt dieses Thema meist humorvoll-kritisch, reflektiert dabei auch die Rolle der Literatur. Er bevorzugte die kurzen Formen (Kurzgeschichte, Novelle), veröffentlichte aber auch Tagebücher, Romane und schrieb Filmszenarien.

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2008

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