Warten auf die Fähre

Kurzgeschichte von Kiêu Bich Hâu

Chiêns Handy klingelte und vibrierte lautstark auf dem Tisch. Er schob die Computer-Maus beiseite und schaute aufs Display. Liêu! Schon wieder! Einerseits wollte er den Anruf entgegennehmen, andererseits hätte er ihn am liebsten ignoriert. Wenn Liêu sich um diese Zeit meldete, bedeutete das, dass sie wieder einmal einem Schub ihrer Wanderlust nachgab, aber er hatte heute Arbeit ohne Ende.

Das Handy fuhr immer noch wild blinkend auf dem Tisch herum. Mit der Zunge schnalzend nahm Chiê´n es auf.

„Chiêns Escort-Service, womit kann ich Ihnen dienen, Madame?“

„He! Ich sollte dir einen Klaps auf den Mund geben, du ungezogener Kerl! Wo bist du gerade?“

„Wo bin ich denn immer um diese Zeit?“, fragte er und kratzte sich zaghaft am Kopf.

„Kommst du denn nie an ein Ende mit deinem Papierkram, du armer Langweiler? Sei in einer Viertelstunde unten am Eingang, diese Madame wird dich dort erwarten.“

„Na gut.“

Chiên legte auf und warf einen Blick durch den Raum. Die Sekretärin beugte ihr rundes sommersprossiges Gesicht über den Computer und ließ ihre Finger über die Tasten tanzen wie Regentropfen. Das Marketing-Mädchen, wieder in einem ihrer kurzen Röcke, stützte eine Hand in die Hüfte, während sie laut in ihr Handy sprach und ihr eine Locke ihres gebleichten Haars auf die Schulter fiel. Alle paar Minuten stieß sie eine Lachsalve aus wie ein Nebelhorn. Die beiden Techniker, die einander ähnelten wie Zwillinge, klebten schier mit den Augen an ihren Bildschirmen. Und der zerzauste, grauhaarige Abteilungsleiter, die dick-glasige Brille auf dem Nasenrücken, brütete über einem Notizbuch.

Chiên atmete tief ein. Ein Tag war wie der andere. Nie auch nur die geringste Abweichung. Mit einem Mausklick fuhr er den Computer herunter. Er nahm seinen Hut und sagte zum Abteilungsleiter: „Herr Minh, ich gehe für eine Weile hinaus.“

Dieser warf ihm, weiterhin über seinen Tisch gebeugt, einen misstrauischen Blick zu. „Ja, ja, gehn Sie nur.“

Chiên schloss die Tür hinter sich. Er hatte in dieser Woche noch zwei Werbeanzeigen fertigzustellen. Ganz sicher würde Herr Minh ihn morgen deswegen angehen. Egal! Schon passiert! Als er aus dem Eingang trat, sah er Liêu auf ihrem Attila-Motorrad ankommen. Sie lächelte ihm zu, ihre Augen strahlten. Ihre langen Beine, auf die sie so stolz war, steckten in enganliegenden hellblauen Jeans. Wenn sie ihn beim Drauf-stieren ertappte, zog sie ihn am Ohr. Ihr kurzes pinkes T-Shirt ließ den Bauchnabel unbedeckt, und sie wirkte so frisch und appetitlich wie ein kühles Stückchen Apfel.

„Herrje, ich muss ja schrecklich aussehen, so verwirrt, wie du schaust. Los, steig auf.“

Gehorsam nahm Chiên hinter ihr Platz. Liêu ließ ihn nie an die Lenkstange, wenn sie aus der Stadt hinausfuhren. Sie erklärte, so würde er ihr nicht die Aussicht versperren, und sie könne besser die Landschaft entlang des Flussufers genießen.

Liêu fuhr schnell. Ihr eiernudelartig gelocktes blondiertes Haar flog im Wind, klatschte ihm ins Gesicht. Er roch den vertrauten intensiven Duft ihres Parfums. Ein Vergnügen! Sanft berührte er sie an der Schulter – am liebsten hätte er daran geknabbert.

Liêu schüttelte ihn ab: „Liebster, nimm diese Kobra-Nase von meiner Schulter, oder willst du, dass ich in einen Lastwagen krache?“

Chiên zwang sich, aufrecht zu sitzen, die Hände um den Bügel in seinem Rücken geklammert.

„Ach, übrigens“, sagte er aufgeregt, „ich habe ein fettes Huhn für dich aufgetan. Einer meiner Kumpel heiratet. Er renoviert sein Haus und will alles neu einrichten, und er möchte dich als Innenarchitektin. Er ist reich wie sonst-was, zahlt, was du willst. Er sagt, er brauche einfach Schönheit und Luxus, etwas Eindrucksvolles.“

„Fantastisch! Wenn es klappt, kriegst du eine dicke Provision.“

„Nicht nötig, aber ich hätte gerne was anderes.“

„Was denn, Liebling?“

„Du … solltest dir Arbeit in einem Unternehmen suchen. Dauernd zu Hause zu sitzen wie du, das ist nicht gut.“

„Doch! Außerdem würde jedes halbwegs seriöse Unternehmen mich binnen dreier Tage feuern. So einen Chef, der mit mir auskommen würde, gibts nicht.“

„Geduld, du findest schon einen.“

„Unmöglich, außer im Traum oder im Märchen.“

„Du brauchst nur Selbstvertrauen und musst dich auf die Suche machen, dann wird der richtige Boss auftauchen, der mit deinen Verrücktheiten zurecht kommt. Du brauchst nur ein bisschen Glück, und das Märchen wird wahr.“

„Du hast gesagt, es würde einfach sein. Und dann hast du mich als verrückt bezeichnet. Offenbar hast du heute wirklich Lust auf Prügel, glaub ja nicht, dass ich das nicht bemerkt hätte.“

Liêu hob ihr Kinn und schickte dabei eine weitere Welle ihres Haars in sein Gesicht. Einige Strähnen verfingen sich in seinem Mund; sie schmeckten ein wenig bitter, kribbelten an seiner Zunge, die sich nun leicht taub anfühlte. Liêu fuhr jetzt langsamer einen gewundenen Pfad entlang. Die Räder rollten über Stellen trockener weißer Erde, die zwischen dem dicken Gras hervorragten.

Chiên lag nichts an einem Streit mit ihr. Er streckte den Rücken, ließ sein Kinn leicht auf ihrer Schulter ruhen und nahm mit weit offenen Augen und anerkennenden Blicken die gelben und grünen Getreidefelder entlang des Flussufers wahr. Es war später Nachmittag, große weiße Wolken zogen langsam über den Himmel, aber die Juli-Sonne brannte nach wie vor. Die Getreidehalme hoben sich gegen den Himmel ab wie Pinselstriche, die Ähren standen in voller Blüte. Sie badeten in der goldenen Sonne, wiegten sich wie Seide vor seinen Augen. Liêu war ebenfalls schweigsam. Es schien, als wolle sie jedes Detail der schönen Szenerie speichern. Der Pfad, der durchs Getreidefeld schnitt, wirkte wie die Rückenlinie eines enorm großen grünen Käfers, das Motorrad ein winziges Würmchen auf seiner Flügeldecke. Liêu streckte sich, nahm tiefe Atemzüge, um den süßen Duft der Kornblumen auszukosten. „Bitte, grüner Käfer“, murmelte sie, „ich befinde mich auf deinem Rücken – lass uns fliegen.“

Chiên schlang die Arme um Liêu, sein Kinn weiterhin auf ihrer Schulter, und flüsterte: „Ich muss dich festhalten, sonst fliegst du mir davon.“

Liêu entspannte ihren Körper. Vom Fluss her wehte der Wind über die Felder und ließ die Halme hin und her schwanken. Liêu reckte ihr Gesicht zum Himmel und rief: „He, ich bin hier!“

Chiên setzte sich ebenfalls auf und schrie: „He, Fluss!“

Sie brachen in glückliches Lachen aus, das sich mit dem Rauschen der Blätter vermischte.

„Warum sagen wir nicht noch mehr?“ – Chiêns Kinn presste sich fester an Liêus Schulter – „Lass es mich für dich sagen: Ich wünschte, wir würden uns auflösen und in Windböen verwandeln und wegfliegen. Wegfliegen. Wir sind der Wind über dem Fluss. Wehen für immer und ewig. Lieben die Flussufer.“

„Hier sind wir“, sagte Liêu, „und hier ist die beste Fahrerin am Flussufer“.

Das Motorrad rollte hinunter zum Imbissstand von Frau Ha` direkt am Roten Fluss, an einem kleinen Bambus-Pier. Liêu und Chiên stellten das Motorrad an einem der vier Bambuspfosten des Stands ab. Dessen Dach aus Palmblättern schwang mit den Pfosten, die nicht sehr tief in die rissige Erde eingegraben worden waren, hin und her. Einige von der Sonne gebleichte Holzbänke umgaben eine alte Tür, die als Tisch diente und deren verschossene Farbe abblätterte. Er bog sich unter seiner Last: Ein großer Krug voller im Saft schwimmender Erdbeeren, ein Korb mit Teekannen, Soda-Flaschen, Tassen, Gläsern und Löffeln. Einige Flaschen mit Wein aus Klebreis standen neben einer Platte mit grünen Guaven. Und hinter diesem Angebot stand Frau Hà, mit ihrem schon alten Gesicht, ihren immer noch lächelnden und lebendigen Lippen, ihren Augen mit den schweren Lidern, als habe sie getrunken.

„Hallo, Sie sind heute früh dran.“

„Wieso früh?“, fragte Chiên, setzte sich auf eine Bank und legte seinen Hut neben sich.

„Ich meine nur, früher als üblich“, murmelte Frau Hà. Sie hob den Deckel von dem Krug und schöpfte Saft in ein Glas.

Liêu saß neben Chiên, die Beine ausgestreckt. Ein Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches schaute zu, wie sie sie streckte und wandte seinen Blick wieder dem Fluss zu.

„Hier, bitte schön“, sagte Frau Hà und stellte zwei Gläser mit kaltem Saft vor sie hin.

Chiên nahm sogleich sein Glas und nahm einen großen Schluck. „Ah, nichts schmeckt besser als das!“ Das Aroma war süß und stark, gleichzeitig aber weich, nahezu fermentiert, aber noch kein Wein. Langsam zerkaute er eine Erdbeere, ließ die Süße langsam auf seiner Zunge zergehen.

„Für mich ist das zu süß, Frau Hà”, sagte Liêu, „Könnten Sie mir bitte etwas Eis bringen?“

Frau Hà gab einige Eiswürfel in Liêus Glas. Es klickte, als sie mit dem Löffel umrührte.

„Wann kommt die Fähre?“, fragte Chiên.

„Es dauert nicht mehr lange“, antwortete Frau Hà. „Sie ist hier schon vor einer ganzen Weile weggefahren.“

„Du, Liêu“, sagte Chiên mit einem Anflug von Ärger, indem er sich ihr zuwandte. „Jede Woche schleppst du mich über den Fluss nach Bat Trang. Was willst du da eigentlich immer wieder? Wird dir das nicht langsam ein bisschen langweilig?“

„Ich könnte es nicht ertragen, nicht hinzugehen. Jedes Mal, wenn ich in Bat Trang war und eine Schüssel gekauft habe, möchte ich wieder hin und eine Vase kaufen.“

Chiên lachte. „Vielleicht sollte ich dir einfach das gesamte Angebot von Bat Trang aufkaufen? Würde das deine Verrücktheit ein bisschen dämpfen?“

„Du langweilst dich also? Ich nicht. Ich habe jedes Mal mein klares Ziel vor Augen. Es besteht aus Schüsseln, Vasen, Tassen, Tellern, allem, was in einer Ecke des Hauses platziert oder auf einen Tisch gestellt, zum Mund geführt oder auf einen Altar gesetzt werden kann, um erhaben auf die Menschen hinabzublicken, die sich davor im Gebet verneigen.“

„Du und deine Phantasien“, gähnte Chiên. „Das ist sowas von ermüdend.“

„Schon recht, Unternehmens-Kapitän. Ich mache eben gern jede Woche diesen Ausflug, um mich zu entspannen, und alles, was du tun kannst, ist jammern und klagen. Wenn du so weiter machst, wirst du nächste Woche nichts von mir hören. Ich werde mir einen anderen Begleiter suchen.“

„Niemand wird mit Euch gehen wollen, Eure Hoheit.“

„Sie zanken sich und kommen doch immer wieder“, mischte sich Frau Hà ein und zeigte zum Fluss hinaus: „Die Fähre ist jetzt da.“

Chiên stand auf und schob das Motorrad auf das Boot mit dem flachen Boden. Liêu bezahlte Frau Hà und trat auf den kleinen Bambus-Pier hinaus, als mehrere Passagiere dazukamen: eine Frau, auf deren Fahrrad sich Körbe stapelten, vier saubere Personen mit Motorrädern, eine schmutzige Frau mit einem Baby auf dem Arm.

Chiên parkte das Motorrad in der Mitte der Fähre und stellte sich, die Arme über der Brust gekreuzt, neben Liêu. Das putt putt putt der Maschine schallte über den Fluss, als die Fähre langsam lostuckerte. Niemand redete, alle bewunderten still die träge kräuselnden Wellen. Chiê´ns Gedanken wandten sich der Vergangenheit zu. Er kannte Liêu jetzt schon seit acht Jahren. Das erste Mal hatte er sie auf einer Wohltätigkeits-Ausstellung von Kinderzeichnungen gesehen. Sie hatte ihn ganz bewusst angestarrt, und er hatte sich nicht abwenden können. Sie hatte ihn gedrängt, eines der Bilder zu kaufen, um dazu beizutragen, Geld für die Kinder aufzutreiben. Er hatte gerne eingewilligt. Sehr direkt hatte sie gesagt, dass sie ihn möge. Er hatte einfach gelacht. Eigentlich war sie nicht schön. Ihre Wangenknochen waren zu hoch, ihr Gesicht wirkte dadurch etwas knochig. Einzig durch ihre langen, schlanken Beine fiel sie auf. Er riet ihr, Röcke zu tragen, aber das tat sie nie; nie gab sie ihm eine Chance, ihre Beine zu sehen. Je näher er sie kennen lernte, desto deutlicher erkannte er ihre störrische und launenhaften Seite. Sie hatte Grafikdesign studiert und hätte einen tollen Job haben können, so wie er. Stattdessen wollte sie nur freiberuflich arbeiten, hier und da Inneneinrichtungen entwerfen, ohne es zu etwas wirklich Bedeutendem zu bringen. Manchmal malte sie dilettantisch ein bisschen herum, aber ihre Kunst führte zu nichts und brachte lediglich die Wohnung in Unordnung. Wenn sie beide zusammen waren, sagte sie, was sie fühlte, und manchmal hatte sie auch etwas auszusetzen. Liebte sie ihn eigentlich so wie eine Liebende? Er wusste es nicht. Sie traf sich immer mit ihm, aber er kam nicht voran mit ihr, konnte ihr nicht einmal auch nur einen Kuss geben. Zwei Seelen wohnten in ihm: Die eine wollte ein anderes Mädchen finden, wollte eine normale Liebesbeziehung, die seinen Bedürfnissen entsprach. Aber wenn er eine andere im Arm hielt und dabei nahezu alles andere auf der Welt vergaß, dann kam ihm plötzlich Liêus Lachen in den Sinn – oder irgendeine ihrer lustigen Bemerkungen –, und er hörte die Stimme der anderen Seele und war verwirrt. Es war verrückt – liebte er sie eigentlich? Er hatte Angst, sich darüber Klarheit zu verschaffen.

Dieses Mal war es genau wie immer. Sie fuhren mit dem Motorrad die kurvigen Straßen von Bat Trang entlang, wo er den Atem anhalten musste wegen des rußigen Gestanks aus den mit Holzkohle befeuerten Brennöfen. Sie würden jeden Laden aufsuchen und buchstäblich jeden Gegenstand darin betrachten, aber dann würde sie nur ein einziges, kleines Ding kaufen. Diese Manie ging ihm auf die Nerven. Er konnte nicht begreifen, warum sie durch diese oder jene irdene Schüssel in solch eine Hochstimmung geriet. Sie sagte, sie würde daraus Reis essen. Völlig verrückt.

Auf dem Rückweg trieb die Fähre über den schon dunklen Fluss. Über den Ufern glitzerten die Lichter der Stadt. Er fühlte sich, als sei er in einer fremden, entfernten Welt gelandet, nicht in einer, in der er sich auskannte. Er kehrte zurück mit nichts in der Hand, und genau wie die vielen anderen Male senkte sich eine unbestimmte Traurigkeit auf ihn herab. Plötzlich sagte er: „Der Fluss sieht so friedlich aus. Aber die Wellen, die in der Tiefe lauern, können jederzeit an die Oberfläche kommen, sie könnten die Fähre verschlingen, wir könnten in ihnen spurlos verschwinden.“

„Aber in Wirklichkeit würde nur ich verschwinden“, flüsterte sie, „du würdest weiterexistieren, denn du bist ja für so viele andere Menschen nützlich.“

„Sich selbst kennen, heißt andere kennen“, versuchte Chiên, sich über sie zu mockieren.

„Ja, ok, ich lebe einfach mein Leben und folge meinen Sehnsüchten. Das bereitet manchmal anderen Leuten Unbehagen. Sie sorgen sich um mich. Aber ich fühle mich glücklich.“

„Deine Art von Glücksgefühl macht mir Angst. Du hast einen Haufen Geld für tausende von Blumen ausgegeben, um zu meinem Geburtstag die Eingangstür zu der Firma, bei der ich arbeite, zu dekorieren. Dann hast du dich die ganze Woche, in dein Zimmer eingeschlossen und irgendwelche Sprechgesänge gehört, so dass deine Mutter sich schließlich nicht mehr anders zu helfen wusste, als mich anzurufen. Vielleicht solltest du einen Therapeuten aufsuchen. Wenn du so weiter machst, treibst du mich auch noch in den Wahnsinn.“

„Oh, toll, dass du das sagst“, rief Liêu aus. „Ein Mann, der meinethalben wahnsinnig wird – das macht mich echt glücklich! Ein Verrückter kann machen, was er will, er stört sich dabei nicht an den Nöten anderer Menschen, muss sich keine Gedanken darum machen, was die tun. Vielleicht steckt man ihn in die Klapsmühle, und er schnappt komplett über, dann wird man sich um ihn kümmern.“

So liefen ihre Gespräche auf dem Fluss immer ab. Und wie immer fühlte sich Chiê´n auch heute wieder erschöpft. Er wünschte sich, zu Hause geblieben zu sein, dann könnte er sich jetzt in der Badewanne aalen, um später einfach nur ins Bett und in einen tiefen Schlaf zu sinken und Himmel und Erde zu vergessen. Aber heute blieb es weiterhin anstrengend für ihn. Die Fähre hatte den Fluss überquert. Er fuhr das Motorrad hinauf zum Ufer. Frau Ha` hatte ihren Stand schon geschlossen, es war dunkel. Sie tauschten die Plätze: Jetzt würde er Liêu heimfahren. Nach dem langen Nachmittag waren beide sehr müde. Er schwor sich, dass es das nächste Mal nicht so laufen würde, trotz der goldenen Felder voller reifem Mais, trotz des wunderbaren kalten Erdbeersafts oder des kühlen Winds auf dem Fluss. Er würde nicht mehr mitkommen, nirgends mehr mit hingehen, nicht verrückt werden. Liêus lange Beine mochten aufregend sein, aber er würde nie mehr etwas mit ihnen zu tun haben. Was er brauchte, war, dass die Arbeit ihm gut von der Hand ging, waren friedliche Tage. Er brauchte ein geordnetes Leben, das nach Plan verlief.

Als sie sich am Tor seiner Firma verabschiedeten, fühlte er sich so ausgelaugt, dass er nicht einmal ein Lächeln zustande brachte. Liêu zog ihn am Hemd, ihre Lippen schmollten.

„Gib mir noch ein paar Worte auf den Weg, Lieber.“

„Was soll ich sagen? Schlaf gut und träume schön, ja?“, antwortete Chiê´n, wobei er jedoch die Augen abwandte.

„Nein, du musst etwas anderes sagen.“ Liêu hielt ihn weiterhin an seinem Hemd fest. „Wenn du dich langweilst, wenn du nicht mehr mit mir über den Fluss setzen willst, dann will ich nicht mehr leben.“

„Leben oder sterben ist nicht so wichtig.“

„Was ist denn dann wichtig, Lieber?“, fragte Liêu mit dem Anflug eines Lächelns.

„Liebe...“, sagte Chiê´n, umfasste ihre Wangen mit seinen Händen und streichelte sie. „Aber du … du magst mich nur, richtig?“ Und er zog seine Hände weg von ihrem Gesicht.

„Ob ich ja oder nein sage, ist auch nicht wichtig. Wichtig ist allein, was du fühlst.“

Damit sauste Liêu auf ihrem Motorrad davon. Chiên schaute ihr nach und schüttelte den Kopf. Dann holte er sein Motorrad vom Firmenparkplatz und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs kreisten seine Gedanken ständig um Liêu. Wie weit würde sie es treiben? Es würde ewig so weitergehen. Er war ein Mann, er musste die Kontrolle behalten. Er würde eine Änderung herbeiführen, es zumindest versuchen. Das hätte er schon längst tun sollen.

***

Chiên fuhr erschrocken zusammen, als sein Handy klingelte und lautstark auf dem Tisch vibrierte. Es war Mittwoch Nachmittag. Liêu. Die ganze Woche lang hatte er sich mit seiner Entscheidung herumgequält. Sicherlich würde Liêu traurig und enttäuscht sein, das war gar nicht anders möglich. Aber er brauchte sein eigenständiges Leben. Er musste sich darüber klar werden, ob er, wenn er nicht mit Liêu zusammen war, diese Distanz ertragen konnte, oder ob er ohne sie nicht auskam.

Er schaute auf das Handy-Display, und dann drückte er „Ignorieren“. Er hatte sie abgewiesen! Er setzte sich aufrecht hin, schloss die Augen, atmete tief ein und horchte in sich hinein. Er fühlte eine ausgedehnte Stille in sich, eine stille Weite. Und es war angenehm!

Am Jahresende ging es ziemlich hektisch zu. Chiên wollte sich voll auf seine Arbeit konzentrieren. Er hatte vor, Liêu eine Nachricht zu schicken: „Ich brauche einfach ein bisschen Ruhe“, aber dann dachte er dies und das und ließ es bleiben. Stillschweigen war auch eine Nachricht.

Liêu rief ihn nicht wieder an. Stillschweigen, keine Nachricht, nicht einmal eine klitzekleine, es war fast so wie ein kalter Krieg. Chiên kaufte sich einige Bücher über Meditation, versuchte, etwas Ruhe zu finden. Aber an einem Mittwoch Nachmittag wurde er plötzlich überaus aktiv. Er rief einige Freunde an, ging mit ihnen aus, kam sturzbetrunken heim, fiel ungeduscht ins Bett und schlief wie ein Toter.

Am Donnerstag Morgen, nach diesem ausgelassenen Mittwoch, kroch er ins Büro wie eine lahme Schnecke. Seiner üblichen Routine entsprechend blätterte er durch die Zeitung. Seine Augen blieben an einer Kurzmeldung auf der zweiten Seite kleben. Eine Fähre war gesunken: ein Kind ertrunken, eine Frau vermisst.

Mehrere Minuten lang saß Chiên reglos da. Dann kam er wieder zu sich, schnappte sein Telefon und tippte mit zitternden Fingern die vertrauten Zahlen ein, die er tausendmal gewählt hatte: Liêus Nummer. Ihr Handy war ausgeschaltet. Da machte sich Furcht in ihm breit. Er saß da und wartete. Worauf? Jemand würde ihn anrufen, würde ihn benachrichtigen. Eine Nachricht, die er nicht hören wollte. Er brauchte weiterhin Ruhe und Frieden, oder etwa nicht? Leben oder sterben war nicht wichtig. Wichtig war allein, ob er sie liebte oder nicht. Sollte er sie jetzt lieben, ginge das überhaupt? Doch, er liebte sie, er wollte sein Kinn an ihre Schulter schmiegen, sie um die Taille fassen und ihrem Herzschlag lauschen. Konnte so etwas Schlichtes und Einfaches noch möglich, sein?

Er verließ das Büro, ohne irgendetwas mitzunehmen, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Das war alles unwichtig. Er ging langsam, versuchte, an nichts zu denken. Er fürchtete, der leiseste Gedanke könnte seinen Kopf zum Platzen bringen, überfrachtet wie er war mit Erinnerungen, Gewissensbissen, Mutmaßungen und Schmerzen. Gegen Mittag erreichte er das Maisfeld am Fluss. Er rannte durch die Reihen, wo die vom Wind bewegten Stengel sich mit ihren Blättern ineinander verhakten. Lieu!

Frau Hàs Imbissstand war noch nicht geöffnet, es war noch zu früh. Am Landesteg lag eine Fähre vertäut. Auf dem Fluss einige Sampans. Ein Menschenknäuel bei dem Erdhaufen, wo der Fährmann normalerweise die Holzplanken auslegte, damit Passagiere und Motorräder an Bord gelangen konnten. Chiên trat näher. Eine Suchmannschaft fischte das Wasser nach Liêus Leiche ab. Als die Fähre sank, hatte Liêu ein Kind gerettet, war dann weiter nach einem Kind und zwei Frauen getaucht, die nicht schwimmen konnten. Dann hatte sie niemand mehr an der Wasseroberfläche gesehen. Sie hatte die beiden Frauen gerettet und die Leiche des Kindes geborgen, aber sie selbst blieb verschwunden. Chiên vernahm jede dieser Einzelheiten, sie drangen in sein Herz, aber er begriff nur eine einzige: Liêu war verschwunden. Wie konnte das geschehen? Wie konnte eine Person, die ihm nahestand, die ihn so stark beeinflusste, so plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, einfach nicht mehr da sein? Er kauerte sich ins Gras, seine Arme um die Knie geschlungen, und starrte auf den Fluss, ohne Rücksicht auf die Sonne, die ihm auf den Kopf brannte. Frau Ha` kam und öffnete ihr Café, aber er blieb, wo er war, genoss die wunderbare Aussicht auf die Flussufer, fast so, als ob nichts passiert sei. Warum war das alles so? Wieso? Warum war alles so still? Er hatte Ruhe gesucht, aber diese gegenwärtige Stille am Fluss konnte er nicht ertragen. Er konnte sich nicht länger etwas vormachen. Schmerzliche Trauer befiel ihn, als ihm bewusst wurde, wie sehr er Liêu liebte und brauchte. Er hatte Mitleid mit sich selbst und bedauerte, dass er es auch nicht ein einziges Mal gewagt hatte, sie eng in seine Arme zu schließen, dass es nicht einen einzigen glücklichen Augenblick gab, an dem er für den Rest seines Lebens festhalten konnte. Wenn er all das getan hätte, würden seine Eingeweide nicht so brennen wie jetzt. Er hatte Geld gespart für eine Reise nach Russland, ein Land, das sie einmal in ihrem Leben zusammen mit ihm besuchen wollte. Er hatte sich all die typischen, akribisch gemachten russischen Puppen vorgestellt, die sie mit nach Hause bringen würden. Und jetzt wäre er endlich bereit, ihr davon erzählen, damit sie es hören konnte. Das war es – jetzt würde er es sofort tun, für ihn selbst, ohne noch länger zu warten.

Er setzte sich auf die ausgebleichte Holzbank in Frau Ha`s Stand am Ufer. Ohne Aufforderung brachte sie ihm ein Glas kalten Erdbeersafts. Sie lief geschäftig um den Stand herum, erzählte ihm von den Erdbeeren, den großen und reifen, die sie von dem Beet am Flussufer gepflückt und nach dem Geheimrezept ihrer Mutter, dem köstlichsten in der ganzen Stadt, verarbeitet hatte. Erdbeeren hatten im ganzen Jahr nur eine Periode zum Ernten, Fermentieren und Keltern. Manchmal hatten sie eine schlechte Ernte, das Beet trug dann nur wenige Früchte, kaum genug für ein paar Krüge, aber sogar dann reichte es immer fürs ganze Jahr, als ob die Krüge verzaubert wären, sodass sie ständig ihren Kunden daraus ausschenken konnte, ohne dass sie jemals ganz leer wurden.

Die Fähre glitt ans Ufer. Chiê´n stand auf und zog seine Geldbörse heraus, um zu zahlen. Frau Ha` schob seine Hand beiseite. „Gehen Sie an Bord. Sie brauchen nicht zu zahlen, sie hat das schon erledigt.“

„Sie hat schon bezahlt? Welche sie?“, fragte er erschrocken.

„Die Freundin, mit der Sie immer hier sind. Gestern Abend kam sie mit der Fähre allein zurück, trank zwei Gläser Erdbeersaft und zahlte für drei. Sie sagte, Sie würden heute kommen und die Fähre nehmen. Wie üblich bezahlte sie für Sie mit.“

Chiên eilte auf die Fähre. Das war typisch Liêu. Nie ließ sie ihn für sie beide den Erdbeersaft bezahlen, nie ließ sie ihn das Motorrad fahren, wenn sie zum Anlegesteg unterwegs waren, um auf die Fähre zu warten.

Chiên tippte sich mit einem verwunderten Lächeln an die Stirn. Sie hatte den Erdbeersaft gezahlt. Er stellte sich vor, dass sie am anderen Flussufer auf ihn wartete. Sobald er landete, würde sie seine Hand fassen, und sie würden zusammen das Flussufer entlang rennen. Sie würden nach Bat Trang hineingehen und in jeden Laden schauen. Er würde ihr versprechen, ihr immer alles in Bat Trang zu kaufen, alles was sie wollte.

Am nächsten Tag, und danach viele Nachmittage in Folge, begab sich Chiên zum Flussufer, saß über einem Glas Erdbeersaft am Stand, wartete auf die Fähre, dachte hallo Fähre, ist Liêu heute übergesetzt, ist sie mit dir über den Fluss gefahren? Warum zahlt Liêu jeden Tag für mich, lässt sich aber nicht blicken? Ich liebe dich, Liêu. Willst du, dass ich das ins Wasser schreie? In diesen letzten Tagen habe ich erst verstanden, wie sehr ich dich liebe. Du bist meine ganze Welt. Du wirst zurückkommen und diese Welt bis zum Rand füllen mit deiner Stimme: „Lieber, geh an Bord der Fähre. Setz über nach Ba´t Tra`ng.“ Ja, ich will mit dir nach Ba´t Tra`ng gehen, tausendmal, eine Million Mal. Bis an mein Lebensende. Ich ertrage die Stille deiner Abwesenheit nicht.

Frau Hà lächelte weiterhin schläfrig, löffelte jedesmal Erdbeersaft für ihn ins Glas und stellte ihm jedesmal das Glas auf den Tisch. Aber nie nahm sie sein Geld. Sie sagte: „Gestern Nacht, nachdem Sie weg waren, kam sie mit der Fähre über den Fluss. Es war schon spät, ich war gerade dabei, zu schließen. Sie saß da, trank Erdbeersaft und fragte mich nach Ihnen, ob Sie gesund seien. Ich antwortete: ‚Wenn Sie ihn so sehr vermissen, warum wollen Sie ihn dann nicht treffen? Er sitzt hier jeden Nachmittag und wartet auf die Fähre, wartet auf Sie, so voller Liebe, so unglücklich.‘ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie antwortete, sie könne Sie nicht treffen, sie wolle es, aber sie könne nicht.“

Chiên sprang auf. „Wie sah sie aus? Wann setzte sie über den Fluss?“

„Niemand weiß, wann. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Sie sieht so mager aus, ihre Haut schimmert grünlich, ist fast durchsichtig.“

„Morgen werde ich auf sie warten, egal wie lang.“

Am nächsten Tag fuhr Chiên nicht nachmittags über den Fluss. Er saß von der Morgendämmerung bis zur Abenddämmerung am Stand von Frau Ha`. Da glänzten auf beiden Seiten des Flusses schon die Lichter. Frau Ha` sagte: „Das ist die letzte Fähre. Gehen Sie an Bord, und dann kommen Sie sofort wieder zurück. Sagen Sie dem Fährmann, Sie würden Hin- und Rückfahrt bezahlen, dann wird er Sie geradewegs zurückbringen.“

„Warum ist sie denn heute nicht gekommen?“, stammelte Chiê´n.

„Gehen Sie schnell an Bord, fragen Sie nicht.“ Frau Ha`s Augen glitzerten eigentümlich. „Wie unglücklich Sie beide sind, wie Sie einander suchen, aber nicht finden, wie Sie aufeinander warten, sich aber nicht treffen. Sie ist gerade an Bord der Fähre gegangen.“

Chiên fröstelte, seine Haut prickelte und zitterte. Er hastete auf die Fähre. Diese letzte Fähre war nahezu leer, abgesehen von ihm und einer Frau im mittleren Alter in abgerissenen Kleidern und mit einem kleinen Hund. Die Frau schaute ihn einen Moment lang an, dann hockte sie sich hin, saß zusammengesunken da, den Hund im Arm, ihren Blick auf die Lichter der Anlegestelle gerichtet, die sie gerade verlassen hatten. Der Motor tuckerte abgehackt, die Fähre schien bewegungslos in der Mitte des dunklen Flusses zu schweben. Wie kalt das Wasser war. Der Hund bellte dreimal. Chi´n sah Liêus einsamen Schatten auf einer anderen Fähre, die hinter seiner dahinglitt.

„Liêu!“, rief er laut und stürzte zur Reling, „Liêu!“

Liêu antwortete nicht. Es sah so aus, als ob sie lächelte und mit der Hand winkte. Sie trug eine dünne weiße Bluse, die sich matt von der dunklen Wasseroberfläche abhob.

„Warte!“, schrie Chiên.

Die Fähre, die Liêu trug, zog vorbei. Ein kalter Wind wirbelte dahinter auf. Die Frau im mittleren Alter kauerte sich noch mehr zusammen. Der Hund knurrte. Chiên rannte zum Kontrollstand und packte den Fährmann an der Schulter.

„Wenden Sie, folgen Sie der Fähre dort drüben. Gerade habe ich sie gesehen.“

„Sie sind verrückt. Ich sehe keine andere Fähre. Das hier ist die letzte Fähre. Setzen Sie sich hin und verhalten Sie sich ruhig.“

Chiên drehte sich um und um, aber er konnte die Fähre, auf der sich Liêu befand, nirgends mehr ausmachen. Er rieb sich die Augen. Anscheinend hatte sich jene Fähre in Luft aufgelöst. Auf jeden Fall hatte er Liêu gesehen. Sie war schlank und blass. Sie hatte gelächelt und gewunken. Sein Herz schien wie von einer Hand gepackt und niedergehalten. Er schrie, und seine einsame Stimme wurde von der Oberfläche des kalten, verlassenen Flusses zurückgeworfen: „Liêu!“

Quelle: Kiêu Bich Hâu: Waiting for the Ferry
(Englisch von Di Li und Charles Waugh), in:
Charles Waugh, Nguyên Lien, Van Gia (Hg.):
Wild Mustard. New Voices from Vietnam,
Evanstone, Illinois (Curbstone Books/
Northwestern University Press) 2017, S. 131-141,
Deutsch von Marianne Ngo
nach der Fassung in VNS 3.2.2019

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2019

zurück zu "Erzählungen"
zurück zu "Inhalt" VNK
Home