Erinnerungen an den Fluss

Eine Kurzgeschichte von Nguyen Ngoc Tu

Jedes Mal, wenn sie den Fluss Cai Lon überquerte, dachte Giang, sie werde niemals, bis ins hohe Alter hinein, ja bis zu ihrem Tod, dieses kleine Boot verlassen. Genau in diesem Flussabschnitt war, als sie zehn Jahre alt war, ihre Mutter umgekommen. An jenem Tag regnete es nur schwach, aber ein kräftiger Wind machte den Ruderern zu schaffen. Welle um Welle strömte das Wasser in Richtung Flußmündung. Das tief im Wasser liegende Boot war mit Sand beladen. Chin, Giangs Vater, ruderte vorne am Bug, ihre Mutter steuerte. Giang saß unter dem Verdeck, ihre Schwester Thuy auf dem Schoß. Giang sah ganz deutlich, wie ihrer Mutter die Stange aus den Händen gerissen und gegen den Frachtkahn vor ihnen geschleudert wurde, wie ihre Mutter stürzte, mit dem Kopf auf der Eisenkante aufschlug, während ihre Beine noch im Boot festhingen. Dann wurde sie losgerissen und versank im Fluss Giang schrie auf, schleppte Thuy mit Mühe nach hinten ans Heck, sah noch das Haar ihrer Mutter mit den Wellen auf und ab, hin und her strömen, und dann war es verschwunden.

Giang konnte sich nicht erklären, warum sie sich ständig daran erinnern mußte, warum sie diesen Tag so deutlich im Gedächtnis behielt. Jedesmal, wenn sie an jener Flußmündung vorbeikamen, zog sie Thuy an Deck und wies sie darauf hin, daß ihre Mutter an dieser Stelle umgekommen war. Wenn Thuy sich verwundert zeigte, fragte Giang, ob sie sich denn nicht erinnere, und Thuy schüttelte den Kopf.

Freilich war Thuy damals noch ganz klein und verletzlich gewesen wie ein struppiges Kätzchen. Wie Giang wuchs sie auf dem Boot auf. Während Chin Waren verkaufte oder das Essen kochte, konnte er sie nicht auf dem Arm tragen; deshalb band Giang ihr Bein mit einer Schnur am Verdeck fest. Wenn Thuy genug hatte vom Herumkrabbeln, betrachtete sie auf dem Rücken liegend die von Chin am Bootsdach aufgehängten Auberginen und Kürbisse. Vielleicht ahnte sie, daß das Schicksal ihr die Mutter genommen hatte, und war deshalb sanft und bescheiden.

Chins Familie lebte ausschließlich auf dem Boot. Sein Lebensweg war sehr traurig verlaufen. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen, und als er eine eigene Familie gründete, gab man ihnen nur zwei Morgen1 Ackerland. Im Alter von drei Jahren erkrankte Giang an Masern. Chin verkaufte das Land, um die Behandlung für sein Kind zu bezahlen. Von dem, was an Geld übrig blieb, erwarb er das kleine Boot als schwimmenden Verkaufsstand. Seither führte die Familie ein schaukelnd-schwankendes2 Leben auf dem Wasser. Wenn das Boot anlegte, und Giang, noch bevor es richtig vertäut war, schon auf vom langen Tag unsicheren Beinen ans Ufer sprang und wie verrückt herumrannte in irrsinniger Freude, festen Boden unter den Füßen zu spüren, sagte ihre Mutter unter Tränen: "Das Kind hat kein schönes Leben …". Chin beschwichtigte: "Aber wir müssen doch unseren Lebensunterhalt verdienen, meine Liebe".

Später, nach dem Tod seiner Frau, verschlug es Chins Familie - nicht nur des Lebensunterhalts wegen - von diesem Fluß zum nächsten, von einem Kanal zum anderen. Und auf welchem Fluß auch immer sie sich befanden, überall war für sie das nasse Grab von Giangs unglücklicher Mutter. Abends, wenn das Boot am Ufer unter golden blühenden Büschen festgemacht war, gab Chin Giang und ihrer jüngeren Schwester Unterricht. Dabei gab er, der selbst nur über wenige oberflächliche Grundkenntnisse verfügte, alles weiter, was er wußte. Giang, aufgeweckter als ihre Schwester Thuy, lernte wenig, zeigte aber eine außergewöhnliche Begabung fürs Rechnen. Weil sie immer dabei war, wenn gehandelt wurde, hatte sie sich das Geschäftliche schnell wie im Spiel angeeignet. Sie bedachte alles, den Kaufpreis von Gemüse und Früchten, das erfolgversprechendste Warensortiment, die Beförderung von Kohle, von Brennholz auf dem Hin- bzw. Rückweg. Lagen Giang und ihre Schwester erhitzt vom Kohleschleppen auf Deck, um den geschundenen Rücken auszuruhen, biß Chin, den Tränen nahe, die Zähne zusammen und sagte: "Also gut, für heute ist's genug, ihr beiden".

Wenn man sie fragte, antwortete Giang immer, es gebe keine Flußwindung, kein Rinnsal, das sie mit ihrem Boot noch nicht befahren hätten, keinen Verbindungskanal, den Chin nicht kennen würde. Stromabwärts, stromaufwärts, bei Ebbe und Flut… Niemand sprach darüber, aber alle Familienmitglieder dachten dasselbe, daß nämlich ihr Leben immer so weitergehen werde wie jetzt, immer und ewig. Die beiden Schwestern scherzten miteinander, ihr Vater werde ihnen beiden zur Heirat und Gründung ihres Hausstands je ein Boot schenken. Aber Thuy erklärte, sie wolle nicht heiraten, sondern weiterhin mit ihrem Vater zusammenleben und den schwimmenden Handel betreiben. Für Chin waren solche Gespräche wie das Säuseln des Winds, und sein Herz wurde schwer. Wenn seine beiden Töchter heiraten und Kinder bekommen würden, müßten sie ein ebenso schaukelnd-schwankendes Leben führen wie ihre Mutter, dachte er; Nachmittags, wenn das Boot an der Kreisstadt vorbeiglitt, an den verschiedenen Siedlungen, sah er zum Unterrichtsende die Schüler aus dem Schultor herausströmen, mit tintenbekleckerten Kleidern, die Mappe unter den Arm geklemmt, die Wasserflasche in der Hand, und seine Augen brannten vor Kummer und Sorge.

Giang spürte den Schmerz ihres Vaters und hatte großes Mitleid mit ihm. Aus Liebe zu ihm heiratete sie einen Mann namens Thuan aus Dap Say. Oft, wenn das Boot zum Handeln festgemacht hatte, war Chin von Thuan auf einen Schnaps in sein Haus eingeladen worden. Chin hatte Thuan als Mann für seine Tochter ausgewählt, und dann Giang gefragt, ob sie einverstanden sei. Giang bürstete so heftig ihr Haar, daß sie es auf ihrer Kopfhaut spürte, dann nickte sie. Giang heiratete im Februar, als die Flußufer, die Feldraine, die Büsche… einen festlichen Rahmen in strahlendem Goldgelb bildeten und einen üppigen Teppich winzig kleiner weißer Blüten, die wie kleine Steinchen wirkten. Nahe des Deichs wurden mehrere Boote zu einer schwimmenden Plattform zusammengebunden. Eine Gruppe von Frauen und jungen Mädchen hatten tragbare Feuerstellen3 ans Ufer gebracht, um dort die Speisen zuzubereiten. Girlanden umwanden den Bug von Giangs Boot; Hien vom Nachbarboot hatte für den Schmuck Palmwedel abgehauen. Jedoch zeigte sich Hien an Giangs Freudentag betrübt und verschlossen. Um Mitternacht, als die Leute mit etwas Alkohol anstießen, sang Hien das Lied Tinh anh ban chieu4, aber er vergoß dabei Tränen, wischte mit dem Handrücken über die Augen und erklärte mit starrem, verschleiertem Blick: "Dieser Schnaps hier ist unglaublich scharf5." Als er dann beobachtete, wie Giang mit Thuys Unterstützung auf dem Boot ihre Kleider zusammenpackte, klagte er: "Verehrte Frau Giang6, wahrscheinlich werden wir einander nie mehr begegnen." Giang verdrehte unwillig-belustigt die Augen. "Das ist bedauerlich", bemerkte Thuy teilnahmsvoll. Giang tätschelte ihr den Kopf: "Wieso denn? Warum hat er denn nichts gesagt?". Thuy lachte: "Was fragst du mich - frag doch ihn! " Als Giang am nächsten Morgen in ihrem ao dai7 hinauf an Deck stieg, konnte der Fotograf sehr schöne Aufnahmen machen, die schönste zeigte Giang inmitten glockengleich flirrend-schwingender goldener Flocken.

Nach Giangs Heirat wurde Thuy schwermütig. Sie übernahm Giangs Arbeit, während Chin das Boot steuerte. Sie war nicht so flink und aufgeweckt wie Giang, aber sehr fleißig. Tag für Tag, auf allen Gewässern, in den Siedlungen und Weilern landauf, landab, kümmerte sie sich um das Geschäft, bis das Boot in Dap Say anlegte, und sie ihre Schwester besuchen konnte. Zu den Mahlzeiten deckte sie den Tisch mit einem zusätzlichen Schälchen und einem zusätzlichen Paar Eßstäbchen. Chin schimpfte: "Bald wirst du ja wohl auch erwachsen sein und heiraten, und deine Schwester kann nicht immer und ewig bei dir sein!" Doch trotz seiner Worte pochte auch sein Herz in quälenden Erinnerungen.

Als sie wieder einmal in Dap Say angelegt hatten, drängte Giang Chin, eine Nacht zu bleiben, damit sie zusammen mit Thuy auf dem Boot übernachten könne. "Himmel, ich vermisse dieses Boot wahnsinnig!" seufzte sie. Während Giang die Waren auf dem Boot begutachtete, saßen Chin und Thuan im Haus und tranken, wobei Thuan dem Alkohol überreichlich zusprach und sein Glas stets auf einen Zug leerte. "Deine Tochter Giang ist wie eine Singdrossel," schluchzte er, "wer weiß, wann sie in die Freiheit entschlüpft und wegfliegt. Sie lebt hier, aber ihr Herz ist anderswo." Chin schwieg erstarrt.

"Kaum sind wir mit dem Essen fertig, eilt sie sofort hinaus zum Boot. Wohin um alles in der Welt fährt sie?" Thuan lachte sarkastisch. "Keine Ahnung, sie paddelt ziellos umher. Eines Abends bin ich ihr hinterhergefahren, da zog sie nach einer Weile die Ruder ein und saß, die Hände im Schoß, einfach so da. Schließlich kehrte sie nach Hause zurück." Chin seufzte.

In dieser Nacht, als Giang im Boot übernachtete, fragte sie Thuy, ob sie die Waren auch nicht zu teuer anbiete, welche Route das Boot jetzt für gewöhnlich nehme, ob ihr Vater weiterhin traurig sei und abends Alkohol trinke? Thuy gab erschöpfend Auskunft. Dann sagte sie: "Hien erkundigt sich nach dir, immer fragt er mich aus, ob es dir gut geht? Ich behaupte dann, ich wüßte nichts Näheres. Er tut mir leid. Wenn…", murmelte Thuy undeutlich vor sich hin, stockte, fuhr dann verlegen fort: "Wenn wir ihm nur etwas zum Trost geben könnten."

"Wie kommst du denn darauf?", lachte Giang, doch dann wurde ihr auf einen Schlag bewußt, daß Thuy in diesem Jahr achtzehn Jahre alt wurde, daß sie ja tatsächlich schon erwachsen und sehr schnell gereift war. Sie erinnerte sich an den Tag, als Thuy das erste Mal ihre Menstruation bekam, wie sie sich weinend hinter den aufgehängten Klebreisbüscheln versteckt hatte. Giang hatte gesagt: "Weine doch nicht, es gibt keinen Grund!", während sie selbst den Tränen nahe war und wünschte, ihre Mutter lebte noch. Thuy hatte ja noch sie, aber als Giang in dieser Lage geweint hatte, war niemand da gewesen, an den sie sich wenden konnte. Als Chin es scharfsinnig erraten hatte, war er still auf das Nachbarboot gegangen und hatte Hiens Mutter um Unterstützung gebeten. Rauchend wie der Schlot eines Dampfers, fand er sich zum ersten Mal hilflos, nutzlos und verlegen angesichts des Jammers seiner Tochter.

Die Erinnerungen an viele vergangene Begebenheiten ließen Giang nicht schlafen. Und Thuy achtete auf das Schaukeln des Boots, ein Schwanken, als ob das Boot gerade von einer Welle erfaßt würde. Im Einschlafen sah Giang sich selbst im Traum, aber auch der Traum taumelte und schwankte.

Als Chin zurückkam und beim Abschied Giangs jämmerliche Gestalt neben einer Tamarinde sah, beschloß er, sie erst nach geraumer Zeit wieder zu besuchen. So würde sie vergessen, ja sie würde vergessen. Um ihrer Kinder willen mußte sie sich an das Leben auf festem Boden gewöhnen.

Aber schon knapp einen Monat danach tauchte Giang mit einem Bündel in Xa Xieu auf. Sie hatte sich bei Bekannten auf mehreren Booten erkundigt und war so schließlich zu ihrer Familie zurückgekehrt. Als Chin Giang erblickte, schmerzte sein Herz. Erschüttert fragte er: "Kind, wo willst du hin?" Giang wandte ihr Gesicht ab. "Ich vermißte das Boot so sehr, das Wasser, und du machtest keine Anstalten zu einem Besuch…". Giang sprach weiter, sagte, Thuan habe sie gehen lassen, sie solle zurückkehren, wann immer sie wolle. "Er wird keine Schwierigkeiten machen, Vater". Chin stürzte hinaus zum Steuer, drehte sich eine Zigarette, steckte sie zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an. Thuy fürchtete, er sei böse auf Giang, ging zu ihm hinaus und sagte beschwichtigend: "Nach langer Zeit kommt sie uns besuchen, welche Freude, bitte sei nicht böse, Vater!". Er antwortete nicht, er dachte gerade an diejenige, die gestorben war, und im Stillen sagte er sich: "Ich erkenne jetzt das Problem, meine Liebe. Ich habe mich schon einmal geirrt." Da hörte er, wie Thuy mit Giang lautstark lachte: "Dort zu schlafen, ist wirklich merkwürdig, ich an deiner Stelle könnte mich nie daran gewöhnen. Nur auf dem Boot schläft man gut, das macht das Schaukeln." "Himmel," - fast hätte er aufgeschrien, "die Jüngere gleicht ja fast völlig ihrer Schwester, und damit auch mir."

Chin begab sich in den Bootsrumpf, räumte Pakete von Süßigkeiten weg, Gefäße mit Reis, und zog darunter ein schwarz lackiertes eisernes Kästchen hervor. Er rief seine Töchter herbei, öffnete das Kästchen, in dem sich ein mit einer Schnur zugebundener Stoffbeutel befand. Er setzte sich im Schneidersitz hin, ernst und feierlich, als ob gleich die bedeutsamste Wende im ihrem Lebensweg bevorstünde. Er holte aus dem Beutel einige glänzende Goldringe und Ketten und sagte: "Morgen werde ich dir, meine Tochter, einige davon geben. … Jetzt wartet bestimmt schon dein Mann besorgt auf dich." Giang schaute zu ihm auf, dann senkte sie den Blick, beugte den Kopf. Chin stülpte den Beutel um und erklärte: "Ich habe diese Sachen mein ganzes Leben lang aufgespart. Ich werde dieses Boot verkaufen, in meine Heimat zurückkehren und dort ein Stück Land kaufen. Dann werde ich mit Thuy das Land bearbeiten und Gemüse anbauen, davon werden wir leben. Ich war mein ganzes Leben lang unterwegs, jetzt bin ich müde…"

Thuy starrte angespannt auf den Haufen Gold, dann kroch sie leise hinaus an die Spitze des Boots. Chin sprach zu Giang: "Geh schlafen. Morgen…". Er wartete, bis Giang sich abgewandt hatte, dann zündete er Räucherstäbchen an und stellte sie auf dem kleinen Ahnenaltar auf, der an der Wand hing. "Was dich betrifft, so hast du dich verwandelt in Wasser, in Erde, in Gras, in Bäume. Wohin wir auch gehen, folge uns bitte. Unsere Enkel und Urenkel sollen kein schaukelnd-schwankendes Leben führen müssen."

Giang saß im Bug und schaute nach vorne. Thuy streifte umher, dann ließ sie die Beine plätschernd ins Wasser baumeln, ihre Augen auf Hiens Boot gerichtet, das nahebei vertäut lag. Hien wußte, daß Giang gekommen war, deshalb hatte er in der Dämmerung ganz in der Nähe angelegt.

Thuy murmelte: "Sicherlich werde ich dich in Zukunft kaum mehr treffen können."

Auch in dieser Nacht stürmte es heftig, die vom Wind aufgepeitschten Wellen ließen das Boot schwanken und schaukeln, so daß es schwer war, Schlaf zu finden.

Anmerkungen der Übersetzerin:
1 hao cong da: wörtl. zwei Arbeitseinheiten Boden
2 linh dinh: wörtl. schwimmend, schaukelnd, treibend; übertragen: unsicher
3 ca rang: Herd aus Lehm mit Platz für einen Topf und zum Rösten von Speisen
4 etwa: "Mein Herz erstrahlt in Liebe"
5 de: doppeldeutig, kann übertragen auch schmerzlich, kummervoll bedeuten.
6 co Hai: Anrede an eine im sozialen Gefüge höher gestellte Person - als verheiratete Frau gilt Giang gegenüber ihrem ledigen, etwa gleich alten Nachbarn nunmehr als Respektspreson.
7 traditionelles Festgewand vietnamesischer Frauen, bestehend aus einer langen weiten Hose und einem eng geschnittenen, an den Seiten geschlitzten, häufig bestickten Oberteil.

Quelle: Nguyen Ngoc Tu: Nho song, in:
Nguyen Ngoc Tu: Canh dong bat tan. Nhung truyen hay va moi nhat
[Die endlos weite Flur. Neue interessante Erzählungen], Ho Chi Minh-Stadt 2005,
in VNS vom 15.1.2006 wurde eine gekürzte englische Fassung abgedruckt.
Aus dem Vietnamesischen von Marianne Ngo

In Vietnam gibt es erst Ansätze eines Buchmarkts, wie wir ihn aus unserem Land kennen. Literarische Werke erscheinen in der Regel in einer Auflage von 2.000 und wenn's hochkommt 5.000 Exemplaren. Sie sind deshalb oft schnell vergriffen, und die Frage einer Neuauflage richtet sich nicht nach der Nachfrage, sondern nach dem Plan. Es gibt Ausnahmen, und die junge Schriftstellerin Nguyen Ngoc Tu ist eine: Ihr Erzählband Can Dong Bat Tan (Die endlos weite Flur) schlug alle Rekorde des Jahres 2005 mit 35.000 Exemplaren!

Nguyen Ngoc Tu stammt aus der Provinz Ca Mau, an der Südspitze des Mekongdeltas gelegen. Da ihre Eltern arme Bauern waren, mußte sie mit 15 Jahren die Schule verlassen, um ihnen bei der Arbeit zu helfen. Sie verkaufte Gemüse und Wasserpflanzen auf dem schwimmenden Marktstand (so wie die Heldin unserer Geschichte). Schon in dieser Zeit träumte sie von einer besseren Zukunft, und davon hatte sie auch schon eine konkrete Vorstellung: sie wollte schreiben. Heute hat sie ihren Traum verwirklicht: Ihre Kurzgeschichten wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet und haben Erfolg beim Publikum. Filme werden nach ihren Vorlagen gedreht.

So ganz glatt scheint das alles aber nicht gelaufen zu sein. Die Zeitschrift Tuoi Tre berichtete am 21. 04. 2006 über eine Art "Skandal", den die Geschichte Can Dong Bat Tan hervorgerufen habe, weil einige Literaturfunktionäre sie öffentlich verurteilt hatten. Es wurde der Geschichte vorgeworfen, sie beschreibe "die schlechten Seiten der Bauerngesellschaft mit zu grellen Einzelheiten." Vor allem die Hauptperson galt diesen Kritikern als schlechtes Vorbild, weil ihr am Ende nichts bleibt als sich zu verkaufen. "Die Autorin hat ein erfundenes Bild der Gesellschaft entworfen, die Realität damit außer Acht gelassen und orientiert ihre Leser nicht auf eine schöne Zukunft" Dies sind die klassischen Vorwürfe, die in Vietnam immer dann kommen, wenn ein literarisches Werk verboten werden soll. Es gibt in Vietnam immer noch Kreise und Funktionäre, für die Literatur und Kunst nur positiv sein dürfen, aufbauend und erbaulich, aber sie scheinen immer mehr in die Minderzahl zu geraten, und dafür ist dieser Fall ein Beispiel: Der Band wurde nicht verboten, sondern in hoher Auflage gedruckt und (man ist versucht zu sagen: demonstrativ) mit Preisen bedacht. Der "Literaturzirkel der Provinz Ca Mau", der vom "Sektor für Propaganda und Erziehung des Provinzkomitees der Partei" aufgefordert worden war, die Autorin zur Rechenschaft zu ziehen, hat sie statt dessen zur Redakteurin seiner Kunst- und Literaturzeitschrift berufen.

Leider können wir nicht den in Frage stehenden Text drucken, weil er mit 50 Seiten zu lang ist. Die hier präsentierte Kurzgeschichte scheint uns aber auch typisch zu sein für den Schreibstil der Autorin und die Atmosphäre ihrer Geschichten, die geprägt ist vom "schaukelnd-schwankenden" Leben auf dem Wasser. (Red.)

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