Der Mann, der noch an Märchen glaubte

Kurzgeschichte von Ho Anh Thai

Als ich an jenem Morgen in den Vereinigten Staaten erwachte, sah ich mich zu meinem Schrecken in einen Amerikaner verwandelt. Sowohl der Spiegel im Bad als auch der im Schlafzimmer – zwei strikt wirklichkeitsgetreue Rechtecke, die niemals demjenigen schmeicheln würden, der sich in ihnen betrachtete – bestürzten meine Augen durch das Abbild eines Kerls mit blauen Augen und Adlernase. Der Typ, den ich da erblickte, würde, ausgestattet mit einem breitkrempigen Hut und einer abgewetzten Lederweste, überall als echter Cowboy durchgehen.

Mich ergriff die Panik, denn ich wusste genau, dass ich in Wirklichkeit Vietnamese war. Hier hielt ich mich lediglich für ein sechsmonatiges Trainingsprogramm auf. Und ausgerechnet heute wollte ich mich Nus Familie vorstellen! Sie war eine vietnamesische Amerikanerin und liebte die vietnamesisch-heimatlichen Qualitäten, die sie mir zuschrieb. Sobald ihre Großeltern, Eltern und Tanten erfahren hatten, dass Nu in das echte Ding verliebt war, begrüßten sie ohne Zögern diese Verbindung. Heute würde sich die ganze Familie versammeln, um meine echt vietnamesischen Eigenschaften und Vorzüge zu begutachten.

Nach einer Weile kam Nu herein. Ihr Schreck, als sie ihren Freund in einen Amerikaner verwandelt sah, war noch größer als meiner. Zum Glück erkannte sie noch meine Stimme und war darüber hinaus in der Lage, mich anhand einiger bestimmter körperlicher Merkmale zu identifizieren, die nicht jedermann kannte. Ich warf ihr vor, mich am Vorabend gedrängt zu haben, so viel McDonalds-Fast Food zu essen – mein Bauch war immer noch aufgedunsen von diesem blöden Hamburger. Sie schimpfte, weil ich ganze zwei Michael Jackson-Alben angehört hatte, bevor ich in den tiefen Schlaf gefallen war, währenddessen meine Hautfarbe und ethnische Zugehörigkeit ausgetauscht wurde. Aber es brachte nichts, so weiterzumachen, denn bald würde ich mich ihrer Familie vorstellen müssen. Wir beschlossen, dass ich das einfach durchziehen sollte, obwohl wir lediglich einen schwachen Hoffnungsschimmer sahen, dass sie mich so billigen würde.

Das Treffen fand statt. Nus Vater lobte mich, weil ich als Amerikaner so fließend reines Hanoiisch sprach. Er fragte nach, welcher Lehrer mir dieses korrekte Nordvietnamesisch beigebracht habe. In meiner Lage hielt ich es nicht für angebracht, mit einer solch unglaublichen Geschichte daherzukommen. So bat ich nur höflich darum, Nu heiraten zu dürfen.

Sofort erhoben die Großeltern väterlicherseits Einspruch. Nein! Sie würde keinen Amerikaner heiraten! Nicht sie, und auch nicht irgendeines der anderen Enkelkinder! Weder die Jungen Bong (Catfisch) und Be (Stierkalb), noch die Mädchen Nu (Blumenknospe) und Na (Flaschenbaum-Frucht). Niemand! Dann stürzte sich Nus Tante kopfüber in unser Drama, wie eine feindselige Zeugin in einem Gerichtsprozess. Sie würde sich ebenfalls gegen eine solche Heirat wenden. Sie stellte sich selbst als warnendes Beispiel für solch einen Fehltritt hin – hatte sie etwa nicht dem Ruf ihrer Familie geschadet, indem sie einen Amerikaner heiratete? Hatte man sie in Saigon etwa nicht als „Amerikanisches Office-Girl“ beschimpft, damals, als die Arbeit in einem amerikanischen Büro bedeutete, hemmungslosen ausländischen Bossen als Spielzeug zu dienen? Sie gab zu, dass es wirklich bequem war, einen amerikanischen Mann zu haben. Aber je größer die Bequemlichkeit, desto schlimmer die Strafe! Man solle sich nur ihren Fall zu Gemüte führen. Ihrer Nichte dürfe nicht erlaubt werden, in ihre Fußstapfen zu treten und die Familienehre zu besudeln.

Unter uns würde man allerdings diesen dramatischen Protest der Tante päpstlicher als der Papst nennen. Zu ihrer Zeit hatte niemand versucht, zu bestimmen, wen sie lieben durfte. Aber nun, da sie sich so ausgiebig vergnügt hatte, gönnte sie anderen dieses Vergnügen nicht.

Was Nus Vater angeht, so war er immer noch angetan von meiner korrekten Aussprache. Aber er erklärte mir beharrlich, dass die Vietnamesische Gemeinde in dieser Stadt so klein sei, dass man sie rein erhalten müsse. Als Chemie-Fachmann hasse er Verunreinigungen wie die in der Familie seiner Schwester.

Während das für mich wenigstens eine halbwegs nachvollziehbare Erklärung darstellte, waren insgesamt jedoch meine Pläne zunichte gemacht, Nu zu heiraten und sie nach Hanoi zu bringen, wo ich sie wiedereinführen wollte in die heimatlichen Sitten und Gebräuche. Am Ende meines sechsmonatigen Aufenthalts verließ ich Amerika mit meiner Aktentasche und bitterem Liebeskummer.

Zollbeamte und Sicherheitspersonal an Flughäfen stehen in dem Ruf strikter Gründlichkeit. Aber die illegalen Aufenthalt fürchtenden Amerikaner machten einem Vietnamesen mit amerikanischem Gesicht keine Schwierigkeiten, der ja erfreulicherweise gerade dabei war, auszureisen. Auf der anderen Seite des Ozeans legten mir meine Landsleute, eifrig bemüht, im Geist der Freundschaft amerikanische und europäische Touristen anzuziehen, ebenfalls nichts in den Weg. Selbstverständlich hatte ich den Zollbeamten jeweils eine kleine Spende für die Kaffeekasse zukommen lassen.

Nach meiner Rückkehr blieben meine Eltern und die anderen Familienmitglieder eine ganze Zeit lang im leisen Zweifel über meine Identität, aber schließlich erkannten sie mich an. Sie redeten sich einfach ein, dass ich mich einer kosmetischen Operation unterzogen hätte, um mich zu verschönern zu einem blauäugigen, adlernasigen, bärtigen Ausländer. Unsere Nachbarn glaubten übereinstimmend, meine Familie habe quasi einen Hauptpreis im Lotto gewonnen: Denn obwohl wir nur eine Zweizimmerwohnung hatten, schafften wir es offenbar, einem echt ausländischen Mieter das Geld aus der prallgefüllten Tasche zu ziehen.

Eines Tages, als ich mich einsam fühlte, unternahm ich einen Spaziergang um den Hoan Kiem-See (des zurückgegebenen Schwerts). So ein Spaziergang war für mich zu einem außerordentlich abenteuerlichen Unternehmen geworden. Mit jedem Schritt wollte man mich nötigen, einen Stadtplan zu kaufen oder mich fotografieren zu lassen. Hao a iu, Tay ngo? Oan photo? Oan mep? Khong co ban do, di lac thi chet cha may?1 Mir blieb nichts übrig, als auf das „Guillotine-Haus“ zu starren oder auf das „Jaws-Gebäude“2. Plötzlich näherte sich mir ein Mann, der ein paar englische Brocken von sich gab, unterstützt durch ausgiebigen Einsatz seiner Hände, die sich bei längerer Konversation sicherlich überanstrengen würden. Er sagte, er sei bewegt, seine Muttersprache von einem Ausländer zu hören, der offensichtlich überwältigt sei von den architektonischen Wundern der Hauptstadt. Er nannte seinen Namen: Nguyen Toan Thich – Herr Alles-Möger. Als Architekt sei er erfreut, meine Bekanntschaft zu machen, ich sei offensichtlich jemand, der sich für Architektur interessiere.

Trifft einer meiner Landsleute auf einen Ausländer, der Vietnamesisch spricht, so nimmt er eigentlich immer die Gelegenheit wahr, sehr viel mehr als sonst zu reden, sozusagen mit akkumuliertem Zinseszins. Genauso verhielt es sich jetzt. Herr Alles-Möger erklärte mir, er habe einen (vorläufigen) Auftrag ergattert, die Projektierung eines großen privaten Hotels – es fehle nur noch die endgültige Bestätigung. Ihm schwebe ein Hochhaus vor, das französische Architekturelemente aufnehme. Aber diese Luftschlösser bauenden Eigenbrötler, die die Experten-Jury bildeten und bei der Auftragsvergabe das letzte Wort hatten, würden französische Architektur selbst dann nicht erkennen, wenn sie ihnen direkt ins Auge stach. Sollte das das französische Design für ein großes Gebäude darstellen oder doch eher den Plan für ein Krematorium, in dem man ihre gesamten Familien einäschern könnte?, fragten sie.

Herr Alles-Möger zog mich neben sich auf eine Steinbank im Park. In höchster Aufregung zerrte er den Entwurf aus seiner Tasche und zeigte ihn mir. Tatsächlich sah das Gebäude, das Marmorsäulen im griechischen Stil vereinte mit gotischen Bögen und einer Moschee-ähnlichen Kuppel, ganz und gar nicht wie ein Krematorium aus. In dem Bemühen, Architekturelemente aller Zeiten und Kulturen zu berücksichtigen und in sich zu vereinen, würde es das perfekte internationale Hauptquartier der Architektenvereinigung abgeben.

Herr Alles-Möger bat mich, ihn zu seinem Termin bei der Experten-Jury zu begleiten. Ich müsse gar nicht viel sagen. Die Jury würde nichts auf das Wort eines einheimischen Architekten geben. Nur ein ausländischer Experte wäre in der Lage, sie zu überzeugen.

Dann klagte mir Herr Alles-Möger sein Leid über seinen Haushalt mit drei Töchtern und seiner Ehefrau: vier emanzipierte Weiber, die ihn wie einen gelben Sklaven behandelten. Vier wilde Enten, die lauthals quakten, wenn er nicht genug Geld heranschaffte für ihre Kleider und Kosmetika, wann immer sie danach verlangten. Wenn er diesen Auftrag verlor, würden sie ihm nie mehr gestatten, in eine Ecke geschmiegt dazuhocken und das Fußballspiel im Fernsehen zu gucken – selbstverständlich in geringstmöglicher Lautstärke. Sollte er diesen Auftrag verbocken, würden sie ihm nie mehr gestatten, bei einem tollen Tor freudig aufzuschreien, wie ein echter Kerl.

Hätte Herr Alles-Möger versucht, mich mit einer prozentualen Beteiligung am Vertragsabschluss zu bestechen, wäre ich gegangen. So aber fühlte ich mich diesem geknechteten Mann verbunden. Er war einsam, so wie ich, der auf heimatlicher Scholle als Fremder wahrgenommen wurde.

Der Vorsitzende der Experten-Jury hatte einen Doktortitel in Architektur. Nach seiner Berufung zum Vorsitzenden der landesweiten Architektenvereinigung war er, mittlerweile außerdem geprüfter Optiker, für zwei Wochen in unser Bruderland Deutschland gesandt worden, um seine Dissertation zu verteidigen, obwohl er kein Wort brüderliches Deutsch sprach. Nun schüttelte er mir freundlich die Hand und führte mich sogleich zu der Bettlaken-großen Zeichnung der Alles-Möger-Fassade. „Lieber französischer Genosse“, sagte er, doch da unterbrach ihn der stellvertretende Vorsitzende mit dem Einwand, Frankreich sei ein kapitalistisches Land. „Entschuldigung, lieber französischer Experte“, korrigierte sich der Vorsitzende, und bat mich um mein Urteil darüber, ob es sich bei dem, was ich vor Augen hatte, um genuin französische Architektur handle. Ich nickte entschieden: Ja, das ist französische Architektur! Der Stellvertreter befragte mich näher: Welcher Epoche ist dieses Modell französischer Architektur zuzuordnen? Ich antwortete geschmeidig, es sei ein gelungenes Beispiel der französischen Architektur des neunzehnten Jahrhunderts, bereichert durch die Architektur Griechenlands, Roms, Westeuropas sowie der Türkei, wie es Herr Eiffel sehen würde. Von meinen Worten klangen den Experten die Ohren, und bald riefen sie im Chor: französische Architektur, ganz recht, französische Architektur!

Sogleich wurde das Vorhaben genehmigt und ein formeller Auftrag unterzeichnet. Ein weiterer Vertrag, der mich zum fachmännischen Berater der Jury bestellte, wurde aufgesetzt und unverzüglich von mir unterschrieben.

Danach nahm mich Herr Alles-Möger mit zu sich nach Hause zur Siegesfeier. Die Gesichter seiner drei Töchter und seiner Frau erinnerten mich an krumme Schaufel- und Spatenblätter, wie sie in einem Laden für gebrauchte landwirtschaftliche Geräte zum Verkauf ausgestellt werden. Ich an seiner Stelle wäre in dieser vergifteten, nach dem Deodorant der vier Frauen müffelnden Atmosphäre erstickt. Die Mutter, die älteste von ihnen, war auch diejenige mit dem grellsten Make-up und den dreistesten Klamotten. Ihr Kleid war hochgeschlitzt, bis hin zu den kritischsten Stellen. Ihre Schuhe versetzten mich ebenfalls ins Staunen: Im Zehenbereich waren sie voluminös wie Orangen, doppelt so groß wie an der Ferse. Dabei handelte es sich wohl um die neueste Mode aus Südengland, so einzigartig und modern, dass noch niemand dazu gekommen war, sie zu imitieren.

Sofort verkündeten Herr Alles-Möger und seine Frau unter dem Beifall der drei gebrauchten Spatenblätter, sie ließen mich gerne, kostenfrei, wählen, welche von ihnen ich zur Frau eines Westlers machen wolle. Meine Einwilligung würde ihre Familie ehren, sagten sie, selbstverständlich aber nur unter der Voraussetzung, dass das Paar einander lieben und „wie ein Glas voller Wasser“ miteinander umgehen würde. Verstand ich diese Vietnamesische Redensart? Ja? Dann war ich wohl ein Hausgeist!3 Ich wusste also Bescheid. Sie aßen rasch und geräuschvoll und gaben mir die Erlaubnis, eine ihrer Töchter zu heiraten. Dann verschwanden sie rasch und leise und ließen mich mit der ältesten Tochter allein. Sie sagte mir, ihr Name sei Champagner Nguyen-thi. Ich erwiderte geschmacklos scherzend, dann hießen ihre Schwestern bestimmt Hamburger Nguyen-thi und Würstchen-Nguyen-thi. Oh!, rief sie aus, Du musst wirklich ein Hausgeist sein! Da die drei Töchter in der Zeit staatlich zugeteilter Rationen geboren waren, hatten ihre Eltern sie so genannt, um ihren Hunger nach westlichen Nahrungsmitteln zu lindern. Wonach verlangte es mich?, wollte sie wissen. Bestimmt gefiel mir ein verwegenes Mädchen wie sie. Als sie gerade fünfzehn war und ihr Freund sechzehn, hatten sich beide weiße Trauerbänder um den Kopf gebunden und waren nachts durch die Straßen gebraust auf einem Win-Motorrad, mit abgerissenen Bremsen. Ihr Freund war gegen einen Baum gefahren und sofort an Ort und Stelle tot, mit aufgeplatztem Kopf. Sie war ziemlich weit durch die Luft geschleudert worden und danach aufgesprungen, als sei nichts passiert. Sie war zurückgeeilt, hatte sich die goldene Kette, die ihr Freund um den Hals trug, als Souvenir geschnappt, und war dann weggerannt. Nun wollte sie nur einen Westler heiraten. Einen freundlichen, liebenswürdigen Westler wie mich, der sie im Streben nach Selbstvervollkommnung und beim Anhäufen guter Taten unterstützen würde. Ein Westler, der sie in sein Land mitnehmen und ihr seine Sprache beibringen würde, oder wenigstens einige Lieder wie Gioten, tuymen, ongxem (Je t’taime, tu m’aimes, on s’aime).4 Würde ich mit ihr zusammen Karaoke singen? Sie war geil auf Karaoke; geil, das war die schicke Wortprägung aus Saigon.

Mich konnte man mit Karaoke jagen. Genauso mit der Geilheit. Dieses schreckliche Mädchen machte mir Angst. Ich rannte aus dem Zimmer, wollte aus diesem Haus fliehen.

Das war aber nicht so einfach. Im nächsten Zimmer hatte sich Fräulein Hamburger mit einem Maßband verschanzt. Sie war Näherin. Wenn ich die schrecklich Geile nicht wollte, würde ich ganz bestimmt sie mögen, ein sanftes Mädchen, das lediglich das Garn ins Nadelöhr fädelte5. Ihre ältere Schwester bummelte im ersten Zimmer herum als sei nichts geschehen. Kein Problem, sagte sie, was durchs Sieb fiel würde am Ende doch aufgelesen und zurück in die Waschschüssel gegeben – Sie sehe den Ehemann ihrer Schwester als eigenen an, insofern würde sie nichts einbüßen. Dann verschwand sie. Fräulein Garn-ins-Nadelöhr-fädeln entschied, sie müsse mir sofort eine Hose nähen. Sie fing an, mein Hinterteil zu vermessen, wobei sie sich reichlich Zeit nahm und hier und da und überall an delikaten Stellen herumfummelte. Schließlich musste ich ihr das zudringliche Maßband entreißen, solange ich noch Zubehör hatte, das ich mitnehmen konnte, wenn ich um mein Leben rannte.6

Nun hoffte ich, durch die Haustür entkommen zu können. Doch als ich durch den spärlich beleuchteten Flur lief, umarmte mich plötzlich jemand. Es war Herrn Alles-Mögers Frau. Nach der Niederlage ihrer Töchter gebühre der Sieg nun ihr, sagte sie. Andernfalls würde die Familienehre besudelt. Ich beschloss, ihr zu offenbaren, dass ich kein richtiger Westler sondern lediglich ein inländisches Gewächs sei, das sich während eines Auslandsaufenthalts einer kosmetischen Operation unterzogen habe. Frau Alles-Möger schlug sofort einen anderen Ton an, nannte mich großer Bruder und sich kleine Schwester. Ich, der große Bruder und sie, die kleine Schwester, hätten den gleichen Geschmack, sagte sie. Sie, die kleine Schwester, schätze ebenfalls eine kosmetische Operation und wolle einen erhöhten Nasenrücken wie eine Westlerin. Ihr süßester Traum sei es, Stück für Stück in eine Westlerin verwandelt zu werden.

Da sah ich einen Weg, wie ich mit geänderter Taktik diese Frau loswerden konnte. Ich widersprach mir selbst und sagte, in Wirklichkeit sei ich ein Westler und halte nichts von Schönheit im westlichen Stil, die von einer Operation herrühre. Ein echter Westler liebe nur reine, ursprüngliche Schönheit – Giao Chi-Schönheit.7 Stimmte das wirklich?, fragte Frau Alles-Möger zweifelnd. Ja, wirklich, antwortete ich entschieden. Erbarmungslos zog sie plötzlich einen Schuh aus, streifte die Socke ab und streckte ihren Fuß an der am besten beleuchteten Stelle des Flurs aus. Schau mal, großer Bruder, sagte sie.

Frau Alles-Mögers Fuß erklärte, warum ihre Schuhe im Zehenbereich wie Orangen geformt waren: Der große Zeh stand von den anderen im 90-Grad-Winkel ab. Es war der Fuß der alten Giao Chi, die stets eigens für sie angefertigte Schuhe brauchten.

An diesem Punkt blieb mir nur, ihre Unaufmerksamkeit auszunutzen und die Flucht zu ergreifen.

Ich war lange Zeit auf der Flucht. Von jedem Ort musste ich fliehen. Ich konnte die Leute nicht davon überzeugen, dass ich kein Westler war, dass ich tatsächlich ein heimisches Gewächs war, genauso eingeboren wie meine Nachbarn, wie all die anderen 70 Millionen Einwohner meines Landes.

Eines Tages, gegen Jahresende, saß ich gerade verdrossen am Fenster, als ein Nachbarmädchen vorbeiging. Khoa, warum bist du nicht unterwegs, um für deine Familie zum Neujahrsfest etwas einzukaufen?, fragte sie mich. Khoa ist mein Name. Aber meine Nachbarn hatten aufgehört, mich so zu nennen. Für sie war ich Herr Westlicher-Mieter. Ich erklärte dem Mädchen, dass ich ein Westler sei und demgemäß keinen Grund sah, Vorbereitungen für das Tetfest zu treffen.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Die anderen im Viertel mochten vielleicht so denken, sie aber wisse, dass ich Khoa sei und weder Westler noch Chinese. Sie zögerte einen Moment und sagte dann: Ich erinnere mich, großer Bruder Khoa, wie du vor einigen Jahren in der Warteschlange vor dem Wasserhahn des Wohnblocks gesungen hast. Damals habe sie die Lieder, die ich sang, auswendig gelernt. Und nun habe sie den Herrn Westler genau diese Lieder singen hören, während er wartete, bis er dran kam mit dem Wasser:

Diese Stimme, die sie gehört hatte, war ganz sicher nicht die Stimme eines Westlers. Es konnte nur die Stimme des großen Bruders Khoa sein.

Ich war platt. Ich war verwirrt. Aufgeregt, hoffnungsvoll fragte ich sie, ob sie glaube, ich könne zurück zu mir selbst finden. Ja, sagte sie, vielleicht. Vielleicht würde eines Tages eine Fee erscheinen, die mich ehrlich liebte, nicht weil ich ein Westler war oder aus hundert anderen Gründen. Nur dann, wenn ich der wahren Liebe begegnete, würde der Fluch von mir genommen, und ich würde zurückfinden zu dem, der ich vorher gewesen war. Seit langer Zeit schon hatte ich nicht mehr an Märchen geglaubt. Aber nun, ganz heimlich, hoffte ich, dass dieses Märchen wahr würde. Das Mädchen würde mich auffordern, meine Arme durchs Fenster zu strecken. Sie würde meine Hände fassen und mich bitten, die Augen zu schließen. Ich würde ihren Pulsschlag fühlen, der von ihren Händen ausgehend in meinen Adern zu spüren war. Dann würde ich mein Herz leise pochen hören. Nach und nach würde es stärker schlagen. Nach und nach würde es leidenschaftlicher schlagen.

Und ich würde meine Augen öffnen und feststellen, dass ich mir wiedergegeben worden war.

1996

Quelle: The Man Who Believed in Fairy Tales, in: Behind The Red Mist. Fiction by Ho Anh Thai,
Edited by Wayne Karlin, (Curbstone Press) 1998 übersetzt von Marianne Ngo
Bild: Kunstakademie Ho Chi Minh-Stadt, © Spinnrad: Wochenplaner 1999

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Anmerkungen des Übersetzers:
1 so im Original, dazu die Fußnote mit englischer Übersetzung: Wie geht es Dir, du westlicher Tölpel? Ein Foto? Einen Stadtplan? Ohne Karte wirst Du Dich verirren und sterben wie Dein Vater.
2 Fußnote im Original: Zwei hässliche Gebäude am See. Das Haus des Volkskomitees Hanoi sieht aus wie eine Guillotine. Und das südkoreanisch-vietnamesische Joint-Venture-Gebäude gleicht dem Haifischmaul in dem populären Film Jaws.
3 Ein Geist oder Gott, der sich in einer Ecke des Hauses bzw. in der Küche aufhält und über das Familienleben wacht.
4 so im Original: vietnamesische lautmalerische Verballhornungen der französischen Worte
5 Aus einem populären Quan Ho-Volkslied
6 Anlehnung an ein Vietnamesisches Sprichwort: „Wirf in Gefahr lieber dein Zubehör weg als dein Leben.“
7 Giao Chi waren die Ureinwohner im nördlichen Vietnam, vor etwa 4000 Jahren.
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Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2017

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