Heftiger Regen
Kurzgeschichte von Nie Thanh Mai

Auf schmerzenden Füßen stakste H'Linh den rötlich-staubigen, holprigen Weg voller Schlammlöcher entlang. Schließlich musste sie ihre Stöckelschuhe ausziehen, um schneller voranzukommen. Alles wirkte sehr fremd. Der Gebirgspfad vor ihr, inzwischen lediglich eine schwache Fährte, schlängelte sich durch das enge, mit weißen Blumen nahezu vollständig bewachsene Tal.

Plötzlich trat sie in etwas Heißes, Matschiges. Beim Anblick des Kuhfladens mußte sie heftig niesen. Angewidert sprang sie beiseite und wischte ihre Füße am Gras ab. Nach den vielen Jahren der Abwesenheit von ihrem Heimatdorf zuckte sie vor Schreck zusammen, als eine großäugige, glotzende Kuh vor ihr auftauchte. Kuhdung und Schweiß machten sie krank.

Das Tal versank mit jeder Stunde tiefer in der Dämmerung. Tausende Moskitos schwirrten lästig herum. Einige flogen ihr ins Gesicht oder sogar in den Mund. Alle Liebe, die sie für ihr Heimatdorf hegte, alle freundlichen Erinnerungen verkehrten sich in Abneigung. Sie nahm eine Abkürzung durch das dichte Gras.

***

Sie war am Droal-Fluß angelangt. Der wie ein dickbäuchiger Krug geformte Felsen in seiner Mitte, nur einige Meter von ihr entfernt, wurde in ihrer Sprache Ceh Ekei genannt, männlicher dickbäuchiger Krug. Er schien trotz einiger Spuren vom Zahn der Zeit unverändert, stand aufrecht und fest bei Sonnenschein und Regen. Wenn man ihn im Garten von H'Linhs Hausherrn aufstellte, hätte er ein anderes Aussehen, wäre naturwüchsig und primitiv.

Das klare Flußwasser gluckste über weiße Kieselsteine aller Größen. Mit aneinandergelegten Handflächen schöpfte sie Wasser für ihr Gesicht. Ihre Müdigkeit verschwand.

"Ceh Mnie, der weibliche dickbäuchige Krug, ist wieder da", rief Ceh Ekei.

***

Plötzlich spiegelte die Wasseroberfläche eine Gestalt wider. Sie blickte auf. Ihr Schwager, einen langen Speer in seiner Rechten, wollte Fische fangen. Beide waren von der unerwarteten Begegnung überrascht. Sein weit ausgeschnittenes T-Shirt enthüllte einen kräftigen, im Sonnenlicht schimmernden Oberkörper. Hastig zog sie ihren Ausschnitt nach oben, um ihre vollen Brüste zu bedecken, die mit blauen und schwarzen Flecken übersät waren. Sie trug ein gelbes, mit den Worten "Vergiß mich nicht" bedrucktes T-Shirt, ausgefranste Jeans und ein Paar teure französische Schuhe. Ihr sorgfältig gelegtes, orangefarbenes Haar verströmte süßen Duft. Dem etwas wirren Gespräch mit ihrem Schwager entnahm sie, daß er täglich hierher zum Fischen kam.

Gemeinsam gingen sie nach Hause.

***

Am Fuß der Treppe schaute sie nach oben. Ihr Vater, der mit seinem dürren Körper und seinen grauen Haaren inzwischen aussah wie eine welke Pflanze, saß im Schneidersitz auf der Veranda des Pfahlhauses. Als er seine Tochter erblickte, stand er zitternd auf. Sie ließ ihren Rucksack zu Boden gleiten.

"Du bist also wieder da", sagte ihr Vater von oben, wobei ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Sie mußte ebenfalls weinen.

Ihr Schwager stieg zuerst hinauf. Dann half er ihr über die letzten Sprosse nach oben. Ihre kleine, weiche Hand war fest umschlossen von seiner großen, rauen und warmen Hand. Sie sah, daß auch in seinen Augen die Tränen standen.

"Warum bist Du zurückgekommen, etwa aus Heimweh?", fragte ihr Vater mit belegter Stimme.

"Wie kannst Du das fragen, Vater? Ich vermisse unsere Familie, die Verwandten und Nachbarn sehr!"

"Nun, wir haben uns seit ewigen Zeiten nicht gesehen, oder?", versetzte er.

Insgeheim fand er seine Tochter stark verändert. Ihre früher gebräunte Haut war nun blaß. Ihre Lippen waren nun rot und ihre Wangen schimmerten rosig. Sie wirkte auf alle ziemlich fremd. Einzig ihr Schwager hatte einen warmen, wohlwollenden Blick für sie.

"Ist sie nach Hause gekommen, um ihren Schwager Y Thi zu heiraten?", fragte ein Nachbar.

"Ich denke, ja", antwortete ein anderer. "Nachdem sie unser Dorf verlassen hatte, hat er eine ganze Weile in der Stadt nach ihr gesucht, aber vergeblich, denn sie wollte ihn nicht treffen."

"Nun, der Kerl hat alle Fische im Droal-Fluss gefangen, und jetzt ist H'Linh zurück. Immerhin ist ihre ältere Schwester H'Lan ja schon vor langer Zeit gestorben, und Y Thi kann nicht ewig Witwer bleiben", schloß ein anderer.

H'Linhs Heimatdorf lag inmitten zahlreicher Berge und Hänge, und Ede-Mädchen wie sie trugen ständig Körbe voller Mais, Süßkartoffeln und Bambusschößlinge, schleppten auf ihrem Rücken sogar große Krüge voller Wasser, und davon hatten sie krumme Rücken und derbe Füße. Und dann zogen sie noch kurze Röcke an, um auf den Terrassenfeldern bequemer arbeiten zu können.

***

Die Ede der Gemeinde Yang Hao beherrschten die Kunst der Gongherstellung nicht, sie mußten sie von den Kinh kaufen. Aber sie wußten sie zu stimmen, so daß ein ganzes Ensemble von Gongs harmonisch zusammenklangen. Früher war H'Linhs Vater darin ein Meister gewesen. Nun, da er alt und sehr schwach war, hatte er sein Wissen an seinen Schwiegersohn weitergegeben.

Eines windigen Nachmittags saß Y Thi auf der Veranda beim Gongstimmen. Einige Dorfbuben waren gekommen, um dieses Handwerk von ihm zu lernen. Auch eine junge Lehrerin, eine Kinh, mit lockigen Haaren und wohlgeformten Brüsten saß dabei und betrachtete ihn mit großer Zuneigung. H'Linh fühlte sich unbehaglich, wenn die fremde junge Frau aus der Tiefebene ihm Tee servierte und sich ein Handtuch griff, um ihm den Schweiß abzuwischen.

"H'Linh, kannst du uns ein Ede-Volkslied singen", fragte einer der Jungen. Ohne die Antwort abzuwarten, legten sie los.

Y Thi schaute in den wolkenlosen Himmel und genoß die klangvolle Melodie. Die Lehrerin wiegte sich im Rhythmus der Gong-Klänge. H'Linh dagegen ging auf und ab und stieß absichtlich gegen einen Stapel Gongs, so dass diese laut scheppernd umfielen. Der Gesang brach mittendrin abrupt ab, und ihr Schwager starrte sie verwirrt an.

***

Nach dem Essen machte sich Y Thi mit der Flinte in der Hand auf in den Wald zur Jagd. Im Pfahlhaus brannte noch das Feuer im Herd.

"Du warst ja wohl nicht sehr traurig über den Tod deiner Mutter und Schwester, oder?", sagte H'Linhs Vater, "Aber mit deiner Nichte solltest du wenigstens Mitleid haben."

"Sag doch nicht so was. Wie könnte ich sie vergessen! Ich liebe alle Mitglieder unserer Familie", erwiderte sie.

Die Überschwemmung in jenem Jahr war schrecklich gewesen. Die wilden Wasser des Droal-Flusses hatten ihre Mutter und ihre Schwester auf dem Heimweg vom Terrassenfeld fortgerissen. Ihr Vater und ihr Schwager hatten drei Tage lang nach ihnen gesucht. Erst am dritten Tag konnten sie die Leichen ihrer vom Schicksal geschlagenen Lieben finden. Jedes dritte oder vierte Jahr kamen in dieser Gegend mehrere Unglückliche durch die Fluten um.

Mit nachdenklichem Blick zündete H'Linhs Vater eine Fackel an und stieg dann die Treppe hinunter. Auf halbem Weg schaute er zurück zu ihr und sagte: "Damit die Affen nicht unseren Mais verwüsten, gehe ich an Stelle deines Schwagers zu den Terrassenfeldern. Er arbeitet sehr hart für unseren Clan."

"Nimm mich mit", drängte sie.

"Nein, du mußt zu Hause bleiben und dich um deine Nichte H'The kümmern. Du hast dich lange nicht um sie gekümmert, nicht wahr? Nach dem Tod ihrer Mutter mußt du, ihre Tante, nun für sie sorgen."

H'Linh erwiderte nichts. Die Silhouette des Alten verschwand nach und nach in der Dunkelheit. Im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß ihr Vater immer noch böse war, weil sie sich so lange nicht gemeldet hatte. Dabei tat er ihr sehr leid. Sie wünschte, bei ihm zu sein und für ihn zu sorgen, doch gleichzeitig hatte sie Angst, hierher zurückzukommen und den Gestank des Kuhdungs einzuatmen.

Es war schon tiefe Nacht, und Stille herrschte ringsum. Die Bäume im Wald hatten zu rascheln aufgehört, kein Tier brüllte am Ufer des verlassenen Stroms, kein Vogel zwitscherte im Busch. H'Linh konnte nicht schlafen. Nervös stand sie auf und öffnete die Bambustür. Die frische Luft tat ihr gut. Sie schaute in die Dunkelheit. Plötzlich knarrten die Stufen laut. Ihr Schwager kletterte herauf. Er kam in die Küche und setzte sich an den Herd, in dem das Feuer knisterte und hell aufloderte. Sein kräftiger Körper wirkte wie eine hölzerne Statue. Seine lockigen Haare fielen hinab bis auf die nackten Schultern.

"Armer Y Thi! Seit dem Tod seiner Frau ist er nun Witwer", sagte H'Linh flüsternd.

"He, H'Linh! Du kannst wohl nicht schlafen, weil du dich in diesem Haus nicht wohl fühlst?", fragte er.

"Weil H'The sich ständig herumwälzt", antwortete sie. Sie nahm eine Jacke vom Kleiderständer und legte sie um seine Schultern. Er ergriff ihre Hand.

"Ich kann das nicht anziehen, Schwägerin", rief er. Sie hatte ihm aus Versehen ihre Jacke gegeben. Sie versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, die er mit seiner warmen Hand festhielt. Seine Augen schienen zu brennen. Sie fürchtete, gleich in Ohnmacht zu fallen, so schwer fiel ihr das Atmen.

Plötzlich stammelte H'The etwas in ihrem Traum und wälzte sich im Bett herum. H'Linh schrak zusammen und befreite ihre Hand aus dem Griff ihres Schwagers. Sie lief schnell zu dem kleinen Mädchen hin und nahm sie auf ihren Schoß.

Schlaftrunken umarmte das Kind sie fest. H'Linh weinte und ihre Haare auf dem Kissen wurden tränennaß.

"Kling-klang!" drang mitten in der Nacht der Gong-Ton vom Boden unter dem Pfahlhaus herauf. Er ertönte in gleichmäßigen Schlägen, nicht in dem Doppelrhythmus des vorangegangenen Nachmittags. "Meine Güte! Warum muß er den Gong schon in aller Frühe stimmen?", fragte sich H'Linh.

Sie nahm ihre Nichte fest in den Arm, als könne sie so den lärmenden Hammerschlägen entgehen. "Mein armes Kind! Wie dünn du bist! Und noch dazu sind deine Hände rauh und dein Haar riecht nicht gut.", wisperte sie. Sie geriet in eine Stimmung der familiären Zusammengehörigkeit. Unwillkürlich fühlte sie, daß H'The ihre eigene Tochter sei. Sie entdeckte, daß die Wangen des Kindes vor Tränen brannten.

***

Wie sie so ihre Nichte im Arm hielt, unterschieden sich ihre Gefühle stark von denen, die sie empfunden hatte, als sie die kleine Tochter ihrer abwesenden Hausherrin, die nun in einem weit entfernten Land lebte, umarmt hielt, damals, als sie nur ein junges Mädchen war, das aus den Bergen gekommen war. Der Hausherr, ein Ede, hatte eine Villa mit einem großen Garten mitten in der Stadt. Die Hausherrin war eine Kinh, die vor mehr als acht Jahren ins Ausland gegangen war und ihr Baby und ihren Mann einsam und in Armut zurückgelassen hatte. Um über diese Schmach wegzukommen, versuchte der verlassene Mann, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und reich zu werden. H'Linh hörte seine Geschichte von den Nachbarn. Bald wurde er durch Antiquitätenhandel wohlhabend. Er lernte H'Linh in einer Karaoke-Bar kennen, und später folgte sie ihm als Au-pair-Mädchen in sein Haus und brachte seiner kleinen Tochter die Ede-Sprache bei.

***

Halbwach lag H'Linh im Bett. Lärm von dem Hof unten drang an ihr Ohr. "Was! Hat Y Thi etwa die ganze Nacht lang seine Gongs gestimmt?", fragte sie sich. Als sie die Augen öffnete, traf sie der starrende Blick ihrer Nichte, das Kinn in die rechte Handfläche gestützt. Vielleicht hatte sie ihre Tante schon stundenlang im Schlaf beobachtet. Die Kälte, die von unten her in das Pfahlhaus eindrang, ließ sie zittern, denn sie hatte sich daran gewöhnt, auf einer warmen, dicken Matratze zu schlafen.

"Das Kind ist noch nicht vertraut mit dir", bemerkte ihr Schwager neben ihr.

"Ist jetzt alles in Ordnung? Gerade habe ich Klebreis gekocht. Magst du den immer noch?", fragte er sie.

"Natürlich, wie könnte ich seinen besonderen Duft und Geschmack vergessen?", antwortete sie mit einem scheuen Lächeln. Wie sie ihren Schwager so ansah, empfand sie tiefes Mitleid mit ihm.

***

Y Thi führte seine Schwägerin zum Fluß, wo ihre Mutter und ihre Schwester vor zehn Jahren in den tobenden Fluten versunken waren. Dort am Ufer verneigte er sich vor einem Bündel angezündeter Räucherstäbchen und weinte.

Plötzlich sah H'Linh am anderen Ufer eine Gestalt zu ihr herüberlächeln. Es war Y Woan, ihr früherer Freund. Dann, nach einem Wimpernschlag, verschwand die Silhouette im Gras. Sie zitterte vor Furcht.

"Bruder Y Thi, hat Y Woan aus unserem Dorf geheiratet?", fragte sie.

"Woher denn! Er ist vor langer Zeit gestorben."

"Wirklich?"

"Er war sehr böse auf dich. Du bist weggegangen, ohne ihm ein Wort zu sagen. Es hieß, du habest auf ihn herabgesehen", bemerkte er. "Er hat drei Jahre lang auf dich gewartet. Als du nicht zurückkamst, heiratete er eine junge Frau aus seiner Familie mütterlicherseits. Aber er liebte seine Frau nicht. Er weigerte sich, auf den Terrassenfeldern zu arbeiten, statt dessen trank er den ganzen Tag lang. Bis zu seinem Tod liebte er dich sehr und gleichzeitig grollte er dir."

Sie fühlte sich benommen. Bilder und Szenen von ehedem drangen in ihr Bewußtsein und verschwanden wieder. Sie erinnerte sich, daß Y Woan sehr schön singen konnte. Er liebte sie innig, sie aber hatte sich entschlossen, ihr Heimatdorf zu verlassen, um ein besseres Leben zu führen

.

***

Im vergangenen Jahr hatten Y Thi und Y Woan sich an einem Regentag auf die Suche nach H'Linh gemacht. Mit Hilfe einer Dorfbewohnerin hatten sie die Karaoke-Bar gefunden, in der H'Linh gearbeitet hatte. Dort angekommen, sahen sie, wie sie zu einem älteren grauhaarigen Mann in sein Luxusauto stieg.

"Laß die Vergangenheit ruhen", sagte sie sich.

***

Y Thi machte sich vor ihr auf den Heimweg. Er hatte ihr nicht gesagt, warum Y Woan gestorben war, und sie hatte sich nicht getraut, ihn zu fragen. Vielleicht war er im Moment noch böse mit ihr. Und sein Ärger war verständlich, denn er hatte gesehen, wie ihr Gesicht aufleuchtete, als sie ihren Liebsten im Tagtraum erblickt hatte.

***

H'Linh ging alleine zum Dorffriedhof. Normalerweise war sie zu ängstlich, um nachts alleine auszugehen. Als sie ihr Heimatdorf verlassen hatte, um in die Stadt zu gehen, war sie ganz locker gewesen. Aber jetzt fürchtete sie sich doch etwas auf dieser verlassenen Grabstätte. Als Kind war sie nie hier gewesen, denn Kinder durften einen solchen Ort nicht aufsuchen. Nur bei einem Begräbnis drängten sich hier die Leute, an anderen Tagen sah es sehr abweisend und düster aus.

Y Woans Name stand hingeschrieben auf einem rechteckigen Holzbrett. Sein Grab war bedeckt von zarten Blumen mit purpurfarbenen Blüten, deren Blätter sich bei Berührung leicht schlossen. Sie steckte eine 5000-Dong-Münze in die Schale vor seinem Grab. Das in den Grabstein gemeißelte Gesicht des Toten wirkte unglücklich und bedrückt. Sie ging langsam an den anderen Gräbern entlang. Der Anblick der rissigen affengesichtigen Skulpturen auf den Grabsteinen weckte Schrecken und Angst in ihr. Bevor sie nach Hause ging, entzündete sie einige Räucherstäbchen an den Gräbern ihrer Mutter und ihrer Schwester.

***

H'Linh wollte früh aufbrechen.

Rollender Donner kündigte heftigen Regen an. Als Y Thi sah, daß H'Linh ihre Jacke schon angezogen hatte, wagte er nicht, sie zu fragen, wohin sie gehen wolle. Wie sie ihn unten mit seiner Tochter flüstern hörte, regte sich Mitleid in ihr.

"Ich muß jetzt gehen, Papa, aber ich werde bald wieder heimkommen.", erklärte sie ihrem Vater.

"Besser, du bleibst für immer hier. Ich werde dich nicht zwingen, Y Thi zu heiraten, wenn du ihn nicht liebst.", antwortete ihr Vater.

"Ganz und gar nicht! Er tut mir leid. Wie dem auch sei, ich muß gehen", sagte sie zu sich selbst.

Ihr Vater sagte nichts mehr. Er blickte auch nicht auf. Sie ging langsam hinunter.

"Du solltest einen Regenumhang mitnehmen, es wird wahrscheinlich schütten.", sagte Y Thi, als sie halb unten war. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, dann ging sie schnell los. Er begleitete sie bis zum Dorfrand. Seine kleine Tochter lief ihnen nach. Am Droal-Fluß hielt H'Linh an und drückte ihm ein Bündel brandneuer Banknoten in die Hand. Er weigerte sich, das Geld anzunehmen.

"Nimm es mir zuliebe, Lieber!", beschwor sie ihn.

"Wir haben es viele Jahre ohne deine Hilfe geschafft, im Leben zurechtzukommen.", erklärte er. Sie errötete und verbarg ihr Gesicht an der Brust des kleinen Mädchens, das sich weinend fest an ihren Rock klammerte. Mit leerem Blick versuchte H'Linh die Hände des Kindes zu lösen. Sie wußte, daß sie, sobald sie in die Augen ihres Schwagers oder ihrer Nichte schauen würde, nicht in der Lage wäre, fortzugehen.

Nun war es später Nachmittag. Nachdem sie ein kurzes Stück gelaufen war, fühlte sie sich sehr müde. Sie dachte an die traurigen und ergebenen Augen ihres Schwagers vor einigen Minuten. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, war aber stumm geblieben.

Als sie den Dorffriedhof erreichte, begann es heftig zu regnen. Der Regen fiel so dicht, dass sie den Wald vor sich nicht mehr sehen konnte. Ihre nackten Füße traten in etwas Nasses, Matschiges. Wahrscheinlich ein Kuhfladen. Obwohl sie Kuhdung hasste, konnte sie nicht stehen bleiben, um ihre Füße zu säubern. Auf dem Friedhof riß sie eine Holzskulptur mit traurigen Affengesicht aus einem Grab und steckte sie in einen Jutesack. Ihre Hände mit den rosig lackierten Fingernägeln schleiften den Sack den schlammigen Pfad entlang. An der Autostraße angelangt, konnte sie nach einigen Minuten einen Lastwagen stoppen und sich mitnehmen lassen. Schließlich rollte das Fahrzeug bergab.

***

Gegen Mitternacht erreichte sie das Haus ihres Hausherrn.

Es befand sich im Stadtzentrum. Vor seiner Tür angelangt, war sie ganz entspannt. Als der Hausherr die Skulptur mit dem Affengesicht sah, war er tief bewegt. Sein riesiger Garten voller Zierpflanzen würde durch die in seinem Zentrum aufgestellte hölzerne Statue noch eindrucksvoller werden. Mit breitem Lächeln stellte er sich das luxuriöse Bankett vor, das er zur Bewirtung seiner reichen Freunde veranstalten würde. Sie würden sehr beeindruckt sein angesichts der feinen Kunst der Dorfhandwerker von Yang Hao. O ja, sie mochte das Lächeln ihres Arbeitgebers ebenso wie den liebevollen Blick ihrer Ede-Schülerin.

Viele Nächte lang schlief H'Linh schlecht. Jede Nacht klopfte es an ihrer Tür. Sie machte Licht und öffnete die Tür einen Spalt. Da war niemand. Zurück im Bett vergrub sie ihr Gesicht zwischen Kissen und Decke und versank in Halbschlaf. Wieder klopfte es an der Tür, regelmäßig und immer wieder. Sie erinnerte sich, daß während der ersten Tage in diesem Haus ihr Hausherr erklärt hatte: "Ich bin ein Mann von Charakter. Ich möchte nur mit dir schlafen, wenn du es freiwillig tust."

"Aber ich bin keine Jungfrau mehr, wie du geglaubt hast."

"Das macht nichts. Was ich brauche, das ist deine aufrichtige Liebe, sonst nichts."

Daraufhin gab sie sich erregt und anschmiegsam dem Liebesspiel hin.

"Aber was soll das? Du hast nur mit mir herumgespielt!"

"Das tut mir schrecklich leid. Ich bin nicht der Mann, der mit deiner Liebe zurechtkommen könnte."

Je häufiger er versagte, umso mehr quälte er sie. Während der Nacht mißhandelte er sie, und am nächsten Morgen bat er um Verzeihung.

Einmal sagte er: "Du bist freiwillig zu mir gekommen, du kannst jederzeit gehen, wenn du willst."

"Ja, Herr."

Was für eine Schande! Ein schönes Ede-Mädchen mit 20 Jahren, und doch war sie nur eine törichte junge Frau!

***

Morgens beim Aufstehen fühlte sie sich unruhig und niedergeschlagen. Neuerdings war das nächtliche Klopfen an ihrer Tür kaum mehr zu hören. Dennoch konnte sie nicht gut schlafen. Der Anblick ihres Hausherren, dickbäuchig, schwer und plump, mit scharfen Eckzähnen, die leichte Bißspuren an ihren Brüsten und Oberschenkeln hinterließen, machte ihr Angst.

Ohne erkennbaren Grund vermißte sie ihren Schwager sehr. Sie sehnte sich nach ihm. Vor langer Zeit war sie eines Nachts einmal mit ihm mitgegangen zum Fluß, um das Fischen zu lernen. Als sie aufmerksam zuschaute, wie sein Speer auf die Fische zuschoß, die nahe am Ufer schwammen, verlor sie das Gleichgewicht. Er stürzte sich ins Wasser, schlang seine heißen, starken Arme um ihre Brust, und zog sie ans Ufer.

Zu Hause wurde sie dann von ihrer Schwester H'Lan wegen ihrer nassen Kleider beschimpft. "Du bist in den Fluß gefallen, ja? Und Y Thi ist am Ufer geblieben?" fragte sie. H'Linh erwiderte nichts. Am nächsten Morgen versuchte ihr Schwager, den mißtrauischen Blicken seiner Frau auszuweichen.

***

In der Stadt war die Luft nachts zu stickig. Sie fühlte sich einsam und weinte unaufhörlich. Die ganze Nacht zappelte sie unruhig herum. Sie trank einige Becher ausländischen Branntweins. Sie fand ihn sehr bitter. Plötzlich erinnerte sie sich an den Reiswein, den die Bewohner ihres Dorfes destillierten, duftend und wohlschmeckend.

Vor ihrem geistigen Auge flog inmitten des heftigen Regens ein Mann durch die Luft. Es war ihr Schwager. Er landete im Garten ihres Hausherrn, riß die affengesichtige Skulptur heraus, die zwischen niedrigen Pflanzen eingesetzt worden war, und nahm sie auf seine Schulter. Regentropfen, Tränen der affengesichtigen Skulptur vermischten sich mit ihren eigenen und rannen ihre Wangen hinunter. Sie ließen sie frösteln. Die grellen Blitze und grollenden Donnerschläge erschreckten sie. Und der Geruch von Kuhdung wehte durchs Zimmer. Ihr Schwager, der sich mit der Skulptur eines Affen mit traurigem Gesicht auf der Schulter entfernte, verschwand allmählich im Regendunst.

Quelle: Nie Thanh Mai, In the heavy Rain,
in VNS 8.4.2007. Deutsch von Marianne Ngo nach der englischen Fassung von Van Minh

< Nie Thanh Mai gehört zu einer Gruppe von jungen Autorinnen und Autoren, die im Jahre 2006 zum ersten Mal mit einer Veröffentlichung hervorgetreten sind. Das Buch, eine Anthologie von Kurzgeschichten, trägt den Titel "8X", was bedeuten soll, daß alle Texte von Leuten stammen, die im Jahrzehnt von 1980 bis 1989 geboren sind.

Der Band, der im Verlag des Schriftstellerverbandes herauskam, erregte sofort Aufsehen, vor allem durch eine Reihe von Druckgrafiken, die in der zweiten Auflage weggelassen werden mußten, weil sie angeblich obszöne Worte enthielten.

Aber die Mitglieder der Gruppe sind inzwischen fast etabliert und veröffentlichen ihre Texte in Zeitungen und Zeitschriften. Einige haben schon eigene Bücher herausgebracht

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2007

zurück zu "Erzählungen"
zurück zu "Inhalt" VNK
Home