Bis heute, mein Kind, sehe ich im Traum die Terrassen der Reisfelder vor mir!

Tagsüber brannte die Sonne am Himmel über dem Kalksteingebirge wie eine rotglühende Pfanne. Der dreizehnjährige Junge, dünn wie eine Bohnenstange, bückte sich und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er schaute den Bergrücken hinauf, der fast bis zum Himmel reichte. Die erste Reisfeld-Terrasse zählte achtzehn Stufen. Eine kurze Verschnaufpause, dann kam die zweite. Nach zwölf Stufen musste er einige Minuten ausruhen. Alle Viere von sich gestreckt lag er unter der Mittagssonne, wischte sich wieder Schweiß und auch Tränen aus dem Gesicht und zog dabei seinen Bauch ein, der ganz leer war, ein von Haut überspannter Hohlraum. Weitere neun Terrassen musste er erklimmen, dann ging es kriechend den Berghang hinauf. Erst gegen Abend erreichte er die kleine Ansiedlung strohgedeckter Bambushütten. Der Junge – ja, ich spreche von deinem Vater, mein Kind – öffnete die Posttasche, er war am Ende seiner Kräfte und außer Atem.

Aber als er den Mann erblickte, konnte er wieder lachen. Der Mann war groß und schlank, korrekt angezogen und sah in seinem weitgeschnittenen braunen Anzug richtig nobel aus. Er nahm seine Zeitungen Nhan Dan und Van Nghe1 entgegen, als habe er nicht mehr damit gerechnet, daß sie kommen würden.. Nur alle paar Monate kam eine Sendung aus der Stadt. Ohne in die Zeitungen hineinzuschauen wandte er sich erst dem Jungen zu und sagte: „Na, wie wär's mit einer Hühnersuppe?“.

Dann rief er seine Frau, die ebenfalls elegant wie eine Städterin gekleidet war; sie brachte eine Schale Hühnersuppe für den Jungen. Die Hühnerzucht hier oben wird nicht überwacht, ab und zu konnte man eines für eine gute Suppe abzweigen. Im abgelegenen Bergland ging es nicht so streng zu wie unten im Flachland, wo es immer aufmerksame Augen und Ohren gab.

Der kleine Postbote – also dein Vater – überlegte, warum der Mann und seine Frau, diese beiden gutherzigen Menschen, bis fast in den Himmel hinauf gezogen waren, um hier unter den Bergvölkern zu leben. Er wollte sie fragen, aber aus Sorge, aufdringlich zu sein, aß er stumm seine Suppe. Manchmal kriegte er Klebreis oder wenigstens eine gekochte Kartoffel. Eigentlich war sein Beruf als Postbote gar nicht so schlecht. Nur wenn er sich zum Schlafen niederlegte und die Augen schloss, dachte er darüber nach, warum ausgerechnet er immer die Reisfeld-Terrassen hinaufklettern musste. Sollte das etwa bis an sein Lebensende so gehen?

Als der kleine Postbote fünfzehn Jahre alt war, betrachtete ihn der Mann als vertrauten Freund. Eines Abends, als das tosende Wasser des Baches dort unten den Rückweg zur Post abschnitt, behielt er ihn über Nacht da. Die Eheleute erwähnten ihre beiden Söhne, die schon vor langer Zeit die Gewehre ergriffen hatten und nach B2 gegangen waren. So erlaubte der Mann einen kleinen Einblick in sein Leben. Aber er sprach nicht viel. Es war, als redete er tief in Gedanken eigentlich mit sich selbst wie mit einem, den man hierher, auf halbem Weg zum Himmel, verbannt hätte. Warum, was hatte er verbrochen?

Damals, als die Stadt noch ganz grün und nur dünn besiedelt war, arbeitete er als Schneider in einer kleinen Gasse. Ein Professor war in seinen Laden gekommen und hatte darum gebeten, ihm eine Jacke im französischen Stil anzufertigen, weil ihm dieser Schnitt gefalle. Der Professor hatte feine Umgangsformen, er war sehr gelehrt, sah aber traurig aus. Er war zwar nur gekommen, um etwas zu bestellen, blieb aber lange auf einem Stuhl sitzen und erzählte Geschichten aus aller Welt. Als Schneider war ich es gewohnt, zugleich das Schwungrad der Nähmaschine zu treten und meinen Kunden zuzuhören. Er erzählte von den Bouquinisten an der Seine, wo er oft herumgestöbert habe, von den französischen Frauen mit ihren blonden Haaren und ihren zierlichen Gliedern, mit denen er oft Arm in Arm durch den Pariser Morgendunst gegangen sei, aus dem, gerade, als sie es am wenigsten erwarteten, der Eiffelturm auftauchte, so dass sie einander nur lachend ansehen konnten. Er habe in dieser Stadt seine Jugendjahre verlebt... Nun komme ihm dieser Lebensabschnitt wie ein Traum vor. Einige Tage darauf holte der Professor seine Jacke ab; für mich war er ein ganz normaler Kunde wie andere auch. Aber dann bemerkte ich, dass einige Leute, die ich nicht kannte, uns genau beobachteten. Danach kam die Mitteilung des „tieu khu-Komitees“3, dass wir zu den Leuten gehörten, die in die neuen Wirtschaftszonen gehen mussten. Damals war das eine Verpflichtung. Erst später haben wir erfahren, was hinter dieser unvermuteten Katastrophe steckte. Der Professor war in Ungnade gefallen. So war das eben, damals. Mit Tragestangen schleppten wir unseren Haushalt hier herauf. Ich gab die Schneiderei auf. Ich mochte diesen Beruf nicht mehr, durch den wir ins Unglück geraten waren. Wir rodeten und kultivierten das Land. Wir legten Terrassenfelder an. Man kann hier leben, weil alles vorhanden ist, Berge, Wälder, Seen. Und die Atmosphäre unter den Leuten hier ist auch wärmer, sie bedrängen einander nicht, wie die da unten, aufs Geratewohl mit wilden Verdächtigungen.

Der kleine Postbote – also dein Vater – hörte zu und wusste nun Bescheid. Nun sehnte er den Tag herbei, an dem er wieder die Reisfeld-Terrassen hinaufklettern würde, um die Nhan Dan und Van Nghe dem zu bringen, für den sie das Bindeglied mit der Welt da unten waren. Die Nacht war stockdunkel, nur im Herd in der Ecke brannte eine kleine Flamme. Der Raureif auf den Kalkfelsen ließ die Menschen näher ans Feuer rücken. ... Dein Vater sah, dass der Mann, der an so einem entlegenen Ort lebte, sich ruhigen Herzens uhd mitn Gleichmut in sein Schicksal fügte.

Du hörst mir doch noch zu? Irgendwann werden wir einmal nach Hause fahren, auch wenn dort keiner von uns mehr lebt, damit du die Heimat kennenlernen kannst. Dort gab es genügend Wasser für die Felder, aber nur wenig Trinkwasser. Beides gewann man aus einem Teich. Das Teichwasser musste mit Alaun, gereinigt werden, bevor man es in der Küche verwenden konnte. Man nutzte das Teichwasser auch, um sich zu waschen oder zu baden, zum Wäsche waschen, zum Reinigen von Reis und Gemüse. Wenn man etwas Alaun in den Wasserkrug tat, war es trinkbar. Natürlich war die Versorgung etwas schwierig, aber wir kamen zurecht. Nachts hörte man das Plätschern der Fische in den Reisfeldern. Die Beine meiner Mutter waren wegen der ständigen Arbeit im Wasser ganz geschwollen und wund, sie mussten immer wieder verbunden werden. Aber wir kamen trotzdem zurecht. Eines Tages waren mein Vater und meine Mutter bei der Feldarbeit, als ein Gewitter aufzog. Ein greller Blitz schlug in die Gruppe von Menschen ein, die unter der Krone eines einsamen Baumes Schutz gesucht hatten. Alle wurden getötet, auch meine Eltern. Die Verwandten verkauften die strohgedeckte Hütte und gaben den kleinen Erlös dem Jungen für seine Reise in die Kreisstadt der Bergregion. Dort nahm sich ein entfernter Verwandter, der bei der Post arbeitete, des Waisenjungen an, und dieser wurde auf seine Empfehlung als Nachfolger des invaliden Postboten im nördlichen Kreisgebiet eingestellt. So führte mich mein Leben als Postbote hinauf zu den Gipfeln, hinab an den Fuß der Berge, in entlegene Bergdörfer, in ferne Täler. Die Füße waren immer wund, die Haut dunkel wie die eines Wasserbüffels. Mein Rücken ist krumm, ich weiß nicht warum, vielleicht wegen der Reisfeldterrassen? In den Jahren, als amerikanische Flugzeuge den Norden angriffen, hörte man ihr Heulen nur unten im Flachland; Hier herauf drang nur das weit entfernte Krachen der Bomben. So war es, das arbeitsame Leben eines Postboten. Krieg im Süden, Krieg im Norden. Die Zeitungen Nhan Dan und Van Nghe kamen regelmäßig oben auf halbem Weg zum Himmel an. Zu deiner Geburt hat uns das Ehepaar sogar einen Käfig mit einem Dutzend Hühnern geschenkt. ... So ging es weiter, mein Kind. Ich habe nie einen Brief verloren…

***

Vielleicht kommen uns deshalb immer die Tränen, wenn wir Vater ansehen. Er ist klein, nicht besonders kräftig, aber er brauchte uns nur anschauen dann haben wir uns nicht getraut, ihn anzulügen. Sein Blick ist immer noch klar, nach vorne gerichtet, ein bisschen nach oben, vielleicht weil er so oft die Terassenfelder hinaufgeklettert ist.

Die ganze Kreisstadt der Bergregion ist in Aufruhr, weil hier Gold zu finden ist. Die Leute kommen heutzutage zu Geld, so einfach wie das Wasser fließt. Die Taschen sind bis oben hin vollgestopft. Und dann kam der Sturm der Lotterie, des Glücksspiels aus dem Flachland heraufgefegt, und das ganze Geld zerstob. Gerade noch reich, war man bald schon wieder bettelarm. Wir Geschwister haben uns geschworen, den Weg unseres Vaters zu gehen, geradeaus, auch wenn es steil hinauf gehen sollte ... Als ich in der Stadt studierte, haben einige mir dies und jenes einzureden versucht. Viele Jugendliche aus reichen Familien sind dort der Rauschgiftsucht verfallen und vegetierten vor sich hin. Die Leute fingen an, unseren Vater zu beneiden, den ewigen Postboten, weil seine Kinder ihr Studium im Flachland erfolgreich abgeschlossen haben und wieder in die Kreisstadt zurückgekehrt sind. ... Ich ging zur Post, um mich nach einer Stelle zu erkundigen. Mein Vater sah mich nachdenklich an: „Doch nicht Postbote, Kind! Bitte suche dir etwas anderes.“ Ich weiß noch nicht, was ich machen soll. Aber ich habe fest vor, das Schneider-Ehepaar da oben zu besuchen. Sie sollen ein Stück weiter herunter gezogen sein. Und sie sind ganz alt geworden. Mein Vater hat erklärt, dass er durch diese Leute dazu gebracht worden sei, stolz auf seinen Beruf als Postbote zu sein.

Quelle: Lung chung troi, in:
Le Minh Khue: Mot minh qua duong. Nhung truyen ngan moi va nhung truyen tam dac, Hanoi 2006,
übersetzt von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2010

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