Installation

Eine Kurzgeschichte von Ho Anh Thai

Ein Foto.
Ein Fläschchen mit Arzneikapseln.
Ein Touristenkoffer Marke Samsonite.
Ein Hemd und eine Hose im Schrank.

Der Gast, der in Zimmer 37 gewohnt hatte, hinterließ nur diese Dinge. Um zehn Uhr morgens betrat das Zimmermädchen das Zimmer, nachdem der Gast weggegangen war. Ein Mann. Die Kleider im Schrank bestätigten es. Die Hose war etwa 1,1 m lang. Das Hemd Größe 42. Der Mann mußte eher groß und gut gebaut sein. Ein leichter männlicher Geruch.

Das schwarz-weiße Foto mußte mehr als zwanzig Jahre alt sein. Der Westsee. Das andere Ufer schien damals so weit weg zu liegen wie die andere Seite einer Bucht, nicht wie heute, so nah wie ein Dorfteich. Der junge Mann und die junge Frau sehen aus wie zwei Studenten. Eine seiner Hände liegt auf ihrer Schulter, wie versuchsweise. Seine Finger waren fest in ihre gedrückt, so daß man sie nicht sehen konnte, als wolle er ihre enge Freundschaft demonstrieren, zugleich schien er sie aus einer gewissen Verlegenheit befreien zu wollen. Das Mädchen schaut schüchtern, als wolle sie eigentlich eine gewissen Distanz zu ihm halten. Offensichtlich waren sie nur Freunde oder vielleicht auch ein Liebespaar. Aber ganz gewiß nicht Mann und Frau.

Das Foto war auf dem Nachttisch liegen geblieben, neben einer Leselampe am Bett. Das Zimmermädchen knipste die Lampe an und die Gesichter der beiden Jugendlichen leuchteten auf. Die junge Frau machte einen lebendigen und natürlichen Eindruck, ihre Wangen hatten niedliche Grübchen. Die Augen schienen feucht, wie von einer vagen Melancholie geprägt.

Neben dem Foto stand ein kleines Medizinfläschchen – die Kapseln darinnen schepperten, wenn man es schüttelte. Der Aufkleber war in einer fremden Sprache verfaßt und das Zimmermädchen konnte nicht erkennen was für eine Medizin das Fläschchen enthielt.

Auf dem Sofa lag eine Touristen-Reisetasche mit dem Notwendigsten für eine Übernachtung. Der Aufkleber einer Fluggesellschaft war um den Handgriff herum geklebt, der einen Strichcode und die Flugdaten enthielt: Ho Chi Minh-Stadt – Hanoi. Das Mädchen nahm die Tasche herunter, um das Sofa zu reinigen. Der Reißverschluß war zugezogen, ganz zugezogen.

***

Die oben genannten Dinge.
Und ein paar kurze Unterhosen, die im Badezimmer zum Trocknen aufgehängt waren.
Und eine medizinische Spritze.
Zwei unangebrochene Ampullen Insulin.

Das Zimmermädchen war erschrocken, als es die Spritze sah. Dann faßte sie sich wieder. Es war kein Heroin. Der Mann war Diabetiker. Und die Spritze sah ganz gut aus, sie war nicht von der Art derjenigen, die überall am Westsee in den Büschen herumlagen, nicht weit weg vom Hotel.

Das Foto war am Lampenfuß umgefallen und lag so, daß das Paar parallel lag, wie in einer peinlichen Position. Sie oben, er unten. Das Mädchen stellte das Foto wieder richtig auf. Als sie erneut in die feuchten und gefühlvollen Augen des jungen Mannes blickte, versuchte sie, sich der Gesichter ihrer früheren Liebhaber zu erinnern. Da war nicht einer, der solche Augen hatte.

Plötzlich fühlte sie erneut einen inneren Schauder. Erinnerte sich. Gestern, bei Einbruch der Dunkelheit, als sie nach Schichtende aus dem Haus ging, war ihr eine junge Frau entgegen gekommen, die ins Hotel ging. Das Gesicht kam ihr ein wenig bekannt vor. Da hatte das Mädchen gedacht, es sei nur irgendein Hotelgast und sie vergaß sie. Jetzt, als sie wieder auf das Foto schaute, erinnerte sie sich, daß die Frau, die sie gestern gesehen hatte auch zwei Grübchen auf ihren Wangen hatte. Es war die Frau auf dem Foto. Gestern war sie also gekommen, um ihren Mann zu sehen.

Im Papierkorb lagen zwei aufgebrochene Insulin-Ampullen. Und drei gebrauchte Kondome. Das Mädchen füllte alles in einen großen Abfallsack und trug ihn weg.

Am Abend war sie zu Überstunden eingeteilt, so konnte sie dableiben und noch einmal in das Gesicht des Mannes auf dem Foto schauen. Und, wenn der Zufall es wollte, würde sie vielleicht die Frau noch einmal sehen; die Frau würde vielleicht noch einmal kommen, um ihren Mann zu treffen. Aber es geschah nichts dergleichen, so mußte sie aufgeben und nach Hause gehen, ohne jemanden gesehen zu haben.

***

Das Foto auf dem Nachttischchen fiel um, man sah nun eine Zahl, die auf die Rückseite mit einem Kugelschreiber geschrieben worden war: 2. Mai 1982.
Zwei aufgebrochene Insulinampullen.
Zwei gebrauchte Kondome.
All das war im Papierkorb.
In einer Ecke des Badezimmers fanden sich Aschenreste, unter ihnen einige zusammengeknüllte und halb verbrannte Papierstückchen.

Das Zimmermädchen wischte die Asche weg. Einige Papierstücke waren nicht restlos verbrannt. Da war ein alter Brief, bedeckt mit einer Mädchenhandschrift, geschrieben mit purpurner Tinte, wie sie in Schulen benutzt wird. Sie konnte die Worte: „verstehen” und „vermisse dich” entziffern. Da waren auch Reste einer Rechnung, auf der einige Zahlen zu sehen waren, die ihr nichts sagten. Das Mädchen warf die nicht verbrannten Papiere in den Papierkorb.

Das Fläschchen mit der Medizin, die Spritze, die zum Trocknen im Bad aufgehängten Unterhosen und einige Kleidungsstücke, die im verspiegelten Kleiderschrank hingen – all das offenbar war schon verschwunden, in die verschlossenen Tasche gepackt worden. Der Gast war wohl gerade dabei, auszuchecken und das Hotel zu verlassen. Vielleicht war er auf dem Rückweg nach Ho Chi Minh-Stadt.

Nachdem es das Zimmer geputzt hatte, schaute das Mädchen erneut den jungen Mann auf dem Foto an. Sie mußte zugeben, daß dieser gutaussehende Mann ihr gefiel. Sie stellte das Foto wieder aufrecht an den Lampenfuß, verschloß das Zimmer und ging.

Mittag, die Stunde des Pferdes. Die Zeit, in der der Wasserkönig denjenigen das Leben nimmt, die sich immer noch im Wasser befinden. Von Westsee her war ein Lärm zu hören. Ein Ruf, jemand ertrinke. Das passierte manchmal. Die Zimmermädchen trauten sich nicht, hinzugehen und nachzusehen; sie streckten nur ihre Köpfe aus den Fenstern. Ein Dach aus dichtem Laub versperrte ihnen die Sicht. Sie riefen einander zu, fragten, wer gestorben sei und ob der Körper mit dem Gesicht nach oben oder nach unten gefunden worden sei.1 Jede hatte eine andere Version der Geschichte. Und über all den lautstarken Fragen und Vermutungen wußte immer noch niemand, ob das Opfer wirklich tot war oder noch lebte. Das einzige, was man wußte, war: es war ein Mann.

Das Herz des Mädchens schlug heftig. Seltsam! Eine Vorahnung. Ein Unfall ganz in der Nähe? Wie durch eine unbekannte Kraft getrieben, rannte sie zu Zimmer 37 und schloß die Tür auf. Die Reisetasche stand immer noch am selben Platz – offenbar waren alle Dinge eingepackt worden. Das Foto fiel von dem Nachttischchen herunter. Sie hob es hastig auf und konnte erst jetzt sehen, daß daneben noch ein Stück Papier lag, direkt neben dem Lampenfuß. Mit der Hand beschrieben, Tinte. Zwei Zeilen.

Niemand hat Schuld.
Ich habe mein Schicksal vollzogen.
Darunter eine Unterschrift.
Darunter der volle Name des Mannes.

***

Die Frau.
Das Zimmermädchen.
Ein Haufen benutzter Kissenbezüge und Bettücher aus den Zimmern.

Am nächsten Tag. Das Zimmermädchen trug die benutzten Kissenbezüge und Bettücher in den vorderen Hof. Als sie sie gerade in die Wäscherei bringen wollte, kam die Frau herein. Sie hatte zwei Grübchen an ihren Wangen. Das Mädchen hatte sie schon oft gesehen auf dem Foto, sie war ihr vertraut. Sie hatte den Rahmen des Fotos verlassen und war zu dieser Frau geworden. Die offenbar nicht wußte, was gestern in Zimmer 37 passiert war.

Das Mädchen bedauerte den Jungen und die Frau auf dem Foto. Sie wollte nicht, daß die Frau von dem Angestellten an der Rezeption erfuhr, was geschehen war. Sie würde sie bitten, mit ihr hinauszugehen, sie würde ihr alles erzählen. Die Geschichte ist zu ende. Aus. Verlaß bitte das Hotel, Tante. Wenn du willst, kannst du woanders nach ihm suchen. Denn sonst wird, wenn du ins Hotel gehst und nach ihm fragst, die Polizei kommen, dich verhören und überall herumschnüffeln.

Ich kenne Sie. Das Mädchen sagte es kurz und bündig.

Wirklich? Danke. Sagte die Frau, als wäre ihr nicht bewußt, was sie sagte. Ihre Augen waren trocken.

Ich kenne Sie, wiederholte das Mädchen, als die Frau außer Sichtweite war. In ihrer Handtasche hatte sie das Foto des ehemaligen Paares. Als sie zum Hotelbesitzer gegangen war, um ihn über den Zettel in Zimmer 37 zu informieren, hatte sie das Foto an sich genommen. Sie wußte nicht, warum.

***

Die Tür zu Zimmer 37 versiegelt.
Eine Frau mit südlichem Akzent.
Drei Taschentücher in der Handtasche.
Der Hotelbesitzer.
Das Zimmermädchen.

An diesem Nachmittag forderte der Hotelbesitzer das Zimmermädchen auf, Zimmer 37 aufzuschließen. Bei ihm war die Frau, die gerade aus Ho Chi Minh-Stadt eingeflogen war. Sie erbrachen das Siegel, öffneten die Tür und übergaben der Frau die Reisetasche. Der Arme, der Arme, wiederholte sie dauernd. Tränen flossen aus ihren Augen. Als sie sie mit ihrem Taschentuch abwischen wollte, merkte sie, daß es bereits durchnäßt war. Sie öffnete ihre Handtasche und wühlte in ihr herum nach einem anderen Taschentuch. Das Mädchen sah mit starrem Blick zu, überrascht, daß die Frau noch ein zweites Taschentuch hatte. Das Siegel wurde entfernt. Die Flecken wurden aufgewischt und alles gereinigt. Und dann war Zimmer 37 fertig für den neuen Gast.

***

Ein Foto.
Ein Medizinfläschchen.
Eine Reisetasche, Marke Samsonite.
Zwei Hemden und zwei Hosen im Kleiderschrank.

Ein halbes Jahr später. Das Zimmermädchen öffnete Zimmer 36 und trat ein. Sie erschrak. Dieselbe Reisetasche, aber ohne den Aufkleber der Fluggesellschaft. Eine der Garnituren im Kleiderschrank war dieselbe – sie erinnerte sich genau an die Größe des Hemds und die Länge der Hose. Die Kapseln in dem Medizinfläschchen schepperten, wenn man es schüttelte. Auf dem Etikett dieselbe unverständliche fremde Sprache, so daß sie nicht erkennen konnte, um was für eine Medizin es sich handelte.

Das Mädchen konnte nicht glauben, was es da sah. Aber das Foto, das neben dem Lampenfuß lag, erlaubte keinen Zweifel. Auf ihm war immer noch das ehemalige Pärchen zu sehen, nur daß nun noch drei andere Jungen dabei waren. Diese drei Freunde preßten mutwillig die Schultern der Frau und des Jungen, die auseinanderstrebten, und zwangen sie so, für das Foto nahe beieinander zu stehen. Es war derselbe Junge mit den feuchten Augen. Und dieselbe junge Frau mit den Grübchen-Wangen.

Ich kenne dich, Onkel, flüsterte das Zimmermädchen dem Manne zu. Als würde er hier im Zimmer vor ihr stehen.

Wie kannst du einen Mann kennen, wenn du sein Gesicht nicht gesehen hast?

Ich kenne dich, ich habe dich oft gesehen.

Der Mann lächelte nur. Vietnamesen lächeln oft, um eine peinliche Situationen zu überwinden.

Heute würde das Zimmermädchen zu einer Lüge greifen und erzählen, daß ihre Familie aufs Land in Ferien gefahren sei und sie nicht habe allein zu Hause bleiben wollen. Sie würde im Hotel darum bitten, Überstunden machen zu dürfen. Und sie würde warten, bis sie den Manne würde sehen können, der letztes Mal in Zimmer 37 war und jetzt in Zimmer 36. Sie würde ihre Schüchternheit überwinden und ihn ansprechen. Ich kenne Sie, würde sie ihm sagen.

***

Der Künstler, der die Installation aufgebaut hatte, würde den Autor daran erinnern, daß er die Spritze und die Diabetes-Medizin vergessen habe. Und daß er nicht mehr daran gedacht habe, daß das Foto doch inzwischen in der Handtasche des Mädchens sei.

Ja, sicher habe ich diese Dinge vergessen und einige andere auch, ebenso wie einige Figuren. Bei der Kunst der Installation verschwinden manchmal Materialien und Elemente, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und der Künstler verschwindet auch.

Dezember 2004. Englische Fassung von Ho Anh Thai und Wayne Karlin. Deutsch von Günter Giesenfeld

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 1/2010

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