Ein Licht brennt noch

Kurzgeschichte von Nguyen Duc Thien

Hue schob ihr Moped durch die Haustür. Niemand war da. Ihre Tochter Hang war noch in der Schule und ihr Mann Phong war sicher noch bei der Arbeit in der kleinen Hütte der Parkwächter. Eine kleine, unscheinbare Frau, in jeder Hinsicht – Auftreten, Schönheit und Gestalt – weit unter dem Niveau von Hue, arbeitete auch dort. „Warum ist Phong so vernarrt in sie?” fragte sie sich.

Ihr Moped fiel fast um, als sie über die Schuhe ihrer Tochter stolperte, die vor der Tür lagen. Trotz des Schrecks gelang es ihr, nach ein paar Sekunden ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und das Bild dieser Frau in ihrem Kopf verschwand.

In den letzten paar Jahren hatte sich diese seltsame Frau ohne Grund in ihre Familienangelegenheiten eingemischt, und diese Situation nervte sie. Hue versuchte, sie sich aus dem Kopf zu schlagen, aber alle ihre diesbezüglichen Bemühungen scheiterten.

Sie ging in die Küche, dort war es eiskalt. Die Kochgeräte lagen aufgeräumt im Geschirrspülständer. Der Gaskocher war relativ sauber. Die Einkaufskörbe lagen sauber aufgestapelt unter dem Regal. Seltsamerweise machte diese Ordnung sie noch reizbarer. „Wie glücklich wäre ich, wenn mein Leben immer so ordentlich gewesen wäre!”, flüsterte sie sich selber zu.

In der Vergangenheit hatten sich ihre häuslichen Talente stets in Form eines großen Chaos gezeigt, auch wenn es sich hier um eine kleine Familienküche handelte, in der die einfachen Mahlzeiten im öffentlichen Dienst stehender Menschen zubereitet wurden. Jetzt aber sah sie aus wie ein Schaufenster mit lauter Markenprodukten. Hue schüttete eine Tasse Reis in den elektrischen Kocher und gab etwas Wasser hinzu. Dann ging sie die Treppe hinauf.

Eine Stunde später aß sie allein zu Abend.

Eigentlich war ihre Rivalin eine einfache Bürokraft ohne eigene Familie oder Verwandte. Sie bewohnte einen Raum im Wärterhaus des Parks. Nicht erst seit heute wußte Hue, daß ihr Mann nachts in dem Haus gesehen worden war, daß er sie also betrog.

Hue hatte diese Frau aufgesucht und mit ihr geredet in der Art, wie sie es als Richterin gewohnt war.

„Ist Ihnen bewußt, daß Sie gegen das Ehe- und Familiengesetz verstoßen?” fragte Hue ihre Gegnerin.

„Ja, aber ich bin immer noch ledig.”

„Aber sicher wissen Sie, daß er verheiratet ist und eine Tochter hat.”

„Ja, das weiß ich. Aber er ist der Missetäter, nicht ich. Aber egal. Als er zum ersten Mal zu mir kam, versuchte ich, ihn zu verjagen, aber er wollte nicht gehen. Was hätte ich da machen sollen?”

„Wollen Sie. daß wir uns scheiden lassen, so daß Sie für immer mit ihm zusammenbleiben können?”

„Nein, nein. Er liebt Sie sehr.”

„Das nennen Sie Liebe?” fragte Hue ärgerlich.

„Ja, ich glaube.” Plötzlich fing die seltsame Frau an zu schluchzen. „Wissen Sie, alle Frauen wollen ihren eigenen Mann für sich. Kann sich ein solcher Traum für mich jemals erfüllen? Offen gesagt, es würde mir wohl kaum gelingen, Ihnen Ihren Mann wegzunehmen. Wenn er neben mir liegt, redet er immer nur über Sie und Ihre Tochter. Ich weiß, daß ich keine Ansprüche stellen darf. Ich sehne mich nur nach einem bißchen Trost von ihm. Das ist alles.”

Plötzlich wurde Hue vom Mitleid mit dieser armen Frau erfaßt. Bei ihrer Arbeit am Gericht erschienen vor ihr viele Leute mit sehr verschiedenen Haltungen: Manche lachten, manche weinten, während wieder andere sich in Zornausbrüche flüchteten. Sie kamen in ihre Sprechstunde, mal der Mann, mal die Frau, manchmal beide gemeinsam mit einem Kind. Sie erzählten ihr alles über ihren jeweiligen Ehepartner, Gutes und Schlechtes, mit kindlicher Ehrlichkeit oder als brutal Betrogene, alle mit der Absicht, ihre Gunst zu erwecken im Gerichtssaal. Das Ziel war stets eine Scheidung in gegenseitigem Einverständnis.

Sie hatte viele Verhandlungen in vielen Fällen geführt. So viele, daß sie sich nicht an jeden einzelnen erinnern konnte. Aber eines war ihr klar geworden: Jedesmal verließ sie den Gerichtssaal wie auf glühenden Kohlen. Es war paradox: Wenn sie einander den Hof machten vor der Hochzeit, liebten sie einander heiß und innig, aber wenn sie dann Kinder bekommen hatten, wurden sie Feinde. Nach dem wortlosen Abschied standen sie beide auf, Tränen in den Augen und sahen ihrem Ex-Partner nach, bis er hinter der Saaltür verschwand. Ober die Ex-Ehefrau brach auf dem Pult zusammen und schrie jämmerlich, als sei ihr ein Unrecht widerfahren. Nach einer solchen Verhandlung fühlte Hue sich vollkommen erschöpft. „Ein bißchen Trost?” Hue hätte ihrer Rivalin am liebsten ins Gesicht gesagt: „Genau dieses bißchen Trost hast du mir weggenommen, als du meine harmonische Familie kaputtgemacht hast, die jetzt zerstört ist.” Aber das brachte sie nicht fertig.

„Mein Leben verlief nicht so gradlinig wie Ihres”, berichtete die Frau. „Da ich keine Bildung genossen habe, kann ich keinen besseren Job finden, um mich zu ernähren. Wissen Sie, ich hatte einen Quasi-Ehemann, zwanzig Jahre älter als ich. Seine Frau war vor langer Zeit gestorben und seine Kinder waren schon erwachsen. Sein jüngster Sohn ist ein paar Jahre älter als ich. Natürlich schauten sie alle auf mich herab. Aber das machte nichts. Trotz alledem blieben wir zusammen, und mit seiner Hilfe habe ich diesen Job hier bekommen. Er war schon in Rente. Ich hatte mit ihm etwa ein Jahr zusammengelebt, dann starb er. Als ich ihn im Grab verschwinden sah, weinte ich eher über mein Schicksal als über seines. ‚Warum ist der Himmel so ungerecht zu mir?’” fragte ich mich. „Mann und Frau sind wie ein paar Eßstäbchen, aber ich mußte allein leben, bis ich Ihren Mann traf. Wissen Sie, wenn man im selben Betrieb arbeitet und jeden Tag Kontakt miteinander hat, kommt es früher oder später zum Sex. Aber eigentlich will ich ihn nicht dazu bringen, Sie zu verlassen. Nein, niemals! Viele Frauen wollen den Mann, den sie verführt haben, nur für sich behalten. Und wieder entsteht Ungerechtigkeit. Ich gehöre nicht zu diesem Typ Frau. Und ich will Ihre Familie nicht auseinanderbringen.”

„Nicht auseinanderbringen! Und wie, glauben Sie, soll das gehen?”

Sie verabschiedeten sich voneinander, denn es gab nichts mehr zu sagen. Hue behielt das Gespräch für sich, denn sie wollte nicht, daß es auf ein tragisches Ende hinauslaufe wie bei so vielen Paaren. „Wie kann ich Hilfe bei der Lösung eines Falls suchen, wie ich sie tagtäglich verhandle?” fragte sie sich.

Nach diesem Treffen versuchte sie, die Missetat ihres Mannes zu ignorieren oder als unwichtig zu betrachten. Währenddessen war ihr Mann zunächst beunruhigt, wurde sich dann aber dessen bewußt, daß sie das Thema seiner Untreue nicht anschneiden wollte, was ihn sehr verwirrte. Schließlich wurde ihr Eheleben täglich ungemütlicher. Manchmal schienen die Sätze, die sie austauschten, aus einem Bühnenstück zu stammen. Beide versuchten, ihr quälendes Beziehungsproblem nicht anzusprechen. Das führte dazu, daß sie sich kaum mehr sahen, außer wenn das Kind dazwischen kam.

***

Plötzlich klopfte es an der Tür.

„Ist da Hilfsrichterin Hue?” rief eine weibliche Stimme von außen.

„Ja, wer ist da?"

„Ich bin Lien.” Hue erkannte sofort die etwas ältere Frau wieder, die an diesem Nachmittag in einem Scheidungsverfahren vor ihr gestanden hatte.

„Ach, Frau Lien, kommen Sie doch herein.”, lud Hue ihren Überraschungsgast ein.

Hue erinnerte sich, daß sie am Nachmittag Lien aufgefordert hatte, einen letzten Blick auf den Scheidungsantrag zu werfen, den ihr Mann schon unterschrieben hatte. Nach einer kurzen Durchsicht hatte Lien mit ihrem Namen unterzeichnet, und das Verfahren war damit abgeschlossen.

„Was ist los, Frau Lien?”

„Frau Richterin, das Verfahren ist vorbei, aber kann ich Ihnen einige Geheimnisse anvertrauen, die ich vor Gericht nicht vorbringen wollte?”

„Gern, ich höre. Macht er Ihnen noch immer Schwierigkeiten?”

„Nein, das ist es nicht. Vielleicht waren Sie überrascht, daß wir uns noch in diesem hohen Alter scheiden lassen wollten.”

„Nein im Gegenteil, Frau Lien. Ich habe mich nur gewundert, daß Ihr Fall so glatt lief: ein Antrag, ein Telefongespräch, und das war es. Ein so schnelles Verfahren habe ich noch nicht erlebt. Gewöhnlich streiten die Paare vor Gericht über Eigentumsverteilung und Sorgerecht.”

„Wir haben unseren Beschluß nach achtzehn Jahren Überlegung gefaßt. Es begann an dem Tag, an dem mich mein Mann verließ.”

„So lange sind sie von ihm im Stich gelassen worden?”

„Offen gesagt, in den achtzehn Jahren Ehe habe ich nur weniger als ein Jahr lang mit ihm zusammengelebt. Alle unsere Schwierigkeiten fingen mit den Kindern an.”

„Aber Sie haben doch nur eine Tochter.”

„Ursprünglich hatten wir drei Kinder.”

„Wirklich?”

„Drei, mit denen, die gestorben sind. Einer im Alter von zwei Jahren, der andere war erst ein Jahr alt.” Mit halb erstickter Stimme und Tränen in den Augen fuhr sie fort: „Beim Verlust eines Verwandten trauert man vielleicht ein paar Jahre, beim Tod des Ehegatten bis zur nächsten Hochzeit, aber wenn ein Kind stirbt, hört die Trauer nie auf. So geht ein vietnamesisches Sprichwort. Glauben Sie, daß es so ist?”

„Aber ...”

„Sie wollen wissen, warum sie starben, nicht wahr?” fragte sie. Und dann erzählte Lien die tragische Geschichte ihrer Ehe vom Anfang bis zum Ende wie folgt:

Meine beiden Söhne starben an derselben Krankheit. Wenige Monate nach ihrer Geburt waren sie ziemlich gesund und gut in Form. Aber dann ging es immer schlechter. Zuerst waren sie nicht mehr in der Lage, sich auf den Bauch zu drehen, dann wurden einige Monate später ihre Gelenke so steif, daß sie sich fast nicht mehr bewegen konnten. Ich hatte den Eindruck, daß sie überhaupt keine Kniescheiben hatten. Dann konnten sie nicht mehr sprechen und nicht mehr lachen. Sie gaben nur gelegentlich ein paar kurze Schreie von sich. Sie schienen uns böse zu sein, daß wir sie unter diesen schlimmen Umständen zur Welt gebracht hatten. Dann wurde ihre Haut hellrot. Die roten Flecken wurden größer und dicker, wie schorfige Baumrinde. Auf der Suche nach einer Behandlung reiste mein Mann überall hin und suchte nach einer Medizin für sie, auch wenn sie sehr teuer sein würde. Dann starb unser Größter in der Saigoner Hautklinik und dann unser jüngster Sohn im Krankenhaus der Provinz. Nach drei Jahren Behandlung in verschiedenen Krankenhäusern waren alle unsere Bemühungen gescheitert. In jener Zeit stellten mir die behandelnden Ärzte viele Fragen, so etwa: ’Kämpfte Ihr Mann im Dschungel?’ Oder ‚War er eine Zeit lang in Saigon?’ und so weiter.

Ich hatte ihn bei einem Freund kennengelernt während seines kurzen Jahresurlaubs. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein Jahr später sahen wir uns wieder, als er einen Monat Urlaub hatte nach der Demobilisierung und Berufung zu einem anderen Dienst. So feierten wir in großer Eile Hochzeit. Zunächst dachte ich, wir würden von nun an für immer ein glückliches Leben führen, aber es kam anders. Die beiden kranken Kinder bedeuteten das Ende unserer ehelichen Beziehung. Als ich meinem Mann erzählte, welche Fragen der Doktor mir gestellt hatte, wurde er wütend.

„Warum stellen sie solche Fragen?”

„Vielleicht weil sie glauben, alle sozialen Übel kämen von daher”, antwortete ich. Er stand plötzlich auf und lief weg, vielleicht aus Selbstwertgefühl. Später wurde mir bewußt, daß unsere Probleme davon herrührten, daß er einen Minderwertigkeitskomplex hatte, daß er nicht in meiner Nähe sein wollte, weil er mich mit seinen Keimen anstecken könnte.

Eines Tages kam er volltrunken nach Hause. Er zeigte mit dem Finger auf mich. „Du dachtest, daß ich an Syphilis oder Tripper leide, nicht wahr? O.k., eines Tages wird eine Frau beweisen können, daß das nicht wahr ist.” sagte er.

„Warum gehst du nicht zum Arzt und läßt dich untersuchen?”, fragte ich ihn.

„Alle diese Mediziner in unserer Zeit sind blind geworden, sage ich!” Dann ging er schwankend aus dem Haus. Kurze Zeit später verließ er mich endgültig mit einer kurzen Nachricht: ‚Unser erbärmliches langweiliges Leben hat mich fertig gemacht. Ich bin nicht mehr ich selber. Wenn ich bleiben würde, würde ich noch weiter verwahrlosen. Ich muß weggehen, an einen weit entfernten Ort, um mich in meinem Leid zu begraben. Du kannst einen besseren Ehemann finden als mich. Ich übernehme die Verantwortung für den Tod unserer Kinder, auch wenn du mich in dieser Sache mißverstanden hast. Nach deiner schweigenden Verdammung bin ich immer weiter abgesunken. Ich habe mich nach anderen Frauen umgesehen, um zu beweisen, daß ich nicht irgendeine dieser Krankheiten habe. Also sorge dich nicht. Wenn sich mein Leben wieder stabilisiert hat, werde ich mich mit dir zusammen um unsere Tochter Hang kümmern.’

Offen gesagt, als ich diesen Brief erhielt, bin ich überall auf die Suche nach ihm gegangen. Als ich in seinem Betrieb nachfragte, sagte man mir, er sei weggegangen, um sich einen neuen Job zu suchen. Vier Jahre später erfuhr ich, daß er wieder geheiratet habe. Da dachte ich daran, ihn zu verklagen. Aber ich bezweifelte, daß ein Gericht ihn mir zurückbringen könnte.

Zu meiner großen Überraschung kam er zur Hochzeitsfeier meiner Tochter Hang in Begleitung einiger Freunde, ohne eingeladen worden zu sein oder sich telefonisch anzumelden.

Wenige Tage nach dieser Hochzeit fragte er mich. „Willst du denn in diesem halb leeren Haus weiter wohnen?”

„Wo sollte ich sonst leben? Einst hast du mir den Rat gegeben, mich bald wieder zu verheiraten. Wie denkst du jetzt darüber?”

„Mein Rat ist derselbe.”

„Wenn das so ist, dann solltest du einen Scheidungsantrag stellen.”

"Ja, Ich erledige das in den nächsten Tagen.”

Wahrscheinlich hatte er zu dieser Zeit schon keine Gefühle mehr für mich.

Hue hatte aufmerksam zugehört und empfand eine große Bewunderung für diese Frau., die ihre Tochter unter solchen widrigen Umständen schwierigen Zeiten allein aufgezogen hatte.

Als er mich zum ersten Mal verließ, gab es ein paar junge Männer, die hinter mir her waren. Aber ich wies sie kalt ab. Das Bild meines Mannes war immer noch geprägt von der Nacht, bevor er zur Front ging. In einem verlassenen Feld lagen wir Seite an Seite. Ich war bedrückt, aber er sagte nur: „Sicher wird es nur noch eine große Offensive geben. Aber vielleicht komme ich nicht lebend zu dir zurück. Versuche, auf dich aufzupassen. Du hast noch ein langes Leben vor dir.

„Sie vermissen ihn immer noch sehr, nicht wahr?” fragte Hue.

Sicher vermisse ich ihn sehr. Inzwischen haben wir mißgebildete Kinder im Fernsehen gesehen, Folgen von Agent Orange, und ich denke jetzt, daß meine beiden Söhne an dieser Krankheit gestorben sind. Ich bedauere es, alle sozialen Übel von Saigon ihm zugeschrieben zu haben. Das konnte er nicht ertragen. Aber er konnte mir auch nicht die Wahrheit sagen.

Hue hörte sich diese Geschichte an und verstand alle die Leiden und Abgründe. Sie erkannte, daß das Leben noch viel schlimmere und kompliziertere Bedrängnisse mit sich bringen konnte als sie gedacht hatte. Das war alles nicht so einfach wie das, was ihr bei Gericht begegnete, wo nur kurze Aussagen gemacht werden konnten. Vor dem Richtertisch mußte dem Gesetz gefolgt werden, beide Parteien hatten sich ihm zu unterwerfen.

Nachdem sie vor Hue ihr Herz ausgeschüttet hatte, stand Lien auf.

„Ich muß gehen. Jetzt, da ich Ihnen meine Lebensumstände dargelegt habe, fühle ich mich besser.” sagte Lien. „Im nächsten Monat werde ich heiraten. Wollen Sie nicht kommen und mein Gast sein? Bitte!”

„Sie werden wieder heiraten?”

„Warum nicht? Für Sie bin ich vielleicht ziemlich alt. Und das stimmt! Aber auch eine alte Frau braucht die Hand eines Mannes in ihren späten Tagen. Es ist wie es ist. Wir sind eben Frauen.”

***

Langsam verschwand Liens Silhouette hinter dem Hibiskusbusch. Allein geblieben, fragte sich Hue: „Wie kann Lien ihre Problem so leicht und einfach lösen, während ich wie auf glühenden Kohlen sitze?” Sie nahm den Hörer ab und sah in ihr Telefonbuch, dann rief sie an. Das Klingeln am anderen Ende war deutlich zu hören, dann hörte sie eine männliche Stimme: „Hallo hallo, wer ist da?”

„Ich bins, die Hilfsrichterin beim Stadtgericht”

„Schönen guten Abend, Frau Hue. Geht es Ihnen gut?”

„Mir geht sehr gut, danke. Heute Nachmittag haben wir den Prozeß zwischen Ihnen und Frau Lien verhandelt.”

„Ach so? Ich danke Ihnen, daß Sie mich von der Präsenzpflicht entbunden haben.”

„Sie sind aber nicht traurig, oder doch?”

„Es steht mir nicht zu, traurig zu sein, gnädige Frau.”

„Ich verstehe. Sie haben wieder geheiratet und haben wieder Kinder. Ich glaube, daß Frau Lien Sie immer noch sehr liebt.”

„Ja ja, das weiß ich. Aber ich kann daran nichts ändern.”

„Warum haben Sie damals ...”

„Ich verstehe, was Sie meinen. Mein Minderwertigkeitsgefühl war so groß, daß ich nicht wieder zu Lien zurückkehren konnte. Ich versuchte, den sozialen Übeln fern zu bleiben, deshalb habe ich geheiratet.”

„Da haben Sie einen großen Fehler gemacht.”

„Sie spielen jetzt auf Agent Orange an, nicht wahr? Tatsächlich haben wir uns damit schon befaßt. Leider ist es jetzt zu spät. Ich habe schon einmal eine Frau gequält, jetzt kann ich nicht noch einer anderen wehtun. Also ...”

„Deshalb haben Sie Lien den Rat gegeben, so bald wie möglich wieder zu heiraten, nicht wahr? Sehen Sie, Frauen leiden sehr unter der feudalen Ideologie und den Sitten und Gebräuchen, die uns von Generation zu Generation vererbt worden sind.”

Am anderen Ende der Leitung gab es keine Antwort. Sie war schon dabei, den Hörer aufzulegen, als eine leise, aufrichtige Stimme erklang:

„Frau Hue, auf jeden Fall muß alles geklärt werden. Ich rannte davon, weil ich dachte, das sei die beste Lösung in jener Situation. Wissen Sie, daß ich da auch vor mir selbst weggelaufen bin? Und dann wollten wir uns nicht scheiden lassen, aus Gründen der Rücksichtnshme.”

„Heute Nachmittag fragte Lien sich, ob Sie sie noch lieben oder nicht. Können Sie diese Frage beantworten?”

„Natürlich kann ich. Lien hat mein Mitgefühl. Mehr noch, ich respektiere ihre tugendhafte Liebe und ihre unbedingte Sorge um unsere Tochter. Einmal hat mich ein Freund gefragt: ‚Siehst du Hang oft in diesen Tagen?’ ‚Nein, nicht oft. Aber ich bezahle immer noch ihre Wohnung und ihre Studiengebühren.’”

„Ist das alles? Und die anderen Dinge, Zuneigung und Sorge?”

Er schwieg.

„In einige Tagen wird Lien heiraten. Wollen Sie bei dem Fest dabei sein?”

„Sicher nicht.”

Hue sah den Teller mit dem kalt gewordenen Essen, sie hatte keinen Hunger mehr. Plötzlich hatte sie den Eindruck, daß ihr Haus sich in einen weiten und stummen Raum verwandelt hatte. Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Dabei dachte sie: „Wie leicht das ist, ihn zu verlieren.” Sie stand auf und lief zu ihrem Moped, im Kopf hatte sie einen Plan, ihn zurückzugewinnen. „Wohin? Arbeitet er noch?”, flüsterte sie sich selbst ins Ohr. Aber sie hatte nicht einmal den Mut, dorthin zu gehen. Sie machte kehrt und ging ins Haus zurück, holte das Telefonbuch. Sie drückte die Tasten des Apparats, hörte es läuten am anderen Ende. Aber niemand nahm ab. Nachdem sie eine Minute gewartet hatte, wählte sie eine andere Nummer.

„Hallo, wer ist da?”

„Hier ist Hue. Sind Sie Chuyen, die Geliebte meines Mannes? Ich möchte mit ihm reden.”

„Tut mir leid, er ist nicht hier.”

„Wirklich?”

„Glauben Sie mir, bitte! Er ist nicht da, ich gebe Ihnen mein Wort. Er ist nie mehr hier gewesen, seit Sie hier waren und wir geredet haben. Das einzige, was mir einfällt, ist, daß er vielleicht in seinem Büro ist.”

„Im Büro?”

„Ja. Er ist dort immer bis spät in die Nacht.”

„Chuyen, kann ich Ihnen eine Frage stellen?”

„Bitte fragen Sie mich nichts mehr. Ich hatte nur ein paar Augenblicke der Freude an jenem Tag, das ist alles. Nichts sonst. Ehrlich gesagt, ich will nicht, daß irgendjemand von uns – weder ich, noch er, noch Sie – in Schwierigkeiten kommt. Und noch etwas: Er fühlt sich Ihnen verbunden und will Sie nicht verlassen.”

„Wirklich?”

„Er hat mir erzählt, daß Sie geprägt worden seien durch Ihren beruflichen Alltag. Er hat Angst vor Ihrem eisigen Lächeln und ihrem kalten Wesen. Haben Sie das gemerkt? Sicher nicht!”

Hue schob ihr Moped aus dem Haus und fuhr zu seinem Büro am Park. Es war ein dreistöckiges Gebäude, umgeben von einem wunderschönen Garten. Sie hielt vor dem Tor an. Hinter den Lampen am Zaun drang nur aus einem einzigen Fenster noch Licht nach draußen.

Quelle: Outlook, Nr. 99, Januar 2012.
Übersetzt von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo nach einer englischen Fassung von Van Minh

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier, 1/2012

zurück zu "Erzählungen"
zurück zu "Inhalt" VNK
Home