Alles ok für ihn?

Kurzgeschichte von Nguyen Ngoc Tu

Andere wählten für ihre Kinder die Namen berühmter Filmstars oder bekannter Sänger, Onkel Doi1 aber nannte seine beiden Töchter Nhu und Y2. Nhu war nun zehn Jahre alt und Y war acht, aber immer noch kritisierten die Leute ihre Namen:

„So ein Blödsinn! Was für hochtrabende Namen!”, bemerkte ein Nachbar.

„Was ist daran verkehrt?”, erwiderte Doi stolz mit einem breiten Lächeln, das seinen Schnurrbart sanft bewegte.

Auf den ersten Blick bemerkte niemand, dass er blind war, denn er wirkte stets ruhig und gelassen. Jeden Tag zog er mit seiner kleinen Familie über den Cu-Markt, überquerte die Nhum-Brücke, um dann den ganzen Tag lang in der näheren Umgebung herumzustreifen. Ihr Arbeitstag begann früh am Morgen und dauerte bis spät in den Abend. Nhu ging voraus, in einer Hand einen Lautsprecher, in der anderen ein Seil, das an der Gitarre ihres Vaters befestigt war, um seine Schritte in die richtige Richtung zu lenken. An ihrer Seite hielt sich die kleine Y, die versuchte, den Passanten Lotterielose zu verkaufen und so ein wenig Geld einzubringen. In zerknitterten Kleidern und mit zerstrubbelten Haaren bahnten sie sich ihren Weg durch die Menge. Doi folgte seinen Töchtern, sang populäre Gassenhauer, die er auf der Gitarre begleitete. Entrückt lächelnd, Blumen im Haar, lief seine Frau hinterher und stimmte ein in seinen Gesang. So schob sich der kleine Trupp langsam auf holprigem Pfad durchs Gedränge und erwarb den kümmerlichen Lebensunterhalt.

In der Gegend gab es drei weitere Musiktrupps, aber Dois Gruppe war sofort, schon beim Eingang zum Markt, erkennbar an seiner unverwechselbaren Stimme, die in Liedern wie „Die Bluse einer guten Ehefrau” oder „Die Tochter der alten Mutter” voll zur Geltung kam. Diese Lieder waren nach den Melodien des Cai-Luong-Theaters3 arrangiert.

Seine sanfte Stimme war deutlich zu vernehmen, wenn er den Mitgliedern seiner Familie Ratschläge gab: „Meine liebe kleine Tochter Y, gehe nicht so weit weg!” Oder: „Liebe Nhu, ein bisschen langsamer bitte, ich bin ganz außer Atem!” Oder: „Liebling, komm näher zu mir!” Oder wenn er sich an Passanten wandte: „Verehrte Damen und Herren, ihr Gewinn-Los befindet sich noch hier in der Lostrommel! Nur zweitausend Dong pro Los, billiger als eine Handvoll Klebereis!” Oder, ganz staatstragend: „Durch den Kauf helfen Sie bei der Eliminierung des Hungers und der Bekämpfung der Armut.”

„Ist er wirklich blind? Wieso ist er so gewandt und kann so gut reden?”, fragte ein Motorradtaxi-Fahrer seine Kumpel. Doi antwortete darauf: „Findest Du? Trotz meiner Blindheit bin ich glücklich. Wieso sollte ich mein Schicksal beklagen?” Er lächelte breit und schob seine Sonnenbrille hoch.

Doi war zufrieden mit seinem Leben. Mit so einer hübschen und verträglichen Frau musste er nach einer gelegentlichen Zechtour keine Vorwürfe fürchten. Mehr noch: Er verfiel keinem Laster, und seine Frau gab nichts auf die Aufmerksamkeiten anderer Männer.

„Jeden Morgen kauft er mir eine Tasse heißen Milchkaffee. Das tut mir gut”, sagte sie tiefbewegt. Darüber hinaus waren ihre beiden kleinen Töchter sehr lieb und brav. Daher war er glücklich mit dem, was er hatte.

An heißen Nachmittagen ließ sich die Familie auf der Veranda des Bach-Hoa-Markts nieder. Nhu lief dann zu einem nahegelegenen beliebten Restaurant und besorgte etwas zu Essen. Hier, im Schatten, aß Doi langsam zu Mittag, während er wachsam den Kopf hin und her drehte, als wolle er das heilige Mahl der Seinen beschützen. Ab und an kommentierte er auch die Tischsitten seiner Frau und seiner Töchter:

„Liebling, iss langsam, sonst verschluckst du dich!”, sagte er zu seiner Frau.

„Nhu, nimm etwas mehr von der Brühe, und schäle für deine Schwester die Knochen aus dem Fleisch!”, wies er seine ältere Tochter an.

Nach dem Essen pflegte er das Haar seiner Töchter zu kämmen.

„Deine Kleinen sehen heute sehr hübsch aus”, bemerkte ein Passant.

„Zum Glück kommen sie nach ihrer Mutter. Wenn sie mir ähnlich wären, würde ich mich mein Leben lang grämen!”, erwiderte er. „Aber im Allgemeinen finden wir ja unsere Kinder immer hübsch und liebenswert, egal wie hässlich und unartig sie auch sein mögen!”

***

Später fand Doi, dass sich die Lotterielose in den umliegenden Straßen und Märkten schlecht verkauften, und entschloss sich, entferntere Gegenden aufzusuchen. Infolgedessen kam die Familie abends später nach Hause. Außerdem wurde er immer heiserer.

Eines Tages wurde er auf ein paar Gläser Reiswein in einen Getränkeladen gebeten, doch er lehnte ab, mit der Begründung, dass das seiner Stimme schaden würde. Als sein Gesundheitszustand sich verschlechterte, bat er Nhu, ihm ein Stärkungsmittel zu besorgen. Dann, als sie gerade an der lokalen Krankenstation vorbeiliefen, konnte Nhu ihn überreden, sich gründlich untersuchen zu lassen.

Nach der Untersuchung machte er seiner Tochter Vorwürfe: „Ich hab dir tausendmal gesagt, dass ich ganz und gar nicht krank bin. 15000 Dong hat uns das gekostet, für nichts!”

Doch er konnte niemandem lange böse sein. Am nächsten Tag kaufte er seinen Töchtern ein paar neue Kleidungsstücke, die er ihnen nach einem Bad fürsorglich anzog.

Tante Lieu, die Eisenwarenhändlerin vom Bach-Hoa-Markt, lobte den Blinden jedesmal, wenn sie ihn sah. Sie war eine kinderlose junge Frau und mochte doch Kinder sehr und strich seinen kleinen Töchtern oft übers Haar.

„Ich mag Dois Kinder sehr, denn sie sind anständig, obwohl sie aus einer armen Familie stammen”, sagte sie eines Tages zu einer anderen Händlerin, während sie Nhus Haare streichelte. Nhu berichtete ihrem Vater diese Geschichte.

„Für wen interessiert sie sich mehr, für dich oder für Y?”, fragte er.

„Ich denke, sie hat uns beide gleich gern”, antwortete Nhu. „Wenn sie uns Süßigkeiten anbietet, teilt sie sie immer in zwei gleiche Teile auf.”

„Ich bin jetzt schon zu alt, um auf Dauer den Lebensunterhalt von euch beiden zu sichern; besser, ich überlasse ihr eine von euch zur Adoption”, sagte er.

Und zu Tante Lieus Überraschung schlug er ihr vor, eine seiner Töchter zur Adoption auszuwählen. Sie entschied sich für Y wegen ihres hübschen, hellen Gesichts.

An jenem Tag, als Y ihr altes Heim verlassen sollte, wies Doi sie an, ihre neuen Kleider anzuziehen. Er ließ sie auf seinem Schoß sitzen und kämmte stundenlang ihr Haar, während sie nicht aufhören wollte zu weinen.

„Welche Farbe möchtest du heute tragen, Schatz?”, fragte er sie. „Eine grüne Bluse, Papa.”

Er rief seine Frau herbei.

„Gib ihr einen dicken Kuss, Liebling. Bald wird sie nicht mehr bei uns sein. Du Arme! Du hast sie geboren, aber wir können sie nicht aufziehen. Sei nicht böse mit mir, Liebling.”

„Nein, ich bin dir ganz und gar nicht böse. Aber Nhu scheint sehr erschüttert.”

„Ich liebe sie doch so sehr”, sagte Nhu heftig schluchzend.

***

Angesichts von Dois Entschlossenheit konnte seine Frau lediglich verzweifelt stöhnen und in Richtung Markt starren, während Nhu unentwegt weiter weinte.

„Dreht sie sich immer noch um nach uns?”, fragte Doi Nhu.

„Ja, immer noch, die Arme!”

Er biss sich auf die Lippen. Als Y verschwunden war, kam ihm die Straße verlassen vor. Als er spät am Abend nach Hause kam, fand er Y vor der Tür sitzen. Wie sollte er es schaffen, sie noch einmal wegzubringen. Er versuchte es und befahl ihr, zu Tante Lieu zurückzukehren, aber sie weigerte sich rundheraus. Als er sie schlug, ertrug sie seine Schläge ohne Klage. Einmal versteckte er sich mit seiner Frau und Nhu an einen anderen Ort, aber Y spürte sie auf. Schließlich, in einer stillen Nacht, sagte er zu ihr, sie solle sich ihm gegenüber hinsetzen. Er tätschelte ihre mageren Schultern und erklärte ihr, sie sei nicht seine leibliche Tochter. Er habe sie in der Gosse nahe der lokalen Krankenstation gefunden und sie mit dem Vorsatz bei sich aufgenommen, nach einer kinderlosen Adoptivfamilie für sie zu suchen.

„Tante Lieu hat mir für diesen Handel zwei Millionen Dong gegeben”, sagte er und zog die angegebene Summe aus seiner Brusttasche. Y starrte wortlos auf das Geld.

Am nächsten Morgen brachte er sie zusammen mit Nhu zu Lieus Wohnung zurück. Auf dem Heimweg fragte er Nhu: „Meine liebe Tochter, schaut sie uns hinterher?”

„Nein, gar nicht, Vater”, antwortete sie.

„Wirklich nicht?”, fragte er mit erstickter Stimme.

***

„Wird es mir eines Tages genauso gehen?”, fragte sich Nhu.

Sie aß immer weniger und zog alte Kleider an, um zu zeigen, dass sie nicht viel Geld kostete. Doi verstand ihre Beweggründe sehr gut. Er umarmte sie seufzend. Mit dem Geld, das ihm Tante Lieu gegeben hatte, brachte er seine Frau ins Krankenhaus

.

„Sie ist schon lange krank”, sagte der diensthabende Arzt zu Doi. „Aber lassen Sie sie eine längere Zeit in Behandlung, wir sehen dann, was wir machen können.”

Doi umarmte seine Frau innig, streichelte sanft ihr Gesicht.

„Versuche hier zu bleiben, bis du wieder gesund bist. Dann werden wir wieder vereint sein und ein glückliches Leben führen”, sagte er zu ihr. „Bisher hatten wir noch nicht so viele Chancen, glücklich zu sein.” Sie lächelte nur schwach.

***

Nun waren sie nur noch zu zweit. Eines Nachts, als er Nhus Bettdecke hochzog aus Sorge, dass sie sich erkälten könnte, fand Doi ihre Augen voller Tränen.

„Was ist los, Schatz?”, frage er sie.

„Jetzt, wo wir nur noch zu zweit sind, solltest du mich nicht wegschicken, Papa”, sagte sie. „Lass mich immer den Weg für dich weisen. Ich werde für dich Medizin besorgen, wenn nötig. Ich will mehr Lotterielose verkaufen, damit wir mehr zum Leben haben.”

„Das ist sehr lieb, dass du mir hilfst. Wie könnte ich ohne deine Unterstützung zurecht kommen?”, antwortete er.

Manchmal kam Doi am Bach-Hoa-Markt vorbei, aber er sang nicht.

Eines Tages sagte er Nhu, dass sie mit dem Verkauf von Lotterielosen aufhören solle: „Schau nach deiner Schwester Y, ob es ihr gut geht, welche Farbe ihre Bluse hat und wie lang ihr Haar gewachsen ist”, trug er ihr auf.

Y berichtete: „Es geht ihr ganz gut, sie hat runde, ziemlich helle Backen. Sie hat eine Frisur wie ein Junge. Leider tut sie so, als ob sie uns nicht kennen würde.”

„Trägt sie eine grüne Bluse?”

„Nein, ich glaube, sie hat schon lange nichts grünes mehr getragen.”

Es traf ihn wie ein Stich ins Herz. „Also hat sie mich vergessen. Sie ist glücklich mit ihrer neuen Mutter. Ich habe sie für immer verloren!” rief er aus.

Als der Sommer vorüber war, wurde er immer heiserer. Deshalb spielte er nur noch Gitarre, während seine Tochter mit schwacher Stimme die alten Lieder an seiner Statt sang. Schließlich beugte er sich seiner Altersschwäche und erklärte: „Es ist jetzt höchste Zeit, mit der Musik­ aufzuhören.”

Bald darauf verkaufte er seine geliebte Gitarre, den krächzenden Lautsprecher und die halbleeren Batterien.

Er schickte Nhu zu einem beliebten Restaurant, wo sie als Bedienung arbeiten sollte. Zunächst sträubte sie sich dagegen, weil sie ihn nicht allein zuhause lassen wollte: „Solange du deine Gitarre hattest, konntest du dich damit aufheitern, wenn du traurig warst. Aber womit willst du dich denn jetzt, wo sie verkauft ist, beschäftigen?” Als sie dann aber beim Abendessen bemerkte, wie wenig sie zu essen hatten, entschloss sie sich, die schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen.

Eines Abends brachte sie eine große Schüssel Suppe für ihn mit. Er war sehr beunruhigt: „Wieso tust du das? Deine Chefin wird es bestimmt nicht dulden, dass du Essen mitnimmst!”

„Doch, Vater! Meine Chefin hat mir aufgetragen, die Suppe mitzunehmen. Sie hat Mitleid mit uns, weißt du.”

„Also gibt es in dieser Welt immer noch gutherzige Menschen”, stellte er fest.

Eines Nachmittags bat er sie, länger als sonst bei ihm zu bleiben. Er kämmte ihr Haar, das ihr nun bis zur Taille reichte. „Wenn du zwanzig bist, ist es vielleicht schon länger, als ich mir vorstellen kann”, sagte er.

„Wenn das eintrifft, wird das Kämmen dich sehr anstrengen.”

„Sicherlich, aber bis dahin haben wir noch lange Zeit. Ich vermisse deine Mutter und Y sehr.”

„Ja Papa, wie fröhlich wir früher doch waren!”, sagte sie.

Da überkamen ihn plötzlich Erinnerungen an seine kleinen Kinder, die mit Gummiringen spielten, während die Familie im Schatten eines großen Baums zu Mittag aß, sich erholte und die frische Luft genoss. Wenn die Kinder genug von ihrem Spiel hatten, kamen sie zu ihm, rissen ihm ein paar weiße Haare aus und legten sie ihm auf die Hand. „Was für scharfe Augen ihr habt!”, rief er aus, als er die extrem dünnen und feinen Haare betrachtete. Dann erinnerte er sich daran, wie seine Frau ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Wie er sich nach diesen vergangenen Nachmittagen sehnte!

„Geh morgen zum Bach-Hoa-Markt und bitte Tante Lieu, Y einen kurzen Besuch bei uns zu erlauben. Ich vermisse sie sehr”, trug er Nhu auf.

Aber Y lebte schon lange nicht mehr bei Tante Lieu. „Sie ist schon lange weg, mein liebes Kind”, sagte sie zu Nhu. Zunächst glaubte Nhu, die Händlerin versuche, Y irgendwo im Markt zu verstecken. „Tante, bitte lass sie für ein paar Stunden meinen armen Vater besuchen. Ich verspreche dir, es wird das einzige Mal sein”, bat Nhu sie. Aber Tante Lieu konnte nur Nhus Hände drücken, die Augen voller Tränen.

So hatte Y ihr Heim verlassen, um irgendwo ein unstetes Leben zu führen. Sie musste geglaubt haben, dass ihr Vater sie nicht mehr liebe, weil er nicht mehr mit ihrer älteren Schwester zum Markt kam. Welchen Sinn sollte es dann haben, noch länger dort zu bleiben und verzweifelt zu warten?

Nhu wusste nicht, wie sie das ihrem Vater erklären sollte. Als sie nach Hause kam, blieb sie zögernd an der Stelle stehen, wo ihre Mutter sich zu erholen und zu singen pflegte. „Unsere Liebe ist unser Schicksal – ich werde ewig auf dich warten.” Aber plötzlich hörte sie diese Worte des bekannten alten Liedes wirklich. Da riss sie die Tür weit auf und trat ein. Zu ihrer Überraschung stand ihre Mutter da und gab ihr ein Zeichen, leise zu sein. „Still, Liebes. Er ist sehr müde. Am besten gehst du auch schlafen,” flüsterte sie ihr zu.

Nhu stürzte auf ihre Mutter zu und umarmte sie. Dann sah sie ihren Vater auf dem Boden liegen. „Sicherlich tut er nur so, als ob er schläft”, sagte sie sich. Eine ganze Weile versuchte sie, ihn zu necken, indem sie ihn mit dem Finger in die Rippen pikste, aber er blieb regungslos liegen.

„Ist das wirklich alles ok für ihn?”, fragte sie sich leise.

Anmerkungen:
1 Doi bedeutet Leben
2 Nhu Y bedeutet etwa: Zufriedenheit
3 Wörtl.: reformiertes Theater. Entstanden in den 1920er Jahre aus dem mit Gesten begleiteten Vortrag von populären Liedern. Später wurden daraus richtige Theaterstücke, in denen bis heute die Lieder eine wichtige Rolle spielen.

Quelle: VNS 07.12.2014
übersetzt von Marianne Ngo
nach der englischen Fassung von Van Minh

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2014

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