Das Mädchen Nhan
und die Männer.


Eine Erzählung
von Chau Hong Thuy

Die Behörden hatten angeordnet, dass der Hammer-und-Sichel-Markt geschlossen und binnen 24 Stunden geräumt werden müsse.

Die Nachricht kam aus heiterem Himmel und die gesamte Belegschaft war schockiert, die Aufregung war groß. Wie sollten sie ihre Waren in einer so kurzen Zeit wegschaffen? Und was noch schlimmer war, wo sollten sie unterkommen? Es wurden Vorwürfe laut gegen das Management:

„Ihr Schwindler! Ihr habt gewusst, dass der Vertrag mit den lokalen Behörden auslief, aber ihr habt uns nichts gesagt, weil ihr noch die Miete für den letzten Monat kassieren wolltet!“

„Bitte versteht uns. Wir hatten gedacht, man könne noch darüber verhandeln, den Vertrag verlängern, aber ...“ Der Vorsitzende der Marktleitung versuchte, zu erklären, sein Gesicht war totenbleich.

Von Panik erfasst nahm Nhan ihr Baby in den Arm, es schrie. Sein ganzer Körper zitterte. Sie wusste nicht, was tun. Sie müsste zu einem öffentlichen Telefon auf der Terrasse laufen und irgend jemanden anrufen, um Hilfe zu bitten, aber dazu fehlte ihr die Kraft. Ihre Nachbarn hatten ihre eigenen Familien oder Liebhaber. Sie konnten einander helfen beim Packen der Waren und Räumen. Nhan hatte niemanden. Sie war unverheiratet, hatte nur das kränkelnde Baby von sechs Monaten, das immer lauter in ihren Armen schrie und strampelte. Der ganze, fünf Stockwerke hohe Markt, mit hunderten von Zimmern und tausenden von Menschen, die hier lebten, war bis ans Dach gefüllt mit Waren. Das Baby war hier geboren worden, so hatte es nach der Geburt unter Sauerstoffmangel gelitten und war nicht gesund.

Nhan hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Und in dieser ganzen panikartigen Atmosphäre kümmerte sich jeder nur um sich selbst. Niemand dachte daran, dass es auf dieser Welt eine Frau gab mit Namen Nhan. Dann beruhigte sie sich ein wenig. Sie nahm das Baby und ging raus, um einige Bekannte anzurufen. Die Terrasse war voller Leute, die ihre Waren in Sicherheit brachten. Ständig wurde sie angerempelt. Und es war so laut, dass sie in den Telefonhörer brüllen musste.

Bekannte, die auf dem Salute 1-Markt ihre Stände hatten, kamen ihr dann doch zu Hilfe. Als sie sie sahen, wie sie da stand und weinte, brachen sie in Lachen aus.

„Wir hatten gedacht, du hättest Wagenladungen von Sachen, aber nun sehen wir nur einige Beutel mit Jacken. Da reicht ein Auto. Mach dir keine Sorgen. Nimm deine Kleider und die deines Babys und pack sie zusammen. Wir kümmern uns um die Waren und bringen sie runter.“

Nhan verließ die Markthalle als letzte. Auf dem Weg die Treppe hinunter konnte sie das ganze Gewimmel der Evakuierung sehen. Die meisten Leute konnten nur ihre wertvollsten Sachen mitnehmen: Elektrische Kochplatten, Töpfe und Pfannen überall. Aus der Umgebung kamen Leute hergerannt, freudestrahlend plünderten sie, was liegen geblieben war.

Die Bekannten waren zwar gekommen, um ihr zu helfen, aber Nhan fühlte sich immer noch elend. Hoa, eine Freundin aus der Zeit, als sie noch zusammen in einer Fabrik in Jegorepsk arbeiteten – lange war es her – bot ihr eine vorläufige Unterkunft bei sich an. Das Zimmer war nur 15 qm groß. Kein Radio. Kein Moskitonetz. Denn in Russland gibt es keine Moskitos. In der Nacht schlief Hoa auf der einen Seite des Zimmers mit ihrem Freund. Gegenüber in einem Gastbett lag Nhan mit dem Baby, das immer noch schrie, aber sie wagte nicht, ihr ein Schlaflied zu singen. Mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt, lag sie da und weinte lautlos.

Hoa war eine unbeschwerte Frau, etwa dreißig Jahre alt. Obwohl sie verheiratet war und in ihrem Heimatland ein Kind hatte, war sie hier in Russland mit einem Liebhaber zusammen. Sie sagte:

„Mein Mann hat herausgefunden, dass ich hier einen Liebhaber habe und drohte mit der Scheidung. Bei einem Besuch zu Hause stopfte ich ihm kürzlich das Maul mit einigen Hundert-Dollarnoten und kaufte ihm ein Moped. Da hörte er auf, mir Schwierigkeiten zu machen. Er hatte in seinem Leben noch nie eine Dollarnote gesehen und besaß nur ein klappriges Fahrrad. Mein Liebhaber hier, Dao, ist erst zwanzig, aber er will mich unbedingt heiraten. Meinst du nicht auch, dass er ein Trottel ist? Ich bin nicht so verrückt, einen solchen Grünschnabel zu heiraten. Aber er ist stark, er kann mir helfen, die Waren zu schleppen. Wenn ich hunderttausend Dollar verdient habe, werde ich hier aufhören.“

Nhan war anders. Sie war unverheiratet. Als sie in der Fabrik von Jegorepsk arbeitete, liebte sie So. Die Leute dachten, die ist doch glücklich, denn in der Fabrik arbeiteten hunderte von Frauen, und die meisten hatten keinen Mann. Der Zugang zur Wohnsiedlung, in der sie lebte, war für Männer verboten. Wenn ein Mann da hinkommen wollte, musste er ein Visum beantragen, auch wenn es nur für einige Tage war. Nhan war ein hübsches Mädchen, und sie war glücklich, dass sie jemand hatte, der sie liebte.

Ihr Liebhaber So arbeitete in der Lastwagenfabrik Zil in Moskau. Dann gab er seine Arbeit dort auf und machte sich selbständig. Die Geschäfte liefen nicht gut. In den 1980er und 1990er Jahren wurden diejenigen, die ihre Arbeit aufgaben, schief angesehen und mussten hier oder da herumlungern. Nhan hatte Mitleid mit ihm und lud ihn ein, zu ihr zu ziehen. Die Fabrik verhinderte, dass Männer in der Siedlung wohnten, aber So kletterte mit einem Seil bis zum zweiten Stock. Viele Mädchen in dem Wohnblock hatten ebenfalls auf diese Weise Gäste bei sich. Man konnte eben diese jungen Mädchen nicht davon abhalten, die Liebe zu genießen.

So lebte also illegal bei Nhan, deshalb musste er sich immer im Zimmer aufhalten. Nhan musste ihn aushalten und für ihn sorgen. So redete ihr zu, mit ihm nach Moskau zu gehen, in der Hauptstadt würde man besser leben können. In dieser kleinen Stadt würde das nie etwas werden. Eines Tages kam die Polizei und machte eine Razzia in dem Gebäude, aber So konnte entkommen.

Der Arbeitsvertrag von Nhan lief bald aus. An die Arbeiter wurden Flugtickets verteilt, damit sollten sie in ihre Heimat zurückkehren. Nhan warf das Ticket weg und folgte So nach Moskau. Mit von Freunden geliehenem Geld mieteten sie ein Zimmer in der neu eröffneten Markthalle Hammer und Sichel. Sie bauten ein kleines Geschäft auf: An- und Verkauf. In diesem kleinen Zimmer wurde das Baby geboren.

Ihr Geschäftskapital belief sich bald auf einige Dutzend Hundert Dollar-Noten. So fuhr nach Vietnam, um seinen Eltern mitzuteilen, dass er heiraten wolle. Außerdem wollte er Jacken mit nach Russland zurückbringen, um sie hier zu verkaufen. Er nahm das ganze Geld mit, das sie inzwischen verdient hatten. So war zwei Wochen weg, als der Hammer und Sichel-Markt geschlossen wurde.

Dann erfuhr sie, dass So in Vietnam geheiratet hatte und nicht mehr zurückkehren würde. Sie stand noch unter dem Schock dieser Nachricht, als bekannt wurde, dass der Markt geschlossen werden sollte. Sie weinte nicht, aber platzte heraus: „Was für ein Schurke!“

Es war nicht gut, dass sie auf Kosten ihrer Freundin lebte, es gehörte sich nicht. Obwohl diese sehr nett zu ihr war. Nhan durchstreifte die fünfstöckige Salut-Markthalle auf der Suche nach leeren Bierdosen und Flaschen. Mit dem Baby auf dem Rücken schob sie eine Karre vor sich her voller Leergut, das sie in einem nahe gelegenen Laden verkaufte. Hoa lieh ihr ein wenig Geld. Nhan nutzte es, um Bier und Zigaretten zu kaufen und sie an ein paar Textilläden zu verkaufen. An einem Kasten Bier oder einer Stange Zigaretten verdiente sie drei Rubel. Hoa sagte zu Nhan, sie solle das Geld für das Leergut und für das Bier und die Zigaretten behalten, als ein Startkapital, und sie werde weiterhin für ihr Essen aufkommen.

Nhan entwickelte einen starken Hass auf die Männer. Wenn ein Mann sie anzumachen versuchte, rollte sie mit den Augen und schaute ihn voller Verachtung an. Aber obwohl sie die Männer hasste, sehnte sie sich, wenn es Abend wurde, nach Liebe. In der Nacht hörte sie knarrende Geräusche vom anderen Bett. Hoa stöhnte leise, während Dai sie mit der heftigen Leidenschaft seiner zwanzig Jahre liebte.

„Bitte halt dich zurück, sonst wecken wir noch Nhan auf“, sagte Hoa mit leiser Stimme.

„Kümmere dich nicht um sie. Es ist unsere Wohnung, nicht ihre, also reg dich nicht auf“, sagte Dai und kicherte ins vorgehaltene Leintuch.

Nhan biss sich derweil die Finger blau und grün, um die Beherrschung nicht zu verlieren.

Hoa hatte ein Flugticket gekauft. „Ich muss nach Hause fahren. Mein Mann droht damit, das Haus zu verkaufen. Für das Haus haben wir all das Geld ausgegeben, aber es ist unter seinem Namen eingetragen. Deshalb muss ich jetzt schnell hinfahren, wenn ich nicht ohne Mittel dastehen will.“

„Wo soll ich denn wohnen, wenn du weg bist“, fragte Nhan mit weinerlicher Stimme.

„Ich hinterlasse dir Dai“, sagte Hoa mit ehrlicher Miene. „Ihr habt ja den Laden. Er ist stark und kann hart arbeiten, du kannst dich auf ihn verlassen. Wenn du dann genug verdient hast, kannst du nach Hause gehen und dir ein Haus bauen.“

„Nein, das geht nicht. Das kann ich nicht machen“, sagte Nhan. „Er ist dein Liebhaber. Und ich habe solche Angst vor Männern, das weißt du doch!“

„Er ist nur mein Liebhaber, nicht mein Mann. Und du solltest keine Angst vor Männern haben“, sagte Hoa und lachte. „Du kannst ihn doch leicht an die Leine nehmen, du weißt doch, wie. Und wenn dir Dai nicht gefällt, dann such dir einen andern, der für dich sorgen kann. Du bist schön und die Kerle haben dir immer nachgeschaut. Lock sie in deine Falle! Pass nur auf, dass du nicht schwanger wirst.“

Nhan stammte aus einer gebildeten Familie. Sie hatte in ihrem Leben einen Fehler gemacht und traute sich jetzt nicht mehr zurück nach Hause. Sie hatte nicht den Mut, ihren Eltern den Anblick einer Tochter mit einem vaterlosen Kind zuzumuten.

In der ersten Nacht nach der Abreise von Hoa kam Dai an ihr Bett. Nhan wachte sofort auf, von Furcht erfasst.

„Hab keine Angst. Wieso willst du allein in diesem Bett bleiben? Tu dich mit mir zuammen und du wirst genug Geld haben, dein Baby aufzuziehen. Du kannst mir im Geschäft helfen und wir teilen uns den Gewinn.“

„Nein, ich kann nicht! Ihr Männer ...“, sagte Nhan mit zitternder Stimme ihr Baby an sich gepresst.

„Na gut, wie du willst“, seufzte Dai. „Ich kann nicht leben ohne Frauen. Ich werde eine andere Frau finden, damit musst du rechnen. Und ich weiß nicht, ob sie damit einverstanden sein wird, dass du mit hier im Zimmer wohnst.“

In den Nächten danach legte sie ihr Kind so neben sich ins Bett, dass es wie ein Schutzschild war. Manchmal wachte sie plötzlich auf und drückte das Kind fest an sich vor Angst, dass es aus dem Bett fallen könnte. Sie konnte nirgendwo hingehen. Es gab niemanden, der ihr helfen könnte, sie bei sich wohnen zu lassen, wie Hoa es getan hatte. Dai hatte zwar noch keine andere Frau gefunden, mit der er schlafen konnte, aber er hatte sie auch noch nicht weggeschickt. Sein Russisch war noch sehr schlecht, deshalb brauchte er Nhan, um seine Geschäftsverhandlungen zu führen. Außerdem war sie schön und nett, sie konnte mehr Kunden anziehen und mit ihnen umgehen.

Irgend wann, am Ende eines Tages, passierte das Unvermeidliche.

Der Fötus wuchs und wurde immer größer in ihrem Bauch. Dai wollte, dass sie ins Krankenhaus gehe, um eine Abtreibung machen zu lassen. Nhan hatte Angst. Sie wollte das Kind behalten, weil sie glaubte, das würde Dai besser an sie binden.

Auch der Salute 1-Markt wurde aufgelöst. Dai und Nhan verschlug es zum Xokol-Markt. Nhans Niederkunft rückte immer näher. Dai verließ sie, ohne ein Wort zu hinterlassen. Morgens wachte sie auf, und niemand war mehr da.

Es war Mitternacht. Ein Mann kam und klopfte an die Tür der Leitung des Xokol-Markts.

„Herr Tuyen! Meine Frau liegt in den Wehen. Bitte rufen Sie im Krankenhaus an, damit sie einen Wagen schicken. Bitte, helfen Sie mir!“

Nhan, das Baby im Arm, weinte, Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie fragte sich, ob denn ihr erstes Kind gut versorgt würde. Ihre Nachbarn hatten ihr nie geholfen bei der Betreuung des Kindes. Es war ein neuer Markt und die Leute waren von überall her gekommen, sie kannte noch niemanden hier näher. Es wäre gut, wenn sie ihr helfen würden, dachte sie. Morgen war überdies der Termin für die Bezahlung der Miete. Und ihre Taschen waren leer …

Als Tuyen später den Mann wiedersah, der an seine Tür geklopft und um Hilfe gebeten hatte, fragte er ihn:

„Und? Hat Ihre Frau einen Jungen oder ein Mädchen zur Welt gebracht?“

Thien gab ihm die Hand und sagte:

„Sie ist nicht meine Frau. Ich fand sie, als sie mitten in den Wehen war. Sie lebt allein und hat niemand, der sich um sie kümmert. Also habe ich sie als meine Frau ausgegeben, damit Sie mir helfen, denn auch ich bin allein, wissen Sie!“

Quelle: Outlook Februar 2013.
Übersetzung: Günter Giesenfeld.
Englischer Titel: „The Tale of Lady Nhan“

Der Autor Chau Hong Thuy studierte nach einigen schriftstellerischen Anfangserfolgen mit einem Stipendium am Maxim Gorki Literatur-Institut in Moskau. Danach beschloss er, in Russland zu bleiben und wurde zu einem bekannten Schriftsteller sowohl in Russland, als auch in Vietnam. Er gründete 2005 eine russisch-vietnamesische Literatur- und Kunstgruppe und versteht sich als eine Brücke zwischen der russischen und vietnamesischen Literatur. Er organisiert Leseveranstaltungen, Kunstausstellungen und Treffen zwischen Schriftstellern beider Länder.

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier, 1/2013

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