Ein Rad zuviel

Eine Kurzgeschichte von Van Thanh Le

Das Lagerfeuer erlosch, auch war kein Feuerholz mehr da. Einzelne Funken wurden noch vom Wind aufgewirbelt. Süßkartoffeln, Maniok und Kartoffeln, die man ins Feuer gelegt hatte, waren von den Schülern der Oberschule herausgepickt worden, ohne dass es jemand bemerkt hatte. Und was noch im Feuer verblieben war, würde längst verkohlt sein. Einige der Kinder waren träge geworden und kehrten zum Zeltlager zurück.

Abgelenkt von der festlichen Stimmung hatte sie nicht bemerkt, wie müde sie inzwischen war. Sie fühlte, wie ihr Körper gegen ihr Bewusstsein ankämpfte, das sie wach halten wollte. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Sie hörte die Stimme des Wachmannes:

„Kommen Sie sofort zu Klasse 12A1! Eine Ihrer Schülerinnen ist vom Dach des Gebäudes gesprungen. Sie ist vielleicht tot!”

Sie hatte große Angst. Sie erinnerte sich an das Jahr, in dem sie an die Schule gekommen war. Auch damals war ein Lagerfeuer organisiert worden. Am Morgen, als sie die Namen aufriefen, fehlte eine Schülerin. Sie suchten eine ziemlich lange Zeit nach ihr, bis sie sie schließlich in einem Gebüsch fanden. Danach hatte die Schulleitung die Regeln für Lagerfeuer-Ausflüge verschärft, und danach war man überzeugt, dass alles sicher und gefahrlos war. Niemand vermutete, dass so etwas noch einmal passieren würde. Sie war sehr beunruhigt.

Als sie an dem Ort ankam, erzählte ihr der Wachmann, dass man die Schülerin noch rechtzeitig in das Krankenzimmer gebracht habe. Es war Nguyen, die Klassensprecherin. Sie hatte diesem Mädchen immer vertraut. Wie konnte sie so etwas tun? Was dachte sie sich dabei?” Sie ging zu dem Bett, in dem das Kind lag.

„Wie geht es dir? – Dankeschön”, sagte sie zum dem Wachmann.

„Danke, es ist nichts, Frau Lehrerin. Ich habe mir den Fuß verstaucht. Ich werde ihn einölen, dann wird es heilen.”

„Aber warum bist du denn heruntergesprungen?”

Der Wachmann war gegangen, so konnte sie unbefangen mit ihrer Schülerin reden.

„Weil er mich nicht mehr liebt.”

Oh je, das war der Kerl, der vorhin nicht weit weg von ihr gestanden und nur leise „Hallo” zu ihr gesagt hatte, aber sie hatte nicht auf ihn geachtet.

„Wie dumm du bist! Für eine junge Liebe stirbt man nicht, es ist ein sinnloser Tod. Weißt du denn überhaupt, was Liebe ist? Warum wolltest du sterben?”

„Ich bin nicht so dumm wie Sie denken. Ich wollte ihn nur unter Druck setzen, damit er mich akzeptierte. Aber zu meiner Überraschung war er stur. Was war das doch für ein überheblicher Kerl! Da sprang ich. Sie wissen doch, ich habe Vovinam1 gemacht, drei Jahre lang. Ich würde mich am Zweig eines Flammenblütenbaums festhalten und sanft zu Boden kommen, ganz einfach. Aber im Schulhof war das Licht so trübe, ich konnte nichts sehen. Glücklicherweise fiel ich in einen Haufen aufgeschütteter weicher Erde.”

„Ich habe in der Tat heute morgen einige Arbeiter gesehen, wie sie chemischen Dünger in die Erde mischten. Es scheint, dass Deine Liebe jetzt im Dünger begraben liegt. Jetzt kannst du dich wieder dem Lernen widmen. Dann gehst du auf die Uni, und inzwischen bringe ich dir bei, wie man einen Jungen herumkriegt.”, sagte sie und berührte mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger die Stirn ihrer Schülerin.

***

Seit drei Jahren arbeitete sie jetzt an dieser Schule. Sie wunderte sich, warum die Klasse, die ihr anvertraut war, sie jedes Jahr mit etwas neuem beunruhigte, mit dem sie fertig werden musste. Und noch seltsamer war, das alle diese Fälle wie aus heiterem Himmel passierten. In ihrem ersten Jahr, als das erste Trimester gerade zu Ende war, war eine ihrer Schülerinnen von der Schule weggelaufen, um zu heiraten. Als sie mit der Familie telefonierte, erfuhr sie, dass das Mädchen zwei Tage lang nicht nach Hause gekommen war. Das war höchst ärgerlich. Sie hatte es in der Schule nicht gleich gemeldet. Sie telefonierte überall herum, aber konnte nichts erfahren. Sieben Tage später kam heraus, dass ihre Schülerin nach Ha Tien in das Haus ihres Freundes gegangen war. Dann hatte sie aus Angst vor ihrem Vater beschlossen, nach Hause zurückzukehren, aber trotzdem auf der Heirat zu bestehen. Die Eltern baten die Lehrerin um Hilfe. Sie besuchte die Familie. Dort herrschten jämmerliche Zustände. In dem Haus gab es fast gar nichts. Wildes Gras wuchs überall aus den Ritzen. Die Eltern arbeiteten, als wären sie Tagelöhner, um ihre Familie durchzubringen und die Tochter auf der Schule zu halten. Der Vater begrüßte sie kurz und ging dann zur Arbeit. Sie blieb zurück und sprach mit Mutter und Tochter. Sie erklärte ihrer Schülerin alles genau. Sie sagte, das Mädchen sei noch nicht alt genug um zu heiraten, jedenfalls nach dem Gesetz, denn sie war noch nicht 18. Außerdem wäre ihr Freund nicht in der Lage, sie zu ernähren, denn er arbeite nur stundenweise für einen sehr kärglichen Lohn. Sie redete und redete, versuchte das Mädchen zu überzeugen, dass sie weiter in die Schule gehen solle. Und doch wurde ihr eine Woche später berichtet, dass ihre Schülerin irgendwie doch geheiratet hatte.

In ihrem dritten Jahr als Lehrerin erfuhr sie, als das zweite Trimester noch nicht vorbei war, dass einer ihrer Schüler verhaftet worden war, weil er in einen Goldraub verwickelt war. Sie und die ganze Klasse waren verblüfft über diese Nachricht. Normalerweise war dieser Schüler mit Eifer beim Lernen. Er war sehr gut im Breakdance und jetzt war er in einem Erziehungslager, das machte sie sehr traurig.

***

Als sie in die Schule zurückkehrte, traf sie den stellvertretenden Leiter, der sie fragte:

„Gab es da einen Selbstmord in Ihrer Klasse gestern abend?”

„Ja, aber es ist alles wieder in Ordnung. Nichts als ein Missverständnis. Ich habe alles schon geregelt. Man sollte diesen Fall lieber nicht in die Lehrerkonferenz bringen, denke ich, es würde Verwirrung stiften.”

„Aber sie müssen auch an Ihren Ruf denken. Viele Leute sagen, dass zwischen Ihnen und den Schülern, ja dass es da keinen Unterschied mehr gäbe”, sagte der Vize.

Sie war verwundert, dass man so über sie und ihre Schüler sprach. Sie dachte daran, dass diese Schülerin im Unterricht immer sehr aufmerksam war. Nichts schien auf etwas anderes hinzuweisen. Normalerweise schieben die Leute ihre Fehler auf andere und schauen dabei nicht auf sich selbst, dachte sie. Die meisten ihrer Kollegen wollten, dass ihre Schüler Angst vor ihnen hatten. Wenn es da einige wilde Kerle gab, so wurden sie allgemein als Feinde der Lehrer eingestuft. Tatsächlich hatten sie Angst vor ihren Lehrern, aber sie respektierten sie nicht. Manche Lehrer beleidigten ihre Schüler sogar. Sie würde so etwas nie tun. Sie wollte für ihre Schüler eine Freundin sein. Und manchmal waren sie in ihrem Unterricht auch richtig glücklich. Manchmal erscholl in ihrem Stunden sogar ein lautes Lachen. Dies konnte doch dazu beitragen, dass man einander näher kam und besser verstand. Es konnte sogar dazu führen, dass der Abstand zwischen Lehrer und Schülern verschwand. War es diese ihre Haltung, die dazu führte, dass ihre Schüler nie Angst vor ihr empfanden? Im Gegenteil, sie hatten Respekt vor ihr und mochten sie.

***

Sie wohnte in einem Stadtteil nahe der Schule. Ihre Wohnung umfasste fünf kleine Räume, aneinandergereiht, mit einer Einbauküche und einem Waschraum. Sie lag 2 km von der Schule entfernt, dazwischen gab es einige Restaurants und Läden.

In der Wohnanlage lebten nur junge, unverheiratete Lehrer. Als sie am ersten Tag hierher kam, gab es eine Begrüßungsparty für sie. Als alle schon ein wenig beschwipst waren, wurde sie Zeugin einer schrecklichen Szene. Eine Schülerin kam ans Eingangstor, um ihren Sportlehrer zu treffen. Der Lehrer wollte sie nicht empfangen, sagte, sie solle am nächsten Tag kommen. Nach einem Augenblick klingelte sein Telefon erneut und er ging weg, um das Gespräch anzunehmen. Die Schülerin blieb stehen und wartete auf ihn. Widerwillig kam er zum Tor zurück. Sofort als er angekommen war, fing das Mädchen an, ihn zu küssen. Der Lehrer konnte es nicht verhindern. Es geschah zu plötzlich. Es schien, als hätten die Sportlehrer, was das angeht, einen Vorteil dank ihrer körperlichen Verfassung. Andererseits kommen alle Studenten, die das Lehramt anstreben, aus bäuerlichen Milieus. Mit anderen Worten, aus armen Familien. So wählten sie das Lehrerstudium, denn dafür gab es Stipendien.

Die Zahl der Mieter in der Wohnanlage schwankte ständig. Wenn es dort viele Lehrerinnen gab, dann kamen die jungen Männer herbei und mieteten sich ein in der Hoffnung, eine Frau zu finden. Wenn dies nicht gelang, gingen sie wieder weg ohne ein Wort. Seit sie hier wohnte, hatte es noch keinen Fall gegeben, in dem diese Partnersuche erfolgreich war. So ging es immer weiter, immer weiter.

***

In diesem Jahr kam ein neuer Direktor an die Schule. Überall kochten die Gerüchte über ihn. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie ihren Dienst aufnahm. Der alte Direktor sagte zu ihr mit herzlicher Stimme und nachdem er ihren Lebenslauf gelesen hatte:

„Haben Sie irgendwelche Vorlieben für Literatur, Kunst oder Sport?”

Der Direktor war sehr direkt und freundlich mit allen Lehrern der Schule. Er hatte große Anstrengungen unternommen, um ihnen das Leben zu erleichtern. Zwei Jahre lang hatte sie die warme Atmosphäre genossen, die er um sich verbreitete. Aber zu Beginn des dritten Jahres hatte der Direktor seine zwei Amtszeiten beendet und wurde an eine andere Schule versetzt. Der neue Leiter, Cau, war bekannt dafür, dass er auf Erfolge aus war. Wo immer er hin ging, es ge­schah stets mit Trompetenschall. Schnell, änderte er die Slogans, und hängte Fahnen mit den neuen überall in der Schule auf, vom Direktor-Dienstzimmer bis zu den Toiletten. Die ganze Lehrerschaft war höchst erstaunt.

Am ersten Tag, als er in der Schule auftauchte, machte er einen Rundgang durch alle Gebäude und das Grundstück. Einige Tage später erschienen Gärtner der Stadtverwaltung, um alte Bäume auszugraben und neue zu pflanzen. Er sagte, die Schule solle ganz neu geplant werden nach den Prinzipien von Feng Shui2, dafür seien noch mehr neue Bäume nötig. Er beauftragte die Hausangestellten auch damit, eine Reihe alter Papierkörbe zu erneuern und überall Poster aufzuhängen, die zum Schutz der Umwelt im Schulhof aufriefen.

So erhielt die Schule ein ganz neues Gesicht. Aber die Verwalter und Kassenwarte waren in großen Schwierigkeiten angesichts der vielen Rechnungen, die jetzt ankamen. Dies hatte sich bald in der ganzen Schule herumgesprochen und die Lehrer untersuchten den Fall.

Die Vorbereitungen auf das große Schulfest nach den Abschlussprüfungen liefen bei allgemeiner Begeisterung, es würde ein großer Karneval werden. Alle Lehrer waren beteiligt und strengten sich an.

„Ich finde es sehr amüsant. Immer wenn das Fest naht, halten die Lehrer ihre Schüler an, alle die Fragen auswendig zu lernen, die beim Lernfest gestellt werden würden. Aber das tun sie eher in ihrem eigenen Interesse als in dem der Schüler”, sagte Nguyen zu ihr.

Aber das Ganze war sehr schlimm für die alten Lehrer aus der früheren Generation, die nicht so gut mit Computern umgehen konnten wie ihre jungen Kollegen und die Schüler. Das brachte viel Stoff für Gelächter. Sie konnten die Computer nicht bedienen und die jungen Lehrer stellte ihre Talente für die Technologie zur Schau. Und am Abend kam das Fest zu seinem Ende mit bunten Fähnchen als Zeugnissen, Rangordnungen und Preisen. Die Liste der besten Lehrer und Schüler wurde immer mit stillen Buhrufen bedacht, weil die Gewinner die Auszeichnungen in der Regel nicht verdienten.

Oft hatte sie in der Wohnanlage mit Lam geredet, weil Lam ähnliche Ideen hatte wie sie. Gerade hatte sie Lams Liebsten in der Schule kennengelernt. Man erzählte sich, Lam und ihr Liebhaber hätten im selben Semester an derselben Universität studiert. Zwei Jahre lang waren sie ein Paar. Lams Liebster hatte oft Gedichte geschrieben und Lam machte aus ihnen kalligraphische Bilder. Er vertonte diese Gedichte sogar, sie wurden bei den Treffen im Fachbereich gesungen. Als er die Uni verließ, blieb Lam ein Jahr lang in ihrem Heimatdorf, denn es war sehr schwierig, einen Job zu finden. Dann wurde ihr Geliebter an dieselbe Schule versetzt, in der sie inzwischen unterrichtete. Jeder dachte, dass aus den beiden ein schönes Paar werden würde. Aber aus heiterem Himmel heiratete sie einen anderen Mann. Ihr Gatte war ein wenig älter und liebte weder Gedichte noch Kalligraphie. Als Ausgleich belud er seine Braut mit goldenen Armreifen und Halsketten. Nach der Hochzeit ging sie an eine andere, bessere Schule. Alles war sehr glatt für sie verlaufen. Seitdem war Lam schweigsamer geworden.

Er fragte sie, ob sie dieses Jahr zum Schulfest kommen wolle. Sie sagte, sie wolle nicht, denn sie habe keine Lust, in einem Theaterstück aufzutreten. Er erwiderte, dass doch das ganze Leben ein Schauspiel sei. Alles, was in dieser Gesellschaft, in dieser Schule passiere, sei ein Stück, und sie seien die Schauspieler, ob sie es wollten oder nicht. Und da sie schlechte Schauspieler seien, so sollten sie es besser bleiben lassen.

Das Schuljahr ging zu Ende. Nach einem Rückblick auf die Arbeit im vergangenen Jahr wurde der Direktor gefeuert. Er hatte eine Menge Geld für nichts verschwendet.

Glücklicherweise waren alle Schüler ihrer Klasse versetzt worden und sie schritten erhobenen Hauptes durch das Schultor. Nguyen und einige der besten hatten Studienplätze für einige renommierte Hochschulen in der Stadt erhalten. Keiner von ihnen hatte sich für ein Lehramtstudium eingeschrieben. Das war eine Schande. Diese Information machte sie sprachlos. Lam hatte sich von der Schule verabschiedet und arbeitete jetzt als Journalisten-Lehrling bei einer lokalen Zeitung.

Plötzlich fühlte sie sich unsicher und schwankend.

In der Schule waren einige Dokumente angekommen, in denen die Lehrer aufgefordert wurden, an Sommerkursen teilzunehmen, obwohl der Sommer noch fern war. Sie hatte jetzt drei Jahre an dieser Schule unterrichtet, sagte sie sich. Die Blüte ihres Lebens war so schnell vergangen und sie fragte sich, ob sie diesen Beruf noch weiter ausüben würde können. Sie fühlte sich deplatziert, wie ein fünftes Rad am Wagen.

Quelle VNS, 28. Oktober 2012,
aus dem Englischen von Manh Chuong
übersetzt von Günter Giesenfeld

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier, 2/2012

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