Geheimnisvolle Rettung


Kurzgeschichte von Cao Duy Son

Mitte Juni. Laut Wettervorhersage sollte das Thermometer an diesem Tag auf 37 Grad steigen. In der Stadt Binh Lang war es ziemlich schwül, aber die kleine Gemeinde Cao schien zu einer anderen Welt zu gehören: Hier zeigte sich die Sonne frühherbstlich-mild. An manchen Tagen strich in den frühen Morgenstunden von den Bergen her eine kühle Brise über den Ort und ließ die Menschen warme Kleidung anziehen.

„Was für ein angenehmes Wetter!”, sagten die einen, „Was für ein verlassenes, stumpfsinniges Nest!” die anderen.

Auch Phung, ein Ingenieur aus Binh Lang, hatte in den ersten Tagen seines Aufenthalts Cao als bedrückend hinterwäldlerisch und langweilig empfunden. Drei-, viermal am Tag durchschritt er die Straßen und hatte das Gefühl, der Ort werde nie aufleben. Nach der Arbeit kehrte er dann ziemlich frustriert in sein Haus westlich der Kommunalverwaltung zurück.

Aber dann, nach etwa einem Monat, hatte er sich eingewöhnt in der kleinen, von felsigen Bergen umgebenen Gemeinde mit der engen, kurvenreichen Straße, die sich am Fuß der Berge dahinschlängelte. „Bin ich wirklich hier heimisch geworden?”, fragte er sich manchmal.

Von Zeit zu Zeit sah er einen Einheimischen in indigofarbener Kleidung, einen Turban auf dem Kopf, sein mit Säcken voller Waren bepacktes Pferd am Zügel führen. Ihre schweren Tritte auf dem Asphalt durchbrachen die friedliche Stille. Voller Vorfreude wartete Phung auf den nächsten Markttag, der regelmäßig Käufer und Verkäufer, aber auch Schaulustige anzog.

Mit diesem festlichen Ereignis verwandelte sich Cao plötzlich in ein brodelndes Durcheinander von Marktbesuchern, die ganz unterschiedliche Gerüche mit sich brachten, angenehme und weniger angenehme, Gerüche, die aufstiegen aus den Dschungel-Produkten der Bergbewohner wie den H'Mong und Dao, aus den vielfältigen Gemüsen der lokalen Bauern, wozu dann Geflügel und Haustiere noch den Gestank nach Dung und Urin beisteuerten.

Eines Tages fiel ihm ein einsames Steinhaus auf, das ganz am Ende der Straße am Fuß eines Berges lag. Neugierig lief er hin und sah ein junges Mädchen am offenen Fenster bei einer Näharbeit sitzen. Die Tür war geschlossen. Und seltsam: Jedes Mal, wenn er danach dort vorbeikam, fand er sie am gleichen Platz mit stiller Gelassenheit nähen, als wäre sie eine Figur in einem antiken Gemälde.

„Wie schön, sanft, elegant und charmant sie ist! Aber sie ist für mich wohl unerreichbar”, dachte er bei sich. Oft nahm er sich vor, hinzugehen und ein Gespräch in Gang zu bringen, aber trotz seiner peniblen Planungen kam es nie dazu. „Sie ist wie eine dieser weißen, reinen Orchideen, die hoch in den Bergen wachsen. Eines Tages werde ich hinaufsteigen und für sie nach dieser seltenen und kostbaren Blume suchen”, schwor er bei sich.

***

Einen Korb mit Orchideen in der Hand, ging er zu ihrem Haus. Wie immer saß sie nähend am Fenster. Wie immer war sie schön mit ihrer lilienweißen Haut, mit den natürlichen Locken, die ihren Hals streichelten, und den unter elegant geschwungenen Brauen strahlenden Augen. Durch das Fenster fielen einige Sonnenstrahlen ein und erleuchteten ihr Gesicht. Plötzlich kam eine kühle Brise auf, und ein dünner Nebelschleier verhüllte wabernd ihre Silhouette.

„Träume ich etwa?”, fragte er sich. Dann trat er entschlossen näher. „Entschuldigung”, sagte er leise. Sie unterbrach ihre Arbeit und schaute ihn lächelnd an. Ihre roten Lippen öffneten sich leicht und enthüllten wie Elfenbein schimmernde Zähne. Ihre Freundlichkeit hob seine Stimmung. Vorsichtig stellte er die Blumen auf das Fensterbrett.

„Oh, weiße Orchideen! Herzlichen Dank!”, sagte sie mit tiefbewegter Stimme. Ihre Worte entzückten ihn, und dann schien ein frischer Duft über ihn hinzustreichen – kam er von den Blumen oder von ihrem Haar? „Die sind ein Geschenk ganz speziell für Sie”, fügte er hinzu. „Für mich?” „Ja, natürlich!”, erwiderte er und nickte. „Die weiße Orchidee ist eine seltene Art, die nur hier zu finden ist. Sie wächst auf den höchsten Gipfeln und bringt dem Finder Glück”, erklärte sie. „Dann sind jetzt sie bei jemandem angekommen, der sie verdient!”, rief er aus. „Ich stelle sie hier aufs Fenster. Bitte denken Sie daran, sie jeden Morgen zu gießen.” Ihr strahlendes Lächeln begleitete seinen Heimweg.

***

Der Markt in Cao begann sich langsam zu lichten. Waren wurden zurück in riesige Körbe gepackt. Welke Blätter, Gemüsestrünke und Zuckerrohr-Abschnitte lagen verstreut umher. In einem leeren Stand brummte ein Betrunkener sinnlose Schlagermelodien. Auf der Straße, die sich kurvenreich die Berge hinaufwand, bewegten sich, schon in einiger Entfernung, Menschen mit ihren Pferden auf dem Heimweg.

Phung schaute auf seine Uhr, es war zehn nach fünf am Nachmittag. Nach einiger Überlegung gab er sich einen Ruck und marschierte die Straße hinauf zu einer klapprigen Hütte. Als er die paar Steinstufen hinaufstieg, empfing ihn Sin, der Hausherr und beste Friseur weit und breit. Mit seinen schmalen Augen und seiner fahlen Haut wirkte er ziemlich boshaft. „Was bringt Sie, einen Städter, dazu, sich ausgerechnet an diesem bescheidenen Ort die Haare schneiden lassen?”, fragte er mit gespielter Demut. „Welcher Schnitt solls denn sein?”, fuhr er fort. „Das überlasse ich Ihnen.”

Während er sich an die Arbeit machte, redete der Friseur vor sich hin: „Früher, noch bis vor hundert Jahren, konnten wir Einwohner von Cao uns in der Regenzeit an dem vom Himmel gesandten Wasser erfreuen; In den restlichen Monaten schleppten wir das Wasser aus den Bergbächen Eimerweise nach Hause. Heutzutage gebührt jedem, der eine Wasserquelle findet, eine Goldstatue!” „Dann wissen Sie schon Bescheid über meine Arbeit hier?”, fragte Phung. „Natürlich, alles, jede Kleinigkeit ist hier sofort bekannt. All Ihre Anstrengungen werden vergeblich sein.” Die Überzeugung, mit der der Friseur dies behauptete, säten leise Zweifel in Phungs Gemüt. Er fragte sich, ob all ihre Untersuchungen und Pläne ins Leere laufen würden. Nach fast einem Monat fand sich in den beiden Bohrlöchern, das eine über 80, das andere 60 Meter tief, noch keine Spur von Wasser. Und die Deadline rückte näher. Eine Billion Dong aus dem Staatshaushalt würden sich in Luft auflösen.

Laut fragte er: „Was verstehen Sie denn von unserer Arbeit?” „Bedenken Sie, dass ich über 10 Jahre für die Thin Tuc Tin-Mine gearbeitet habe, bevor ich genug hatte und mich entschloss, mich hier selbstständig zu machen.” Das erklärte, warum er sich von seiner Sprache und seinem Verhalten her stark von anderen Einwohnern unterschied, dachte Phung.

Sin offerierte weitere Informationen: „Es heißt, das es in dieser Gegend viele Bäche mit einem hohen Wasserstand gab. Dann ließ sich eines Tages ein fremder Geomanter1 mit seinen Kumpanen für längere Zeit hier nieder. Nachdem sie die örtlichen Behörden mit Hunderten von Gold-Taels bestochen hatten, begannen sie auf der Suche nach einem verborgenen Schatz ein Riesenloch direkt vor dem Eingang der Mine zu graben. Sie gruben und gruben monatelang, aber sie fanden nichts. Schließlich gaben sie auf und verschwanden wieder. Bald darauf mussten die Einheimischen erfahren, dass alle Bäche ausgetrocknet waren. Daraufhin zog man die Notablen wegen Korruption zur Verantwortung, aber das Los der Einwohner besserte sich nicht: Seither leiden sie unter dem Fluch der Wasserknappheit.” Phung hielt das für befremdlich, da doch eine Reihe von Studien zu dem Schluss gekommen waren, dass sich hier Wasser befinden musste. Abrupt wechselte der Friseur das Thema: „Die Orchidee ist in der Tat die Königin der Blumen. Allerdings bringt sie ihren Besitzer in Gefahr, obwohl sie ihrem Finder durchaus Glück bringen kann.” Argwöhnisch grübelte Phung, was der Friseur damit wohl sagen wollte.

***

Ein weiterer Tag verstrich ohne Erfolg für das Brunnenbohr-Team. „Keine Spur von Wasser”, meldete ein Arbeiter. „Besser, wir machen für heute Schluss und ruhen uns aus”, erwiderte Phung.

Langsam ging er die Straße entlang. Im Westen versank die Sonne gerade hinter dem nebelverhangenen Berggipfel. Die Atmosphäre war eigentlich angenehm, aber ihm ging der nachmittägliche Anruf seines Chefs nicht aus dem Kopf. Er hatte Phung eröffnet, dass sie sich nur noch einen weiteren Bohrversuch leisten könnten, der aber erfolgreich sein müsse; Ein Scheitern würde den Verlust mehrerer Billionen Dong bedeuten.

Allen Studien zufolge war die Wahrscheinlichkeit, in dieser Gegend Wasser zu finden, sehr hoch. „Aber wo genau liegt es?”, fragte sich Phuc. „Unsere Bohrstelle ist deutlich die aussichtsreichste. Sollten wir etwa gegen die Gesetze der Berge verstoßen haben?” Plötzlich erinnerte er sich an die junge Frau, die er mit Blumen beschenkt hatte. Ohne weiteres Zögern lief er zu ihrem Haus. „Habe ich mich so heftig verliebt in sie, dass ich ein böses Omen übersehen habe?”, überlegte er. Jedenfalls hatte er das Gefühl, dass sie ihm durchaus wohlgesonnen war.

Sie saß, wie üblich, am Fenster. Die prächtigen Blüten auf dem Fensterbrett verströmten einen geheimnisvollen Duft. Als sie ihn erblickte, leuchtete ihr Gesicht auf. Ihre strahlenden Augen sprachen Bände. „Hat sie etwa auf mich gewartet?”, überlegte er.

„Guten Abend.” Seinen Gruß erwiderte sie mit einem scheuen, bezaubernden Lächeln. „Darf ich eintreten?”, fragte er. „Nein, bleiben Sie bitte draußen!”, entgegnete sie. „Gut, ich bleibe hier stehen”, sagte er, diffus ihre Besorgnis verspürend. „Ihre Blumen sehen hier noch schöner aus als in den Bergen.”, sagte er, und genoss den süßen Duft.

„Ich habe gehört, dass Sie noch keine Wasserquelle gefunden haben.” „Das heißt, Sie wissen schon, warum ich hier bin?” „Unsere Gemeinde ist sehr klein, und jeder weiß über Sie Bescheid.” „Ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass Wasser hier so rar sein würde. Unser Projekt ist sowohl von den Provinz-Behörden als auch von Experten sorgfältig geprüft worden, Ablauf und Vorankommen wurden sowohl von unserer Firma als auch von den zuständigen Bezirksbeamten eingehend begutachtet. Aber jetzt droht uns das Geld auszugehen. Gleichwohl müssen wir doch unser Bestes geben, um die Versorgung der hiesigen Bevölkerung mit frischem Wasser sicherzustellen. Wir können doch nicht auf halbem Weg aufgeben!” „Seien Sie doch nicht so mutlos!” „Gibt es denn eine aussichtsreichere Bohrstelle? Wir arbeiten doch schon an der besten, oder?” „Könnten Sie denn ihr Vertrauen in eine einfache Einwohnerin wie mich setzen?” „Warum nicht? Ich vertraue Ihnen und möchte gern Ihren Rat hören.” Ihr Gesicht strahlte auf. Sie zeigte auf den fernen Berg hinter ihrem Haus: „Dort, am Fuß jenes Berges werden Sie fündig.” Wirklich? Wie konnte sie so sicher sein? Er war aufs äußerste angespannt. Ihr offensichtlich aufrichtiges Wohlwollen ging ihm zu Herzen. „Sicherlich werden wir fündig. Und das erste Wasser, das wir gewinnen, ist für Sie bestimmt, das verspreche ich Ihnen.” „Wirklich?”, fragte sie mit ihrem bezaubernden Lächeln. Er nickte voller Zuversicht. „Gut, dann erwarte ich Ihren Erfolg”, erwiderte sie freundlich.

Plötzlich schlich ein Schatten um die Hausecke. Ein neugieriger Schnüffler? Aber damit hielt er sich nicht weiter auf. Hier vor ihm war sie, in Fleisch und Blut. Ihr Enthusiasmus erfüllte ihn mit neuer Hoffnung. Ein ums andere Mal fragte er sich, warum er ihr so blind vertraute; Lag das vielleicht an seiner heimlichen Liebe zu ihr? Ihr Rat gründete sicher auf uraltem Wissen, das von Generation zu Generation überliefert worden war. Das Wichtigste war jetzt, eine Wasserquelle zu finden, dann konnte das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden.

***

Der Direktor der Binh Lang-Wasserversorgungswerke zeigte sich höchst erstaunt über Phungs Plan. Den Ausführungen seines fleißigen Ingenieurs lauschte er mit einiger Bestürzung. „Am besten besprechen Sie Ihre Absicht, die gegenwärtige Bohrstelle aufzugeben, mit den Zuständigen des Bezirks. Dann setzen Sie Ihren Plan so bald wie möglich um. Wir können unser Projekt vielleicht noch um fünf Tage ausdehnen, mehr ist nicht drin.” „Das Zeitlimit ist meine geringste Sorge. Wie steht es um meine Verantwortlichkeit?” „Sie werden für jegliches Defizit einstehen müssen”, erklärte der Direktor. „In Ordnung, ich setze mein Haus in guter Lage als Pfand ein”, entgegnete Phung entschlossen. „Überlegen Sie es sich gut, Sie könnten in Schwierigkeiten geraten.” „Schlimmstenfalls droht mir Gefängnis. Ich habe keine Angst.” „Sie sind ja verrückt!”, rief der Chef aus.

***

Weitere vier Tage waren verstrichen, ohne Erfolg. Nur noch ein Tag blieb Phung, um seinen Auftrag zu erfüllen. Der Krach der Bohrmaschine störte die friedliche Ruhe der Berge und Wälder.

„Sie legen sich besser für ein paar Stunden hin. Wenn Sie weiterhin ununterbrochen auf sind, werden Sie noch krank”, warnte ihn einer der Arbeiter freundlich. Phung nahm dn Rat an. Er entfernte sich von der lärmenden Maschine und suchte eine schnell zusammengezimmerte Schutzhütte auf, um ein wenig zu ruhen. Bald fiel er in einen tiefen Schlaf. Ein Arbeiter kam herein und ließ sich schwer neben ihn fallen, was Phuc sofort auf die Beine brachte. Er schaute nach draußen, wo in pechschwarzer Dunkelheit alles zu schlafen schien, und schrie: „Was ist los?! Wacht auf, steht alle auf! Wieso habt ihr die Arbeiten eingestellt?”

Das Licht leuchtete auf, und die Maschine wurde angeschaltet. „Mein Gott, wo ist denn der stählerne Stützanker geblieben? Der wiegt doch mindestens 40 kg, wer hat denn den weggeschleppt, und warum?” „Ohne Stützanker geht die Maschine zu Bruch”, ergriff Phung die Initiative: „Wir müssen unverzüglich danach suchen. Jeder muss versuchen, ihn dem Dieb so schnell wie möglich wieder abzujagen!”

Schließlich wurde das Teil am Fuß eines großen Baumes gefunden. Der Dieb war ausgerechnet der Friseur. Sobald der Stützanker wieder befestigt war, nahm die Maschine ihre beharrliche Arbeit wieder auf.

„Bruder Phung, ist heute Deadline für unser Projekt?”, fragte ein Arbeiter. „Ja.” „Wir haben fast fünfzig Meter tief gebohrt.” „Bohren Sie weiter, mein Freund. Wir werden bald auf Wasser stoßen.”

Just in diesem Augenblick schrie jemand aufgeregt: „He, alles herhören! Wasser!” „Dort quillt es heraus!” Alle Arbeiter starrten auf das Bohrloch. Sekunde für Sekunde schien das Wasser stärker hervorzuströmen. „Bohren Sie noch ein paar Meter tiefer”, ordnete Phung an. Die Maschine drang mit stärkerer Kraft in die Tiefe, und die Wassermenge schwoll an, bis schließlich ein mächtiger Wasserstrahl in einer hohen Fontäne hochschoss. Das Lachen der Arbeiter drang durch den Wald, und Phung badete förmlich in ihrer Freude. Er hatte eine lebhafte Vision von Bächen, Flüssen, Teichen voller klarem Wasser, von grünen Reisfeldern und über 200 Haushalten in Cao, die mit reinem Wasser versorgt waren.

Schnelle Schritte waren zu hören und wurden im Näherkommen lauter. Caos Einwohnerschaft stürzte aus ihren Häusern und rannte zum Bohrloch, wo das Gedränge immer dichter wurde, obwohl es noch dunkel war. Alle umringten Phung und gratulierten ihm zu seinem großen Erfolg. Plötzlich wand er sich durch die Menge. Er hob einen herumliegenden Plastikkanister auf, füllte ihn mit klarem Wasser und rannte so schnell er konnte zu dem einsamen Haus am Fuß des Berges, um der jungen Frau zu danken. „Sie muss sich als erste daran erfreuen können”, sagte er sich. „Ich liebe und brauche sie. Ich werde sie heiraten.”

Zu seiner Überraschung stand die Tür weit offen, wogegen das Fenster, an dem sie immer zu sitzen pflegte, geschlossen war. Der Korb mit weißen Orchideen stand noch auf dem Fensterbrett, aber die Blüten waren welk. In tiefer Bestürzung sprang er die Treppenstufen hinauf und klopfte an die offene Tür. „Ist da jemand?” Absolute Stille. Er ging hinein. Das Haus schien kalt und verlassen. Ein paar Blätter Papier aus Birkenrinde lagen verstreut am feuchten Boden. Die Nähmaschine stand noch immer auf dem Tisch am Fenster. Jäh durchzog eine kalte Brise das Haus, gefolgt von einem Schleier dünnen Nebels. Einige Minuten darauf begann sich der Nebel aufzulösen, er bildete kleine Wassertropfen auf der Fensterscheibe, die glitzernd aufleuchteten wie winzige Glassplitter. Dann drang der Nebel langsam durch das Fenster herein, und in seiner Mitte vermeinte er vage ihre Silhouette und ihr fröhlich-perlendes Lachen wahrzunehmen. Träumte er? Wo war sie bloß? Warum war sie ohne jede Nachricht weggegangen?

„Hier ist das Wasser, das ich Dank ihrer Hilfe schöpfen konnte. Ich will es hierlassen als Andenken. Ich hoffe, es befreit sie von durch Verstöße gegen die Gesetze des Dschungels verursachten Ängsten und Sorgen.”

Mit zitternden Händen berührte er sacht die welken Blüten. Mit der Linken schöpfte er eine handvoll Wasser, dann tauchte er die Fingerspitzen seiner rechten Hand hinein und besprengte mit den Wassertropfen die Blumen, wobei ein paar Tropfen seine Füße netzten. Daraufhin verließ er, ein bisschen wacklig auf den Beinen, das Haus.

***

Vom Berg herunter kam ein dünner Nebelfetzen und pikste ihn wie mit tausend Nadelstichen eisig in die Füße. Die Nebelwolke, die sanft in der Luft zu schweben schien, verdichtete sich zu einer überaus geheimnisvollen und bezaubernden Silhouette. Und wieder fragte er sich, ob er träume.

Quelle: VNS 12.04.2015
übersetzt von Marianne Ngo
nach der englischen Fassung von Van Minh

Cao Duy Son, eigentlich: Nguyen Cao Son, geboren 1956 in Co Sau, Provinz Cao Bang, gehört der Tay-Minderheit an. Er absolvierte die Nguyen Du-Literaturakademie in Hanoi, danach (ab 1992) arbeitete er beim Fernsehen der Provinz Cao Bang. Er erhielt 1993 einen Preis des Vietnamesischen Schriftstellerverbandes. Cao Duy Son hat inzwischen mehrere Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht. Für die Kurzgeschichten-Sammlung Nha Xua Ben Suoi (Das alte Haus am Fluss) wurde er 2009 mit dem den Southeast Asian Writers Award ausgezeichnet.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2011

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