Das ganze Jahr über war Ngan sofort nach der Arbeit nach Hause geeilt und hatte alle Einladungen ihrer jüngeren Kollegen zu einem Abend in der Stadt ausgeschlagen.

„Ngan ist doch ledig, oder? Wie kann es dann sein, dass sie ständig beschäftigt ist wie eine junge Mutter mit einem Baby?“, bemerkte ihr Abteilungsleiter eines Tages. Ngan schmunzelte nur, als sie das hörte. Im Alter von 36 machte sie sich nichts mehr aus dem Nachtleben und außerdem, wenn sie nicht am frühen Abend nach Hause käme, würde sich Stephen, ihr Online-Freund, fragen, wo sie bliebe.

Sie war eines Tages zufällig auf ihn getroffen, als sie nach der Arbeit ihren Hund Tutu tot vor dem Eingang vorgefunden hatte.

„Möglicherweise hat er heute morgen etwas giftiges gefressen“, überlegte sie. Sie fiel in eine finstere Stimmung und surfte an diesem Abend in Webseiten der Kategorie „Single und auf der Suche“ herum, die voller verlockender Einladungen waren: „Klicken Sie hier, verlieren Sie keine Zeit. Schluß mit den einsamen Sonntagen!“

Sie war kein Narr. Sie wußte wohl, daß solche Webseiten nicht das Ideale waren, um die wahre Liebe zu finden. Aber dennoch ...

Nach wenigen Minuten im Chat­room wurde sie gleich von drei Männern rüde angemacht und meldete sich angewidert ab.

„Ich will versuchen, auf einer Hunde-Seite Ersatz für Tutu zu finden“, sagte sie sich. Aber wo sollte es einen Hund geben, der bei ihrer Heimkehr mit dem Schwanz wedelte und sich an sie schmiegte wie Tutu? „Vielleicht sollte ich auf meinem PC einen virtuellen Hund halten, der um Fressen und Trinken betteln kann. Ich könnte ihn baden, und er würde mich zum Dank liebko­sen“, überlegte sie. Virtuelle Haustiere waren weltweit bei Millionen angesagt, aber sind die elektronischen Signale einer Maschinen, wie hübsch ihre Avatare auch sein mögen, fähig zu echter Liebe?

Sie begann erneut zu surfen und traf kaum einen Mausklick später auf Stephen. Es war Weihnachten. Trotz der tropischen Hitze ließ sie das Allein-zu-Hause-sein an einem solchen Festtag frösteln. So konnte sie seine Äußerung gut nachvollziehen: „Mir scheint, daß alles sich zu Eis verwandelt hat. Laß uns ein bisschen chatten, meine neue Freundin, um uns aufzuwärmen.“

Eigentlich wollte Ngan nicht darauf antworten, aber dann schrieb er erneut: „Ich suche nach einem Freund, um mit einem Glas Brandy auf Weihnachten anzustoßen; laß uns treffen, wenn Du Zeit hast“, schlug er vor.

„Das hört sich gut an! Aber wo bist Du?“, fragte sie. „In Reykjavik, der Hauptstadt von Island. Und Du? Lebst Du hier in der Nähe?“ Sie seufzte, unsicher, wo Island lag. Schließlich schrieb sie: „Ziemlich nahe, denke ich, ich lebe in Vietnam.“ Auf dem Bildschirm lachte sie ein gelbes Smiley-Gesicht an. „Das ist nicht gerade nahe! Uns trennen ein Ozean und zwei Kontinente“, erklärte er.

Beschämt wollte sie sich eher ausloggen als ihn fragen, wo genau sein Land lag, als er fortfuhr: „Mach Dir nichts draus! Ich bin gleich bei Dir. Aber hast Du denn auch was zu trinken zu Hause?“ „Ja, ich kann Dir einen Wein aus Da Lat anbieten“, antwortete sie, erfreut über das Spiel, das er da initiierte.

„Klopf, klopf. Mach bitte auf ... Oh, Deine Wohnung ist wirklich warm!“ Ihre Wohnung war tatsächlich recht gemütlich, und sie beschrieb sie ihm: „In meinem Zimmer steht eine Vase voller welkender Blumen, ein verblichener purpurroter Vorhang hängt vor dem Fenster, aus dem man eine weite Aussicht hat, ohne eine Menschenseele in Sicht.“

„Wunderbar! Wo ich herkomme, kann man zu dieser Jahreszeit weder Mond noch Sterne sehen. Die Nächte sind sehr lang. Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang liegen maximal drei Stunden,“ klagte er. Ngan konnte sich so ein Land nicht vorstellen; es klang wie aus einem Märchen.

„Wirklich?“, fragte sie. „Wirklich“, antwortete er. „Aber es ist Weihnachten, und das bedeutet, daß rund um die Uhr alles elektrisch beleuchtet ist, insbesondere in der Innenstadt.“

„Hier sind die Tage lang und die Sonne scheint hell. Aber am Weihnachtsabend gibt es überall in der Stadt Stromausfälle,“ berichtete sie staunend über seine verkehrte Welt. „Das macht nichts. Wir zünden Kerzen an, die machen ein warmes und stimmungsvolles Licht. Ich habe hier eine schöne Kerze, die wie eine Rose geformt ist. Ein Freund hat sie mir vor langer Zeit geschenkt mit der Auflage, sie erst in meiner ersten glücklichen Nacht anzuzünden,“ sagte er.

„Du führst anscheinend ein unglückliches Leben?“, fragte sie. „Hat Dir das Glück nie gelacht?“

„Nicht wirklich. Was kann man machen? Easy come, easy go“. Auf dem Bildschirm erschien ein weiteres Smiley. „Eines Tages werde ich zu Dir kommen und die Kerze mitbringen. Wenn wir sie anzünden, wird sie den Duft einer Rose verströmen.“

„Sind wir einer solchen kostbaren Kerze würdig?“

„Warum nicht?“

In dieser Nacht saß Ngan in der virtuellen Welt an seiner Seite und erzählte ihm von ihren Sorgen, von Tutu und von ihrem Leben als alte Jungfer.

Stephen berichtete, wie er, ein 45Jähriger, sich als Stückeschreiber für ein kleines Theater durchschlug. Tatsächlich waren es kaum mehr als Seifenopern. Zu Weihnachten war Abgabetermin für die Geschichte von Esther und Dan, weshalb er jeden Abend bei McDonalds über Big Macs nach einem Schluß für das Stück gesucht hatte: Heirat oder nicht? Da er sich nicht entscheiden konnte, hatte er das Stück nicht rechtzeitig abliefern können, und so wurde stattdessen eine andere Komödie gespielt.

„Ein Stückeschreiber? Ist unser heutiges Treffen ebenfalls eine Farce?“, fragte Ngan.

„Ha!“, lachte er, „Eine echte Zeitgenossin, voller Skepsis und Zweifel.“ Das rundgesichtige Zeichen schien sich über sie lustig zu machen.

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Stephen wurde Ngans virtueller Freund und beanspruchte nach und nach ihre gesamte Freizeit. Imaginäre Schwingen versetzen die beiden zum Bummeln an die Ufer des Saigon-Flusses und zum Skifahren an Islands Pisten.

„Aber Stephen, ich kann nicht Skifahren“, gestand sie.

„Keine Sorge, ich helfe Dir“, antwortete er sanft.

An den Sonntagen standen sie gewöhnlich spät auf und tranken zusammen am Fenster ihrer Wohnung Kaffee. Mit Beginn der Rosenzeit überschüttete er sie mit roten Blüten.

Eine Zeitlang, als sie auf dem Lande Dienst tat, war sie zu beschäftigt, um mit ihm zu chatten. Eines Tages entdeckte sie auf dem Heimweg ein Internet-Cafe, ging auf ein Getränk hinein und las seine Nachricht: „Ich denke Tag und Nacht an Dich. Ich vermisse Dich mehr, als ich sagen kann. Bitte wärme mich.“

„Er hat eine Grenze überschritten“, dachte sie und fragte sich, ob sie diesen Weg mit ihm gehen wolle.

„Stephen, ist Dir bewußt, daß unsere Welt immer beschränkter wird? Ich langweile mich ohne Dich“, antwortete sie. Von da an änderte sich der Ton in ihrem privaten Chatroom.

„Mein lieber Stephen, weißt Du, warum meine Nachricht in Purpurrot geschrieben ist? Für mich steht Purpurrot für Sehnsucht.“

„Liebling, ich habe an Esther und Dan gearbeitet. Jetzt ist mir klar, warum ich es nicht zu Ende bringen konnte: Ich habe auf Dich gewartet, auf meine Muse. Welchen Schluß würdest Du vorschlagen?“, fragte er sie.

Mit der Zeit nahm Stephen geradezu die Rolle eines eifersüchtigen Ehemannes ein, und wenn sie spät nach Hause kam, machte er ihr Vorwürfe.

Mit 25 hatte Ngan einen Freund, den sie verließ, als er sich als machtbesessener Pedant entpuppte. Seither war sie allergisch gegen die Ehe, denn sie bedeutete nichts anderes als männliche Vorherrschaft. Das teilte sie Stephen mit; seine Antwort überraschte sie:

„Wirklich? Wo ich herkomme, herrscht kein Mann über seine Frau. Hier kommen zuerst die Kinder, dann die Frauen; an dritter Stelle stehen die Haustiere, an letzter Stelle die Männer. Gleichwohl kannst Du Dir vielleicht vorstellen, wie ich mich fühle, wenn ich mich einlogge und keine Nachricht von Dir vorfinde.“

Ngan war tief bewegt. Sie fand diese neue Beziehung erquickend im Vergleich zu dem, was sie zehn Jahre zuvor durchgemacht hatte. So tat sie ihr Bestes, um ihn zu umsorgen ... online.

„Heute mußt Du gut essen, Du hast sehr hart gearbeitet!“ Oder „Morgen abend gehst Du besser ins Theater. Ich werde zu Hause bleiben und Deine Kleider für Dich waschen“, und so weiter und so fort.

Am Tag darauf las sie dann seine zärtlich gurrenden Antworten. Beide waren sie unglaublich glücklich.

Aber wie das Sprichwort sagt: „Die Träume vom Tage werden zu Alpträumen in der Nacht.“

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Eines Tages loggte sich Ngan während ihrer Arbeitszeit ein, um Stephens letzten Liebesbrief zu lesen. Sie vergaß, die Datei zu schließen, als sie Feierabend machte. Zufällig sah ihre Vorgesetzte den Brief und kam zu dem Schluß, dass Ngan auf bestem Weg war, sich ins Unglück zu stürzen.

„Ngan, sind Sie verrückt?“ fragte sie am nächsten Morgen. „In den westlichen Ländern tummeln sich nur Nichtsnutze, Arbeitslose und Schürzenjäger im Chatroom“, warnte sie.

Für diese autoritäre Frau waren alle weiblichen Untergebenen lediglich ihrer Aufsicht unterstellte Kinder. Sie entschied sich, Ngan zu „helfen“, indem sie sie dem Team zuordnete, das für eine ganze Woche lang rund um die Uhr im Büro bleiben mußte, um die Halbjahres-Inventur durchzuführen.

„Aber ich habe zu Hause eine Menge zu tun. Ich brauche meinen Jahresurlaub“, protestierte Ngan.

„Ihr Ausländer da kommt doch nach Hanoi, nicht wahr? Hören Sie, in Ihrem Alter sollten sie sich nach einem netten Ehemann umsehen, statt sich in einer trügerischen Romanze zu verlieren“, mahnte sie.

Ngan schwieg still, denn sie wußte, daß Widerworte nichts brachten. An diesem Abend packte sie ihre Sachen, so daß sie die Woche im Büro verbringen konnte. Bevor sie die Wohnung verließ, loggte sie sich ein und las Stephens jüngste Nachricht.

„In wenigen Tagen werde ich in Hanoi sein. Ich übernachte im Gia Bao-Hotel. Wenn Du nicht zu weit weg wohnst, komm mich doch besuchen.“

„Warum fragt er nicht nach meiner Adresse?“, überlegte wunderte sie sich.

„Lieber Stephen, woran kann ich Dich erkennen, wenn wir uns treffen?“, fragte sie. „Schick mir ein Foto oder laß mich Dich durch die Webcam schauen.“

„Ich hasse solche Dinge. Sie verfälschen die Wirklichkeit“, antwortete er. Ihr Mut sank, als sie sich fragte, was er wohl zu verbergen suchte.

Nach sechs Tagen Arbeit am PC war sie hoffnungslos verzweifelt. Ihre Online-Liebesgeschichte war allgemeiner Büroklatsch geworden.

„Du Arme! Es ist leicht, sich online zu verlieben, aber sich von Angesicht zu Angesicht zu treffen, ist fast immer eine Enttäuschung“, meinte eine Kollegin.

Ngan nickte traurig und war die ganze Woche verzweifelt. Am siebten Tag legte sie die Akten beiseite. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.

„Ich muss jetzt gehen“, teilte sie ihren Kollegen mit.

„Was? Wieso? Noch ein Tag, dann sind wir fertig. Du kannst Dich nicht über die Anordnungen unserer Vorgesetzten hinwegsetzen“, sagte jemand.

„Ich pfeife drauf. Nur ein Narr läßt die Chance für die Liebe ungenutzt verstreichen.“

„Haltet sie auf!“, rief ihre Vorgesetzte, „Sie ist verrückt geworden!“ Ngan entriß ihre Tasche dem Griff ihrer Chefin.

„Tschüß. Ich kann jederzeit einen neuen Job finden; gilt das Gleiche etwa für das Glück?“, erwiderte Ngan, stürzte aus dem Haus ins nächste Reisebüro.

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Leicht schwindlig stieg sie im Noi Bai-Flughafen aus dem Flugzeug und begab sich direkt in den zweiten Stock. Stephen hatte ihr eine Nachricht geschickt, daß er an diesem Nachmittag von Hanoi über Bangkok nach Hause fliegen werde; er könne nicht länger bleiben, sein Geld sei aufgebraucht und er könne sich nur einmal im Jahr eine solche Reise leisten.

An den Flugsteigen drängten sich die Urlauber, und sie hatte immer noch keine Vorstellung davon, wie er aussähe. Alles was sie wusste war, daß er braune Haare hatte. Sie durchforstete die wogende Masse von Gesichtern, und wußte nicht, daß er dasselbe tat.

Eine verzwickte Situation. Jetzt muß ein deus ex machina1 her! Und das kann nur die rosenförmige Kerze sein: Er streckte sie hoch über die Köpfe der Menge, sie sah sie.

Und vor den Glastüren umarmte er sie leidenschaftlich und bedeckte ihren bereitwilligen Mund mit heißen Küssen. Zu schüchtern, angesichts der Menge ein Wort zu sagen, stand sie regungslos da, die Augen voller Tränen.

„Zünde die Kerze nicht an, bevor ich zurückkomme“, flüsterte er, „warte auf mich.“

Dann lächelte er und sagte: „Ich habe einen Schluß für mein Stück gefunden. Es ist schnulzig, aber Dan und Esther heiraten.“

Ngan ging zum Inland-Ticket-Schalter. In einer Stunde ging ihr Rückflug nach Saigon. Durch das Glasfenster schaute sie in den blauen Himmel, be­obachtete, wie das Flugzeug ihre Liebe wegtrug.

Sie dachte an sein Versprechen, im Frühling wiederzukommen und überlegte, ob er damit den isländischen oder den vietnamesischen Frühling meinte.

Sie fragte sich: „Wo zum Teufel liegt denn eigentlich Island?“

Anmerkung:
1 So nennt man einen vom Autor willkürlich herbeigeführten Zufall, der eine ausweglose Situation löst. „machina“ bezieht dabei sich auf die Bühnenmaschinen, mit denen man im antiken und Barocktheater Personen verschwinden und Götter erscheinen lassen konnte. (Red.)

Quelle: Tran Thuy Mai: A rose-shaped candle,
in VNS 10.8.2008; Deutsch von Marianne Ngo
nach einer englischen Fassung von Van Minh

Tran Thi Thuy Mai wurde 1954 in Hoi An geboren, lebt heute in Hue. Dort absolvierte sie die Pädagogische Hochschule. Nach 1975 war sie zunächst Dozentin dort. Ab 1987 arbeitete sie als Redakteurin beim Verlag Thuan Hoa. Erste Veröffentlichungen erschienen in der Zeitung van nghe (Literatur und Kunst) ab 1975.
Tran Thuy Mai schreibt nicht über spektakuläre Schicksale, sondern erkundet das alltägliche Leben und entwirft von ihm ein wie die Kerze in unserer Geschichte rosarotes, im Grunde optimistisches Bild des familiären Lebens ihrer Protagonistinnen. Bei uns würde man ihre Erzählungen zur gehobenen Unterhaltungsliteratur zählen. Sie sagt selber von sich: „Ich denke, Schreiben ist eine angenehme Tätigkeit, mit meinen Geschichten baue ich Brücken zu meinen Mitmenschen, teile meine Gedanken und meine Seelenleben mit ihnen.“ (zit nach Tu dien tac gia van hoc Vietnam the ky XX. (Lexikon Vietnamesischer Autoren des 20. Jahrhunderts), Hanoi 2003) Deswegen sind ihre Geschichten gut geeignet, Auskunft zu geben über das „Seelenleben“ im modernen Vietnam.

Werke (Auswahl):
Bai tho ve bien khoi (Lied über das Meer), Kurzgeschichten 1983
Co hat (Singendes Gras), Kurzgeschichten 1984
Tro choi cam (Verbotenes Spiel) 1998
Jüngste Veröffentlichungen:
Mua o Strassburg (Regen in Straßburg) 2007
Mot minh o Tokyo (Allein in Tokyo) 2008

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 3-4/2008

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