Thuong

Erzählung von Phan Thi Vang Anh

1

Herr Hao war gerade dabei, in seinem Garten zu arbeiten, als Mademoiselle Thuong ankam. Sie ließ ihre schwere Reisetasche zu Boden fallen, atmete lautstark aus, öffnete den Kragen ihrer Bluse und blies mit Macht hinein, um den Schweiß zu trocknen. Herr Hao legte seine mit Erde verschmutzte Hacke am Fuß des Rosenstrauchs nieder, wischte seine Hände an der Hose ab, lief der jungen Frau entgegen und stotterte aufgeregt: „Oh, oh, was für eine gute Idee, gute Idee! Kommen Sie herein, hier herein!”

Sie waren Freunde, trotz des großen Altersunterschieds. Es war nun schon drei Jahre her, daß er sie zuletzt gesehen hatte. Sie hatte sich kaum verändert, war vielleicht ein wenig fülliger geworden, hatte aber noch ihre leicht gegen die Schläfen gezogenen Augen, denselben ein wenig zu großen Mund, den ein knallig roter Lippenstift unterstrich, dieselben langen Beine und den geschmeidigen und selbstsicheren Gang einer Pantherin … Als Hao sie fragte, wie es sie in dieses abgelegene Dorf verschlagen habe, antwortete Thuong mit einem Lächeln: „Ich langweile mich, also bummle ich umher. Eine Freundin hat mich auf die Idee gebracht, hierher zu kommen. Sie sagt immer, man solle soweit wie möglich wegfahren, wenn man sich langweilt, und hier ist es sehr schön, denn man hat sowohl die Berge als auch das Meer. Und erst als ich im Bus saß, habe ich mich an Sie erinnert. Es ist wirklich ein guter Zufall, daß ich Ihre Adresse noch hatte.” Herr Hao, der ihr zuhörte, während er Tee aufbrühte, fühlte, wie seine Begeisterung bei diesen Worten nachließ. Aber er beschloß gleich, sich nicht aufzuregen und bemühte sich, seine Fröhlichkeit wiederzufinden. Sie schwatzen wie zwei Spatzen, redeten über dies und das. Thuong hatte eine ganz besondere Art, Geschichten zu erzählen, denn sie versah sie immer mit einem drolligen oder unerwarteten Kommentar. Das kam bei ihr ganz natürlich heraus, sie suchte nicht die komischen Effekte (und darin unterschied sie sich von seiner Frau, die ihn, als sie noch lebte, mehr als einmal hatte erröten lassen, besonders am Tetfest oder bei Totengedenkfeiern). Außerdem lächelte Thuong sehr oft, und wenn sie lächelte, glänzten ihre Augen wie zwei Wassertropfen. Oft unterbrach sie sich auch plötzlich mitten im Satz, als sei ihr eine unerwartete Einsicht gekommen. Und als sie mit ihren Blicken eingehend das Haus begutachtete, um ihn dann zu fragen, ob er mit jemandem zusammenlebe, hielt Herr Hao ein melancholisches Lächeln für angebracht und antwortete: „Ich habe niemanden”.

Es war sein eigenes Haus, seine Kinder hatten für die Renovierung zusammengelegt. Als er während der Arbeiten verlangt hatte, alle Fensterläden grün zu streichen, hatten diese sich über ihn lustig gemacht, ihn „kokett“ genannt und behauptet, er wolle den Jünglingen des Dorfs Konkurrenz machen. Seitdem verfügte er zum ersten Mal über ein Gastzimmer. Aber wie es so ist: Wenn man die Möglichkeit hat, Leute bei sich zu empfangen, dann kommt niemand. So war Thuong die erste. Als er ihr vorschlug, bei ihm zu wohnen, wenn ihr das nichts ausmache, brach Thuong in schallendes Lachen aus, das mache ihr überhaupt nichts aus, sie sei ja wohl keine Heranwachsende mehr, die zum ersten Mal den Schoß der Familie verläßt, sondern eine Frau, die seit einigen Jahren schon ihren Kopf in den Wind des Lebens halte … Geschäftig holte Herr Hao sofort den kleinen tragbaren Ventilator aus dem Schrank, den, der alle drei Tage seinen Geist aufgab und den er jetzt für sich selber nahm, während er Thuong stattdessen seinen eigenen zur Verfügung stellte, der ein ausländisches Fabrikat war. Er räumte das Gastzimmer auf, breitete auf dem Bett eine Matte mit Blumenverzierungen aus … Als das alles vollbracht war, blickte er mit Kinderaugen auf sein Werk und fragte: „Was meinen Sie, fehlt irgend etwas?” „Nein”, sagte sie und lachte: „Es ist perfekt so! Besser könnte es gar nicht sein!”

2

Thuong war fast ständig unterwegs, aber wenn sie heimkam, machte sie sich sofort daran, ihre Wäsche zu waschen und summte dabei russische Lieder vor sich hin, unbekümmert wie die Ochsentreiber, die auf ihrem rumpelnden Weg singen (sicherlich ein etwas unangebrachtes Verhalten, das ihr aber den Anschein von unbefangener Skurrilität verschaffte). Wenn sie ihre Wäsche gemacht hatte, ging sie mit beschwingtem Schritt in den Garten, das Messer im Rhythmus ihrer Schritte hin und her schwenkend, mit dem sie Wiesenblumen oder Bündel frischer Kräuter abschnitt und zu Sträußen fürs Haus zusammen band. Ihr Verhalten vergrößerte noch die Verlegenheit von Herrn Hao, dem immer deutlicher bewußt wurde, wie provinziell und monoton sein Leben war. Thuong konnte sich auf der einen Seite mit der einfachsten Kost begnügen wie eine Straßenhändlerin, auf der anderen Seite war sie in der Lage, die raffiniertesten Gerichte zuzubereiten, wenn sie die Muße dazu hatte. Eines Tages, als sie hörte, wie Lam – der Enkelsohn von Herrn Hao, der in seinen Sommerferien aus der Stadt zu Besuch gekommen war und lang ausgestreckt in der Hängematte vor sich hin faulenzte – laut aufstöhnte: „Ah, wie gern würde ich jetzt, auf der Stelle, eine gefüllte Ente essen...”, sagte Thuong zunächst nichts (was verständlich war, denn Lam hatte, seit sie angekommen war, nie ein Wort mit ihr gewechselt), lachte aber und dachte bei sich: „Jetzt, auf der Stelle, das ist unmöglich, denn es braucht Zeit sowas vorzubereiten...”. Aber am selben Abend konnte man Lam und seinen Großvater dabei beobachten, wie sie um den kleinen hölzernen Tisch herum saßen, mit Feinschmeckermiene den Duft einer gefüllten Ente wahrnahmen und sich ein Gläschen Aprikosenlikör schmecken ließen. Lam pickte sich einen Lotuskern aus der Füllung und fragte seinen Großvater: „Betreibt sie vielleicht ein Restaurant?” und wartete auf ihre Rückkehr, um ihre Talente als Köchin zu loben, aber sie blieb den ganzen Abend weg. Da es schon zehn Uhr war, drängte Herr Hao seinen Enkelsohn, nach Hause zu gehen, denn er hatte Angst, daß seine Eltern sich Sorgen machen könnten, wenn er nicht bald zurückkäme, zumal der Weg weit war und über einen steilen Abhang verlief. Sie wollten nicht, daß ihm etwas passierte, denn er war das einzige Mitglied der Familie, das auf die Universität ging. An der Tür sagte Herr Hao in einem unnatürlich gleichgültigen Ton: „Ich glaube, sie kommt nicht wieder!” Lam lachte. „Sie ist schon sehr eigenwillig.”, schloß er und startete sein Motorrad, dessen Rücklicht plötzlich aufschien, als er den gewundenen Weg hinabfuhr.

3

Als Lam zwei Tage später zurückkam, um seinen Großvater zu besuchen, war dieser erkältet. Er saß in der Mitte des Zimmers unter einer roten Decke und ähnelte einem Anhänger des Schamanismus, der gerade in Trance gefallen ist. „Bist dus, Lam?”, fragte er mit heiserer Stimme. „Ich mache gerade eine Inhalationskur” und fing sofort an heftig zu niesen. Thuong, die gerade mit glänzenden Augen und geröteten Wangen aus der Küche kam, sagte lachend: „Genug, vergraben Sie sich nicht länger in Ihrem Wasserkessel! Gehen Sie ins Badezimmer, ich bringe Ihnen dann Wasser!”. Lam, der auf dem Sofa lag und Zeitung las, richtete sich auf, grüßte sie und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Aber da war etwas, das ihn zwang, wieder aufzublicken. Mit gestreckten Armen beugte sich Thuong über den Topf, um ihn aufzuheben. Im Profil hatte ihr Körper, dessen Formen man durch ihre Kleidung aus dünnem, durchscheinendem Stoff erkennen konnte, etwas von der Schönheit antiker Statuen, sowohl füllig als auch makellos, und darüber hinaus drückte ihr Gesicht eine tiefe Hingabe aus … Sie kam Lam vor wie die Verkörperung der Weiblichkeit. Er sprang auf und sagte: „Lassen Sie mich das machen!” Als er den Topf hochhob, fragte er sich, was da mit ihm passiert war, denn plötzlich fühlte er sich sehr ritterlich, sehr „männlich”, vor allem, als Thuong ihm dann mit einem sowohl schüchternen, als auch vertrauensvollen Gesichtsausdruck zwei Hände voll Watte hinhielt … Um nur etwas zu sagen, fragte Lam: „Wo haben Sie diese Pflanzen für die Inhalation gefunden?” „Im Garten”, sagte Thuong hinter ihm mit leiser Stimme. Sogleich sah Lam die Szene vor sich, wie sie im Garten, einen Korb an die Hüfte gepreßt, mit aufgelöstem Haar ihre nackten Arme in das Laub der Pflanzen tauchte … „Ich glaube, ich werde bald auch eine Erkältung bekommen. Ob ich wohl auch eine Inhalation machen sollte?”, sagte er.

4

Jetzt war Thuong schon drei Tage lang nicht nach Hause gekommen. Herr Hao war in ihr Zimmer gegangen, um nachzusehen, ob sie vielleicht ihre Sachen mitgenommen hatte, aber alles befand sich an seinem Platz, so als ob sie nur kurz weggegangen wäre, um ein paar Besorgungen zu machen. Er war nicht imstande, irgendetwas zu tun. Er hatte versucht, die Zeitungen zu lesen, auf dem Sofa liegend oder auf dem Liegestuhl, aber schon nach wenigen Augenblicken konnte er sich an kein Wort mehr erinnern.

Mittags, als er in seinem Zimmer vor sich hindöste, hörte Herr Hao den Motor eines Wagens, der sich näherte. Er stand nicht auf, denn er war Thuong böse wegen ihrer Launenhaftigkeit. Sie verhielt sich mal wie eine gewissenhafte und fleißige Hausherrin, mal wie eine Abenteurerin. Im Übrigen war er überzeugt, sie würde wieder diese Männer, Typ Künstler mitbringen, die sie wer weiß wo auftrieb ... „Papa! Papa! ...” Die Stimme seiner Tochter, noch herrischer als sonst, wirkte auf ihn wie ein Polizist, der ihn auf frischer Tat ertappte. Lam stürmte ins Zimmer: „Meine Eltern sind da!” verkündete er und verschwand wie ein Pfeil ins Untergeschoß. Nachdem er dort eine Weile herumgekramt hatte, kam er zurück zu den anderen, ohne ein Wort zu sagen. Ngoc – die Tochter von Herrn Hao – erkundigte sich mit brüskem Ton: „Geht’s dir besser, Papa?” Dann fixierte sie ihren Mann mit einem scharfen Blick und machte ihm ein Zeichen mit dem Kinn, wie wenn sie ihn an ein Komplott erinnern wollte, das sie gemeinsam ausgebrütet hatten: „Wollten wir nicht bei Papa zum Essen bleiben?”

Weder das Geräusch des Messers, mit dem das Fleisch zerhackt wurde, noch das des Wassers, als das Gemüse gewaschen wurde, konnten Thuong aus dem Kopf von Herrn Hao vertreiben. Er sah sie am Brunnen stehen, wie sie beim Wasserschöpfen unter der Sonne sang, bekleidet mit ihrer eng anliegenden Bluse aus feinem geblümten Stoff, oder auch wie sie abends mit ausgestreckten Beinen neben dem Küchenherd saß und kochte; Er hatte in jenen Momenten den Eindruck, sie befänden sich allein in der Tiefe einer Höhle und das Schweigen, das sie umgab, wäre unendlich groß, so daß er nur in die Wirklichkeit zurückfand, als eine Kokosnuß geräuschvoll zu Boden fiel …

Niemand erwähnte Thuong, auch nicht Lam, der noch einige Tage zuvor mit ihr gelacht und herumgealbert hatte und der, noch am Abend zuvor, als er sich spät in der Nacht von seinem Großvater verabschiedete, über sie gesagt hatte: „Thuong geht oft abends aus, findest du nicht, Großvater?” Erst als sie das Essen auf den Tisch stellte, fragte Ngoc mit einem Lachen: „Und wohin ist Thuong entschwunden, Papa?” „Wie soll ich das wissen?”, antwortete Herr Hoa mit matter Stimme. Ngoc teilte die Eßstäbchen aus und schimpfte: „Wie lange will sie eigentlich noch hier bleiben?” „Keine Ahnung!”, erwiderte Herr Hao trocken. Da faltete der Schwiegersohn seine Zeitung zusammen und sagte mit dem Ton eines Hausherrn: „Jetzt wird gegessen! Greif zu, Papa!”

Man begann also zu essen, aber die Stimmung war angespannt, im Gegensatz zu sonst. In dem Moment, als Ngoc begann: „Papa, wir müssen mit dir re­den ...”, erschien Thuong in der Tür.

Sie schien noch schöner und noch ungezwungener als sonst, und sie bewegte sich immer noch geschmeidig wie ein Panther. Guten Tag alle zusammen!”, sagte sie und neigte leicht den Kopf, dann wanderte ihr Blick bis zum Schwiegersohn von Herrn Hao. „Darf ich bekannt machen: Meine Tochter und mein Schwiegersohn – Thuong”, sagte Herr Hoa und deutete mit der Hand auf die beiden. Thuong lächelte und wandte sich an Phuong – den Schwiegersohn des Herrn Hao – und sagte: „Angenehm. Guten Tag, großer Bruder!” „Wollen Sie mit uns essen?”, schlug Herr Hoa vor. Thuong schüttelte den Kopf: „Nein danke” Ich habe schon gegessen, lassen Sie sich bitte nicht stören.” Als sie hinausging, stieß sie mit ihrer Tasche leicht an den Stuhl von Phuong. Verwirrt dachte dieser bei sich: „Sie ist noch ganz die alte.”

Herrn Hao hatte Thuongs Rückkehr über die Maßen erleichtert. Er war ihr jetzt überhaupt nicht mehr böse. Wenn er hören würde, wie sie den Eimer aus dem Brunnen zog, würde er sie davon abhalten und ihr sagen: „Ruhen Sie sich ein bißchen aus, bevor Sie unter die Dusche gehen, Sie werden sich sonst erkälten!” „Ich gehe in die Küche, Paprika holen.”, sagte er in Richtung seiner Tochter. Aber Lam mischte sich ein: „Laß nur, Ich gehe!” Und Ngoc setzte noch einen drauf: „Bleib sitzen, Papa, Lam macht das schon.” Lam ging hinunter in die Küche, öffnete den Essensschrank, nahm eine Handvoll Paprika heraus, ging aber nicht ins Zimmer zurück, sondern schnell raus in Richtung Brunnen. Truong war dort dabei, sich die Haare zu waschen. Sie hatte lange schwarze Haare, ein alabasterfarbener Hals leuchtete aus dem weiten Kragen ihres blauen Trikots hervor. Lam hatte vergessen, was er ihr sagen wollte. Er errötete und lief zurück ins Haus.

5

Herr Hao schlief, laut und stoßweise atmend, wie es Greise oft tun. Ngoc lag auf dem Diwan, so zusammengeduckt, daß sie jenen Vagabunden glich, die ihre Nächte auf den Gehsteigen verbringen. Beim Betrachten seiner Frau sagte sich Phuong, daß sie zum Fürchten häßlich war, daß sie mehr und mehr ihrer Mutter glich, die genauso schwatzhaft, genauso ätzend war, und daß sie die Jahre ablebte wie das Ticken einer Uhr, ticktack, ticktack. Vollkommen gleichförmig und monoton. Da ging Phuong hinunter ins Untergeschoß und blieb vor der geschlossenen Tür Thuongs stehen. Sicher schlief sie, und ihre gelösten Haare breiteten sich auf dem Kissen aus, wie früher. Er erinnerte sich, wie schön sie aussah im friedlichen Schlaf, mit leisem Atem, so leise, daß er sie manchmal mitten in der Nacht aufweckte, um sich zu vergewissern, daß sie noch lebte … Das war lange her, aber er hatte den Eindruck, daß sie sich nicht verändert hatte. Er hatte sie bei einer kurzen Mission im Westen getroffen. Sie war das, was man ein leichtes Mädchen nannte, so hatte er kein anderes Ziel, als die Gelegenheit auf sehr „westliche” Weise wahrzunehmen, genauso wie sie ihr Leben führte, und er war froh darüber, bis zu dem Augenblick, in dem er bemerkte, daß er für sie nur eine Zerstreuung war. Aber was ihn am meisten verletzt hatte, das war die gleichgültige Art mit der sie sich von ihm getrennt hatte, als wäre er nur eine „Hure”, die man fallen läßt, wenn man sie nicht mehr braucht. Zu jener Zeit war es sein einziger Trost gewesen, daß er sie bis zum letzten Augenblick belogen hatte, er sei nicht verheiratet. Aber selbst das quälte ihn, denn er fragte sich, ob die Frage verheiratet oder nicht überhaupt für eine Abenteurerin wie sie von irgendeiner Wichtigkeit war, und ob er nicht zu früh triumphiert hatte.

Phuong blieb eine Weile vor der Tür stehen und überließ sich seinen Erinnerungen. In dem Augenblick, als er sich entschlossen hatte, zu klopfen, ging die Tür auf. Thuong ging auf ihn zu, mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen: „Oh, oh, welch ein mutiger Mann!” sagte sie, „du solltest besser wieder hinaufgehen, denn deine Frau wird um diese Zeit schon wach sein!” Phuong drehte sich unwillkürlich weg, schien verwirrt, merkte aber dann, daß er sich lächerlich gemacht hatte und sagte leise: „Was willst du hier?” Thuong stand immer noch an der Tür, eine Hand an die Hüfte gestemmt, das Haar gelöst. Ihre Haltung war mehr als provozierend. „Sei unbesorgt”, antwortete sie, „ich bin nicht deinetwegen gekommen.” Da hörten sie Ngoc oben im Haus husten. Phuong sagte sehr hastig: „Verzeih, daß ich dich belogen habe. Meine Frau und ich, wir hatten damals ...” Thuong hob abwehrend die Hand: „Das hat nichts zu bedeuten! Ob du verheiratet warst oder nicht, kümmerte mich überhaupt nicht!” Sie brach in ein langes und lautes Lachen aus. Verstört gab Phuong ihr ein Zeichen, daß sie den Mund halten solle, gab es dann auf und flüchtete am Haus entlang in den Garten. Dabei trat er heftig gegen die tauben Kokosnüsse, die von den Bäumen gefallen waren.

Alle waren schon aufgestanden. Lam jätete gerade im Garten, als er Thuong lachen hörte. Er rannte sofort ins Haus, um zu erfahren, warum sie so fröhlich war. Als er an die Küchentür kam, sah er drinnen Thuong, die ihr Haar aufsteckte. Ihre Augen leuchteten. Sie machte ihm ein Zeichen, näher zu kommen. „Wenn man dich fragt, mußt du sagen, daß ich wegen dir gelacht habe”, warnte sie. Während Lam mit dem Kopf nickte, trat seine Mutter herein und warf ihm einen strengen Blick zu. Thuong senkte bescheiden ihren Kopf: „Verzeihen Sie ...”, sagte sie sanft; Ngoc wandte sich an ihren Sohn. „Es ist meine Schuld”, murmelte Lam, „ich habe sie zum Lachen gebracht ...” „Raus hier!” schrie Ngoc ihren Sohn an. Und sie gingen weg, die winzige Mutter voran, gefolgt von ihrer Bohnenstange von einem Sohn.

Am Nachmittag reiste Thuong ab. Sie trug dieselbe Reisetasche und sie war genauso angezogen wie am Tag ihrer Ankunft. Herr Hao seinerseits sah aus, als sei er plötzlich gealtert. Er bemühte sich, ihr zu erklären, daß sie hier wie zu Hause sei, daß sie so lange bleiben können wie sie wolle, daß seine Tochter Ngoc hier gar nichts zu sagen hätte... Aber Thuong begnügte sich mit einem Lächeln. „Ich gehe, weil ich die Möglichkeit gefunden habe, eine lange Reise zu machen”, sagte sie zu ihm, „Das ist der einzige Grund, ganz bestimmt”.

„Sie können sich auf dem Gepäckträger setzen, ich werde Sie zum Bahnhof fahren!” schlug ihr Lam vor. Ihre Reisetasche würde er vorne aufs Motorrad nehmen, so würde sie näher an ihn rücken. Die Honda fuhr den Berg hinab, in der prallen Sonne. Ganz unten war das Meer, das unschuldige und grenzenlose Meer. Hinter ihm sitzend betrachtete Thuong den sanften Nacken des Jungen und dachte bei sich, daß sie schon lange nicht mehr ein solches Gefühl von Frische empfunden habe. Sie hatte den Eindruck, daß das Abenteuer schon ganz nahe sei, daß aber zu viel Herz dabei sein würde. Sie zögerte einen langen Augenblick, bevor sie zu Lam sagte: „Eigentlich habe ich mich entschlossen, heute noch nicht abzureisen. Ich werde im Hotel Hong Hoa absteigen. Wenn du morgen Nachmittag Zeit hast, komm mich abholen, wir werden zum Strand gehen.”

„Einverstanden!”, sagte Lam „Um wie viel Uhr soll ich Sie abholen?”

Am nächsten Tag kam Lam gegen fünf Uhr. Man sagte ihm im Hotel, daß Mademoiselle Thuong schon abgereist sei. Sie habe gerade erst das Hotel verlassen und einen Brief für ihn da gelassen, weil sie es sich anders überlegt habe … Und man riet ihm, sich zu beeilen, wenn er sie noch sehen wolle. Wenn er sehr schnell sei, habe er noch eine Chance, sie einzuholen...

Quelle: Phan Thi Vang Anh: Thuong,
in: Truyen Ngan bon cay but nu [Kurzgeschichten von vier Autorinnen], Hanoi 2002,
übersetzt von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 1/2011

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