Eine kleine Tragödie

Erzählung von Le Minh Khue

Im Auftrag der größten Zeitung der Provinz begab ich mich in den Kreis V., um über den Mord an einem Mann zu recherchieren, der von seinem Sohn verübt worden war. Nach eigenem Eingeständnis hatte dieser seinen Vater vorsätzlich getötet. Nachdem er ihn getötet hatte, schleppte er die Leiche in den hinteren Teil des Gartens, schlitzte ihr den Bauch auf, um die Leber zu entnehmen... Ich traute mich nicht, ihm Fragen zu stellen, ich beobachtete ihn nur durch die Gitterstäbe seiner Zelle im Kreisgefängnis, während ich mir vornahm, einen kleinen Überblicksartikel über die wachsende Kriminalitätsrate in dieser Gegend nach dem Krieg zu schreiben... Inzwischen hatte ich einen Brief von Onkel Tuyen erhalten. Darin erzählte er mir, daß am Ende des Monats mein Kusine Cay - seine älteste Tochter - mit ihrem Verlobten aus Ho Chi Minh-Stadt heraufkommen würde, um die Familie zu besuchen. Quang, der junge Mann, war aus dem Ausland heimgekehrt, um die Vorteile des Investitionsgesetzes zu nutzen und einen Joint Venture-Betrieb zwischen der Provinz und der französischen Firma S. aufzubauen. Er hatte Cay nicht bei seiner Arbeit getroffen, sondern bei einer Zusammenkunft einiger Übersee-Vietnamesen, die ebenfalls wegen des Investitionsgesetzes zurückgekehrt waren, mit etwa zwanzig typisch städtischen Intellektuellen... Nach der Konferenz sangen die Leute und rezitierten Gedichte. Es traf sich gut, daß Quang ein Amateurmusiker und Sänger war. Er sang so schön, daß Cay ihre Augen nicht von ihm wegwenden konnte. In dieser Atmosphäre, als alle Hindernisse ignoriert werden konnten, lernten sie einander kennen, verliebten sich und beschlossen zu heiraten. Die Kinder meines Onkels Ca sowie Cays Brüder und Schwestern waren schon nach Ho Chi Minh-Stadt gezogen. Sie waren jung und machten sich auf in die Welt. Einige meiner Vettern und Kusinen hatten Ausländer geheiratet, und so war die Liebe zwischen Cay und Quang, der einen französischen Paß hatte, nichts Ungewöhnliches. Onkel Tuyen und seine Frau waren beruhigt, weil viele ihrer Kinder, Neffen und Nichten dabei gewesen waren, als Quang in den Clan da unten in Ho Chi Minh-Stadt aufgenommen wurde. Jetzt wollte Cay ihn formell seinen zukünftigen Schwiegereltern im Norden vorstellen. Dann würde Quang geschäftlich nach Frankreich reisen und dann gleich seine Mutter mit zurückbringen, damit sie sich um die Hochzeit kümmern könnte.

Ich hatte ein schlechtes Gefühl in bezug auf meinen Auftrag, im Kreis V. eine Reportage zu schreiben. Der Mann, der seinen Vater ermordet hatte, ging und ging mir nicht aus dem Kopf: Äußerlich war er ganz normal, ja sogar langweilig. Aber er hatte ein sehr bleiches Gesicht. Zweimal war ich schon auf der Straße Augenzeuge eines Mordes gewesen. Die Mörder waren keineswegs besonders groß oder böse. Sie waren eher bleich, kalt, hager und entschlossen. Diese Leute konnten töten, ohne Entsetzen, Reue oder Mitleid zu empfinden... Der Mann im Kreis V. war von der Art. Er schien mit sich zufrieden, gleichgültig und sehr kalt... Seine Frau war mit dem Kind spurlos verschwunden, denn welches Mitgefühl könnten sie von ihm erwarten, der seinen eigenen Vater ermordet hatte? Die Leute versuchten gerade herauszubekommen, ob er geisteskrank war. Er selbst schien uninteressiert, so wie er da saß hinter den Metallstäben...

Aber ich mußte meine Arbeit liegen lassen und zurückkehren. Ich fuhr mit einer Gruppe von Reportern aus Hanoi, die auch in meine Provinzstadt wollten. So konnte ich ein wenig Geld sparen und es mir leisten, für Cay ein nettes kleines Geschenk zu ihrer Verlobung zu kaufen. Von Onkel Tuyens Kindern mochte ich sie am meisten, sie rief in mir immer die Vorstellung hervor, daß die Menschen gut sein können, schön sein können, so wie sie. Sie war 1957 geboren und hatte seither in einer Familie gelebt, die nur für höhere Beamte bestimmte Lebensmittelmarken zugeteilt bekam. Mit 17 Jahren ging sie nach Europa an die Universität und lernte einen außergewöhnlichen Beruf: Feuerbestatterin. Eigensinnig, wie sie war, konnte niemand sie davon abbringen. So blieb sie 6 Jahre lang im Ausland. Onkel Tuyen schaffte es immer wieder, irgendwelchen "Burschen", die als Spezialisten nach Europa fuhren, Sachen für seine "Prinzessin" mitzugeben, und konnte auf diese Weise so gut für sie sorgen, daß die jungen Männer in Frankreich höchst beeindruckt waren. Im Sommer konnte sie in ihrem Wohnheim, einen halben Erdkreis entfernt von zu Hause, Lotusblüten aus ihrer Heimat in die Vase stellen, die im Kühlraum des Flugzeugs frischgehaltenen worden waren. Und immer, wenn die Spezialisten eine Reise machten, konnte sie frische Austern genießen. Sie speiste frischen grünen Wasserspinat und Fischsoße, und sie konnte sogar ihr Haar mit Zitronengrasblättern oder anderen Kräutern waschen... Sie genoß alle diese Dinge, als ob es sie so reichlich gäbe wie die Luft, die wir atmen. In dieser Zeit lebte ich auch in einem Heim, in Vietnam. Ich schlief im unteren Stockbett und entwickelte eine Allergie wegen des Staubes, der von den hölzernen Bettlatten über mir herabfiel: Die Zimmergenossin über mir nahm sich nie die Mühe, ihr Bett zu reinigen, bevor sie sich zum Schlafen legte. In dieser Zeit aßen die Jungen ihre Mahlzeiten in einer Gemeinschaftsküche und benutzten dabei niemals Schälchen. Der Reis wurde in eine Schüssel geschüttet, dann kamen die Zutaten dazu, und alle löffelten eifrig daraus. Die Treppenhäuser in den Heimen waren durch Abfälle und Urin verdreckt. Die zukünftigen Intellektuellen verbrachten ihre Tage damit, am Tor der Universität auf Pump Tee zu trinken. Ihre Haare waren lang und ungepflegt, ihre Hautfarbe bleich vor Unterernährung. An manchen Tagen gab es überhaupt keinen Reis, und dann erhielt jeder eine sogenannte "Faust" - eine Handvoll steinhart gedünsteten Weizenmehls mit einem armlangen Strang Wasserspinat als Füllung... Ich erzählte Cay diese Geschichten aus meiner Studentenzeit, aber sie schien uninteressiert und lächelte nur manchmal. Ich fragte sie, ob ihr das alles bekannt sei. Natürlich, antwortete sie dann und lachte nur. Ich wußte nicht, worüber sie lachte, aber ich wußte, daß sie es nicht böse meinte. Vielleicht dachte sie: Immer dasselbe. Wir haben unser Schicksal zu nehmen, wie es kommt. Für wen verläuft das Leben schon wunschgemäß?

Cay trat der Kommunistischen Partei bei, als sie in Europa war. Dann arbeitete sie mehrere Jahre als Funktionärin. Die Dinge flogen ihr ganz natürlich zu wie die Luft dem Atem. Sie verliebte sich in einem jungen Mann aus Polen, lehnte es aber ab, ihm in sein Land zu folgen. Sie liebten sich sehr, aber der Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren, war größer als alles andere. Wenn die eigene Familie über alle modernen Annehmlichkeiten verfügt, ist es besser, in einem armen Land zu leben als im Ausland. Man muß sich nicht die geringste Mühe geben, und kann doch im Überfluß leben. Das war die materielle Seite. Was ihr geistiges Leben betrifft, so war Cay eine starke Persönlichkeit und würde sich niemals an eine fremde neue Lebensweise anpassen. Wieso sollte sie auch? fragte sie mich. Wenn er sie liebte, dann sollte er ihr nach Vietnam folgen!

Nach ihrer Rückkehr nach Vietnam hatte sie die Wahl zwischen den sechs besten und angesehensten Institutionen und entschied sich zuletzt, in ein Forschungsinstitut zu gehen. Ihre Kenntnisse im Krematoriumswesen gab sie auf. Wo würde man in Vietnam genügend elektrische Energie finden, um Leichen zu verbrennen? fragte sie, und lächelte! Dann ging sie zur Arbeit ins Forschungsinstitut und es gelang ihr, stets gut zu riechen und sich so sauber zu halten, daß an ihren Füßen niemals auch nur ein Staubkorn zu finden war. Sie lebte mit ihren Eltern in einer der für hochrangige Beamte reservierten Villen dieser nur der Zentrale unterstellten Stadt, der zweitgrößten im Norden.

Diese Villen, in denen Kader wie Onkel Tuyen wohnten, waren ein Rätsel für die Leute. Einmal, als ich in die Hauptstadt zurückgekehrt war, ging ich eine Freundin besuchen. Sie war die Tochter eines Kochs, der für eine hochgestellte Persönlichkeit arbeitete. Sie wohnte mit ihrem Vater in einem Zimmer der Villa. An der Straßenecke kam ein grüngekleideter Soldat aus seinem hölzernen grünen Wachhäuschen. Steinerne Miene, mißtrauischer Blick: Was wollen Sie? Er prüfte genau meine Personalpapiere. Dann ließ er mich dort stehen und ging, das Gewehr im Anschlag, zum Tor und klingelte. Ein gelbgekleideter Soldat erschien, der mich ebenfalls mit stahlhartem funkelndem Blick musterte. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte. Der gelbe Soldat verschwand in der Villa. Einen Augenblick später kam ein Mann in Zivil auf mich zu. Er starrte mir ins Gesicht wie ein Forscher im Labor eine Mikrobe unter dem Mikroskop betrachtet... Als dann schließlich die Tochter des Kochs auftauchte, war mir schon der kalte Schweiß ausgebrochen. Nach dieser Erfahrung hatte ich keine Lust mehr, sie zu besuchen. Was hatte die Tochter eines Kochs in einem solchen Haus zu suchen?

Alle diese lästigen Sicherheitsvorkehrungen zwangen die jungen Leute, die in solchen Villen wohnten, in die Isolation von der Alltagsgesellschaft, und das brachte mich dazu, eine Antipathie Onkel Tuyens Kindern gegenüber zu entwickeln. In den Provinzstädten waren die Verhältnisse ziemlich genauso wie in der Hauptstadt, und in gewisser Hinsicht sogar noch lästiger, und das machte mich krank. Cay hatte sehr wenige Freunde und sie ärgerte sich, wenn sie mit ihren Eltern zusammen war. Oft floh sie zu mir in mein Zimmer im kommunalen Wohnblock und zwängte sich mit in mein Einzelbett. In regnerischen Nächten kuschelten wir uns auf dem Bett zusammen vor Kälte, denn der Regen tropfte in das Zimmer. Eigentlich beneidete sie mich nicht um mein kärgliches Leben, es war nur, daß sie ihres Lebens im Überfluß oft überdrüssig war. Sie sagte zu mir: Wenn immer alles nach Wunsch geht, ist das auch nicht gerade toll! Vielleicht machen ein paar Schwierigkeiten das Leben interessanter! In jenen Tagen wurde ich ihre Freundin.

Während der ganzen Zeit, in der Onkel Tuyen im Amt war, habe ich nie einen Fuß in die gutbewachte Villa gesetzt. Wie sorgfältig verschlossen das Tor auch war, ist es einem geschickten Burschen doch gelungen, hineinzukommen. In dieser Zeit waren farbige Photos noch sehr selten. Der Junge war Ingenieur und arbeitete in einem Büro in der Nähe von Cays Institut. Er fragte sie, ob er kommen und als ein Geschenk einige Farbaufnahmen ihrer Familie machen dürfe. Onkel Tuyens Frau stammte aus einer Händlerfamilie und hatte vor ihrer Ehe als Verkäuferin in einem Kurzwarengeschäft am Stadtrand gearbeitet. Deshalb war sie ganz verrückt darauf, photographiert zu werden. Sie forderte Cay auf, dem Ingenieur zu sagen, daß er vorbeikommen solle. Die Ehefrau und die Söhne und Töchter des hohen Beamten waren hingerissen von den Farbphotos. Auch Onkel Tuyen selbst war photographiert worden. Er trug einen Anzug und stand feierlich neben seinem Wolga. Sein Pekinese hockte auf dem Autodach, und so sah mein Onkel auf dem Bild aus wie das Oberhaupt eines fremden Landes. Nur Cay blieb gleichgültig. Doch dann geschah das Unerwartete: Der Ingenieur wurde ein häufiger Gast im Hause und aß mehrmals zu Abend mit meinem Onkel und seiner Frau. Da machte er Cay einen Heiratsantrag und sie sagte ja. Der Junge war sehr hübsch, intelligent und fröhlich. Er war hochgewachsen, ohne linkisch zu wirken und er hatte schlanke Finger. Cay wußte natürlich, daß ein Mann mit schönen und geschmeidigen Händen zu wenig nutze war und seiner Frau sogar Unglück bringen konnte, aber sie zog trotzdem das Brautkleid an. Sie lebten fast ein Jahr zusammen. Es gab viele Nächte, in denen sie plötzlich in meiner Wohnung erschien und erschöpft dasaß. Sie sprach selten schlecht über ihren Mann, aber sie schien wachsenden Widerwillen gegen ihn zu empfinden. Damals vermutete ich, daß es der schwankenden Natur der Mädchen und Frauen zuzuschreiben war, die äußerlich vom Schicksal verwöhnt sind. Dann flüsterte sie mir eines Tages ins Ohr, als würde sie ein schreckliches Geheimnis verraten:

"Soll ich dir etwas sagen?", fragte sie.

"Natürlich.", sagte ich.

"Ich bin niemals glücklich gewesen."

"Wer weiß, was Glück ist und was nicht?"

"Aber es stimmt", versicherte Cay, "Ich habe niemals das Glück gekannt."

"Glück ist etwas sehr seltenes, meinst du nicht?"

"Vielleicht. Ich habe mich immer sehr angestrengt, aber ich bin nirgendwo angekommen... Ein Mensch wie ich dreht sich im Kreise, findest du das nicht seltsam? …"

Die Tatsache, daß er nun der Schwiegersohn eines hochrangigen Kommunalbeamten geworden war, gab Cays Mann das Recht, seinen Platz zu wählen und über ein entlegenes, niemanden tangierendes Thema zu forschen. Er flog ins friedliche Europa, obwohl er sich tief unglücklich fühlte, weil Cay vor seiner Abreise die Scheidung verlangt hatte. Niemand konnte sie von diesem Entschluß abbringen. Ich habe ihr das oft vorgeworfen.

Schließlich sagte sie gleichgültig: "Schau mal, wer ist als Gewinner aus dieser Ehe hervorgegangen? Er, nicht wahr? Er war der große Gewinner. Er hätte nie im Leben eine Chance gehabt, nach Europa zu gehen, wenn er mich nicht geheiratet hätte. Durch unsere Ehe hat er sehr viele Vorteile gehabt."

Ich habe noch nie jemanden getroffen, der einen Mann so verabscheut hat wie Cay ihren Ex-Ehemann. Wann immer sie über ihn redete, war sie atemlos und tief verbittert.

Und dann löste sie sich von ihrer Familie und ging in den Süden, um dort allein zu leben. Ehe sie wegging, kam sie mich im Wohnheim der Zeitungsredaktion besuchen und aß mit mir Nudelsuppe mit Krabben. Sie war im besten Alter. Sie hatte genau die richtige Größe. Ich war sehr stolz auf sie, denn ihre Schönheit war von einer Art, wie man sie selten sieht. In den Straßen sah man nur Gestalten, die nach einem bestimmten Muster geformt waren, so daß sie einander glichen wie die Abgüsse einer Gußform, sie dagegen machte schon beim ersten flüchtigen Blick Eindruck. Ihre Augen, ihre Augenbrauen, ihre Lippen, hoben sich wohl geformt von ihrem braunen Teint ab. Ihre Schönheit war von im Norden seltener Art. Die Nordvietnamesen bevorzugen Frauen von zierlicher Gestalt, mit einer hellen und weichen Haut, und so wurden nur sehr wenige auf sie aufmerksam. So zeigten sich die Menschen auf der Straße völlig unbeeindruckt von ihrer strahlenden Schönheit. Sie aß gern gut und trug gern schöne Kleider, sie kostete die glücklichen Momente aus wie sie kamen. Davon abgesehen sorgte sie sich nicht wirklich um irgend etwas. Ich nannte sie oft zum Spaß eine Gräfin. Sie lachte nur: Das ist Schicksal; Alles hat seinen Preis. Bestimmt zahlt sie gerade für etwas, dessen sie sich noch nicht bewußt ist.

***

Ich saß im Bus, der in meine Stadt fuhr, die Provinzhauptstadt. Unsere Provinz ist groß, fast wie ein kleiner Staat, und es würde den ganzen Tag dauern, um von dem abgelegenen Kreis V. ins Provinzzentrum zu kommen. Die Reporter aus der Hauptstadt recherchierten eine Geschichte in der Provinz. Sie verrieten nichts darüber. Sie waren in den Kreis V. gekommen, um dort ein paar Leute vom Büro des Inspektors zu treffen, und hatten sich dann eilig auf den Rückweg in die Provinzhauptstadt gemacht. Es waren drei junge Männer. Die Arbeit, die sie machten, ließ sie seriös wirken, aber sie brachten es trotzdem fertig, viel Spaß zu haben auf der Fahrt. Sie erzählten interne Anekdoten über die Presse und lachten, während ich nur an meine Nichte Cay dachte und an den Brief von Onkel Tuyen über ihren bald bevorstehenden Verlobungsempfang.

Vor drei Jahren war Onkel Tuyen in den Ruhestand gegangen. Seine Villa hatte keine Sicherheitswächter mehr und es gab keine ärgerlichen Formalitäten mehr. Jetzt nahm er seine Mahlzeiten mit seiner Frau und seinen Kindern ein, goß die Blumen im Garten oder schaukelte in einer Hängematte, die zwischen zwei schattigen Bäumen befestigt war. Er hatte jahrelang an der Spitze der Einwohnerschaft gestanden, das höchste Einkommen und die besten Privilegien und Vergünstigungen in der Provinz genossen. Im Innern seines Hauses war alles, vom Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch bis zu den Bildern, die im Salon hingen, vom Bücherregal bis zur Fußmatte …, absolut alles vom Staat zur Verfügung gestellt worden, und als er in den Ruhestand ging, überließ man es ihm zum Eigentum. Er hatte das alles so selbstverständlich genossen wie die Luft zum Atmen, und nun, als Rentner, fühlte er ein tiefes Unvermögen, mit dem Alltagsleben fertig zu werden. Denn als er nun mit dem Leben, das einfache Bürger führen, in Berührung kam, war ihm, als schliche sich ein bärtiger, dreckiger Fremdling in sein Haus ein. Und er konnte nichts dagegen tun. Beim Einkaufen verhielt er sich töricht. Er regte sich auf über die sinkende Kaufkraft der Währung, die Unhöflichkeit der Verkäufer, die Tatsache, daß "alles auf den Hund gekommen ist"... Er glich vielen Leuten seiner Generation und seiner Position darin, daß er niemals herauszufinden versuchte, warum die Dinge sich so verhängnisvoll entwickelt hatten. Er würde es nie zugeben wollen, daß er selbst mit dafür verantwortlich zeichnete, daß "alles auf den Hund gekommen" war. Er regte sich auf, weil man jetzt jedes Kilo Fleisch und sogar das Pfund Butter, das ihm mehrere Tage zum Frühstück reichte, peinlich genau notierte. Der Lebensmittelladen, der hochrangige Kommunalbeamte belieferte, was angesichts der dringenden Bedürftigkeit der Studenten, die nur Lebensmittelkarten für hundert Gramm Zucker pro Monat erhielten, ein gutgehütetes Geheimnis war, dieser Laden entzog ihm und seiner Familie nach und nach das Vergnügen, sich alles Gewünschte zu verschaffen.

Die Reporter in dem Bus wußten nicht, daß ich eine Nichte des Herrn Tuyen war. Vielleicht hätten sie auch nie gedacht, daß seine Nichte so ein ärmlicher, schwer schuftender Mensch wie ich sein könnte - eine Reporterin, die ihr klappriges Fahrrad nur auf dem Dach des Busses festgebunden hatte, weil sie ein Freiticket hatte, eine Reporterin, die zum Arbeiten nur einen Notizblock aus der Tasche zog, weil sie weder ein Tonbandgerät noch eine Kamera hatte...

Der junge Mann mit den schiefen Zähnen drehte sich um zu mir und fragte: "Haben Sie als Reporterin der Provinzzeitung jemals Herrn Tuyen interviewt?"

"Nein."

"Wie schade! Eine so bekannte Person, und Sie haben nicht mit ihm gesprochen."

Der Mann neben mir lachte.

"Er würde niemals bereit sein, Sie zu empfangen. Zu seiner Zeit wollte er sich nur treffen mit Reportern, die … Wie soll ich sagen? … mit solchen, die ein Brustbild von ihm machten. Denn er war immer sehr zugeknöpft. Und die Leute durften ihn auf dem Bild nur von der Brust aufwärts sehen, zugeknöpft bis zum Kinn. Manchmal fragte ich mich, ob jemals zur Toilette ging und ob er sich auszog, wenn er sich schlafen legte."

Alle lachten. Ich nicht. Wie auch immer, Onkel Tuyen war ein Verwandter von mir... Die Dämmerung brach herein. Der Bus überquerte einen Fluß, der noch immer seicht war, denn in dieser Jahreszeit steigt der Wasserspiegel noch nicht an. Mais, Süßkartoffeln und rote Kürbisse wuchsen an beiden Ufern, Kinder spielten laut lachend Fangen. Die eiserne Brücke, die man nach dem Krieg repariert hatte, hob sich mit ihrem ungewöhnlichen Grün scharf vom Wasser und dem Himmel ab. Vor langer Zeit war die Brücke majestätisch gewesen, aber im Krieg war sie bombardiert und zerstört worden.

Der Mann mit den schiefen Zähnen drehte sich erneut zu mir um: "Zu Beginn des Krieges war es hier furchtbar", sagte er.

"Inwiefern?"

"Zu der Zeit war ich Artillerist auf der anderen Seite des Flusses, wenn ich mich richtig erinnere. Die F105 bombardierten jeden Tag, bis es keine frische Luft mehr zum Atmen gab. Dennoch sahen wir eines Tages Menschen in Scharen, zu Tausenden herbeiströmen. Auf unsere Fragen grummelte der Kompanieführer, der später in einer anderen Schlacht sein Leben opferte: Laut Befehl des Sekretärs der Provinzleitung müssen diese jungen Leute Bombenkrater auffüllen. Was? Bei hellichtem Tage? Gewiß! Der Kompanieführer geriet außer sich. Was für ein irrsinniger Befehl. An einem sonnigen Tag wie diesem wird das ein Massaker geben. Und tatsächlich war um 8 Uhr morgens bereits eine AD6 in der Ferne erschienen und hatte mit ihren Flügeln gewackelt, um den Weg zu zeigen. Dann kamen die F105 heruntergestürzt, eine Welle nach der anderen. Unsere Luftabwehr kämpfte tapfer. Wir schossen eine AD6 ab..."

"Und die Leute?"

"Die jugendliche Vorhut? Ich habe noch nie so viele Menschen auf diese Weise sterben sehen. Sie hatten kein Gewehr, standen da mit leeren Händen, völlig hilflos; Sie rannten wie die Ameisen über das nackte Ufer, wo die Bomben schon alle Bäume niedergemacht hatten. Ich versuchte, drei junge Mädchen aus einem Erdloch auszugraben, aber sie starben so eng ineinander verschlungen, daß ich ihre Glieder nicht voneinander lösen konnte. Ich schluchzte laut los. Später hat der alte Koch sie irgendwie herausgeholt. Es waren alles Leute aus der Stadt... Ich habe niemals so viele Menschen so sterben sehen. Es war fast Morgen, als wir endlich die vielen Leichen weggebracht hatten. Und währenddessen griffen die US-Flugzeuge noch zwei Mal an, mitten in der Nacht … Da warfen sie Splitterbomben."

"Und Herr Tuyen?"

"Wieso?"

"Wurde er dafür bestraft, daß er diese jungen Menschen bei hellichtem Tag zum Auffüllen von Bombentrichtern geschickt hatte?"

"Ganz und gar nicht. Es gab nur folgende Meldung in der Zeitung: Bei der Brücke G wurde eine AD6 abgeschossen. Die Soldaten und die Bevölkerung führen weiterhin einen großen heldenhaften Kampf..."

Alle im Bus schwiegen. Sogar der Fahrer fuhr langsamer. Fast zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Ich drehte mich um und schaute zurück und war mir fast sicher, daß die Blicke der Toten auf mir lasteten, wehklagend und vorwurfsvoll. Nach einigen Momenten des Schweigens sagte der Mann mit den schiefen Zähnen mit vor innerer Bewegung zitternder Stimme: "Zahllose Menschen starben. Dabei hätte das doch verhindert werden können. Warum läßt man Tausende von Menschen am hellichten Tag ohne jede Deckung? Das ist die Tat von einem, der gerne Menschen sterben sieht. Der gerne Menschen wehrlos sieht..."

"Vergiß nicht, daß 1976 noch ein anderer Skandal passiert ist."

"Ich weiß, was geschehen ist."

Der Fahrer neigte den Kopf in unsere Richtung. Er war zu der Zeit im Süden gewesen, er konnte nichts wissen. Der Mann mit den schiefen Zähnen ließ sich Zeit. "Das war wieder Herr Tuyen," erklärte er, "Es ging um ein großes Projekt, das viel Arbeitskraft erforderte. Er warf Tausende von jungen Leuten in dieses Bewässerungsprojekt. Die Geologie dieses Areals von Q. war nicht stabil. Es lag an einem Berg aus Kalksteinfelsen, und es gab versteckte Wasserlöcher unter der Oberfläche. Die Geologen warnten ihn, aber er wollte nicht auf sie hören. Die Trommeln ertönten, die Fahnen wehten, jedermann war voller Eifer. Die Banner und die Slogans waren alle von hellem Rot. Aber es gab keine Maschinen, und als der Boden einbrach, gab es nichts, womit man all diese Leute hätte herausholen können, die dort lebendig begraben lagen."

"Wie viele starben?"

"Die Zahl wurde nicht bekanntgegeben. Wissen Sie es zufällig?"

"Nein."

Tatsächlich war mir dieses Ereignis bekannt, jedoch hieß es damals, es sei ein kleines Erdbeben gewesen. Hundertsechsundachtzig Menschen kamen ums Leben. Und alle waren jung...

Der Mann mit den schiefen Zähnen seufzte. "Danach, nach diesem Einbruch, nach dem Tod dieser Menschen ging der Enthusiasmus stark zurück. Das ganze Projekt fiel ins Wasser. Und niemand weiß, wie viele Milliarden Dong verloren gegangen sind. Das Geld in diesem Land ist eine Art Totengeld. Haufen für Haufen wird aufgeschichtet und verbrannt. Millionen und Milliarden. Milliarden und Millionen. Diese ganzen ungeheuren Summen bleiben geheim."

"Es geht schon ziemlich lustig zu in unserem Land, alles wird geheim gehalten. Um das Ansehen von irgend jemand zu schützen, bleibt alles im Dunklen, niemand weiß, was er von den Dingen halten soll."

"Ehe er in den Ruhestand ging, war er noch in ein weiteres Debakel verwickelt. Oder vielleicht noch ein paar mehr."

"Erzähl schon."

"Das gibt es diesen Vorfall, den die Presse erst kürzlich ausgegraben hat. Es geschah während der Hochwasserperiode. Er befahl allen drei Kreisen, Fischteiche auszuheben. Die jungen Leute sollten alle ihre sonstigen Arbeiten aussetzen, um diese Teiche zu graben. Es regnete in Strömen. Das Wasser stieg. Es überflutete bald alle Teiche. Das war das Ende der Fischzucht und die Leute waren auch am Ende. Ich hörte, daß einige vor Hunger starben."

"Das war vorauszusehen gewesen!"

"Wissen Sie etwas davon? Sie wohnen doch hier, nicht wahr?"

"Nein, ich weiß nichts davon", sagte ich.

"Dann sind Sie wirklich eine ungefährliche Reporterin. Schreiben Sie denn nur, was man Ihnen sagt?"

"Ja."

Ich sagte ja, um dem Thema auszuweichen. Es gab ja so viele solcher Geschichten über Onkel Tuyen. Die Reporter in unserer Provinz wußten davon, erwähnten sie jedoch niemals. Wir waren stets aufgefordert worden, das Ansehen unserer Genossen in der Provinzverwaltung zu wahren. Manchmal tat mir das weh, weil es mein Onkel Tuyen war, der indirekt unzählige Menschen getötet und dem Leben vieler anderer soviel Leid zugefügt hatte. Er quittierte seinen Dienst mit tadellos sauberen Händen und dem guten Gewissen, stets seine Pflicht erfüllt zu haben. Seit er im Ruhestand war, rief er mich oft an und lud mich ein, vorbeizukommen. Ich war böse auf ihn und besuchte ihn ein Jahr lang nicht. Aber Cay schrieb mir Briefe aus Ho Chi Minh- Stadt, in denen sie mich bat, zu ihm zu gehen. Sie schrieb, er habe keine Freunde. Zu Hause war er noch einsamer, denn er hatte sein ganzes Leben lang die Familie wie ein Tyrann beherrscht. Er kümmerte sich um ihre Arbeit, um ihren Lebensunterhalt und ihre Zukunft, war aber sehr sparsam mit seiner Zuneigung. Er präsentierte sich gegenüber seiner Familie auf dieselbe Weise wie auf jenem Portrait, das im Salon an der Wand hing: reserviert, hart, gleichgültig. Aber jetzt war er schwach, schrieb Cay.

Ich glaubte nicht, daß er schwach war. Von Berufs wegen war ich oft zu seinen politischen Ansprachen vor den zentralen Organen der Provinz gegangen. Üblicherweise verkündete er dort einen neuen Beschluß. Dann, einige Monate später, würde er hingehen und den alten Beschluß liquidieren und einen neuen preisen. So ging es jahrelang. Ich fand ihn immer unbeschwert und gleichgültig, wenn er vor den Massen sprach. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß er seine Zuhörer verachtete, dies aber zu verbergen suchte. Er hatte es niemals nötig, sein Taschentuch zu ziehen und sich die Tränen abzuwischen, wenn er vom Podium aus zu den Leuten sprach. Er hatte eine starke Selbstbeherrschung und es fiel ihm schwer, eine Träne zu vergießen. Das mochte ich an ihm.

Die Reporter aus Hanoi diskutierten immer noch über meinen Onkel Tuyen. Sie hielten sich jetzt nicht mehr zurück, und man kann schon sagen, daß sie alle eine scharfe Zunge hatten. Sogar der Fahrer mischte sich ein. Er drückte einen Gedanken aus, den ich oft gehabt hatte.

"Es ist eben so", sagte er, "Immer hat ein einziger die Macht über Millionen Menschen. Und wie immer sie es anstellen, sie können es immer noch nicht ändern..."

Der Mann neben mir kicherte. "Die ganze Welt funktioniert so. Wie die Hirschkäfer kämpfen die Menschen aufgebracht gegeneinander, bis einer auf dem Rücken liegt. Ihre Vorstellungen sind erschreckend. So kann irgend so ein Kerl heranwachsen, der es allen zeigen will. Irgendwann einmal möchte er es krachen lassen, und a le hop … aus ist es."

Alle lachten laut und hatten Spaß. Der Mann mit den schiefen Zähnen wandte seinen Kopf abermals um: "Glauben Sie, daß Herr Tuyen Spaß daran hatte, all das zu tun?", fragte er.

"Vielleicht. Er ist schlau genug, um zu wissen, was man tun soll und was nicht."

"Ich glaube das auch!" sagte der Fahrer mit schräg gedrehtem Kopf. Und alle schwiegen, als ginge ihnen etwas durch den Sinn, über das man nicht spaßen kann.

Dem Wunsch Cays folgend, besuchte ich Onkel Tuyen. Es stellte sich heraus, daß es ziemlich interessant war, mit ihm zu reden, so daß ich öfters hinging und seine Vertraute wurde. Er lobte meine Artikel. Ich aber wollte herausfinden, was sich hinter seinem Anschein von Gleichgültigkeit verbarg. Ich dachte, jetzt hat er ja nichts mehr zu verlieren, nichts mehr zu verstecken. Vielleicht könnte ich ihm ja ein paar direkte Fragen stellen. Und so fragte ich ihn bei jedem Besuch über die Maßnahmen aus, die er getroffen hatte und über die die Leute immer noch so erbittert waren. Aber es gelang mir nicht, ihm irgendeine Erklärung zu entlocken. Meistens hörte er mir ziemlich aufmerksam zu und lächelte nur.

Er fragte mich oft: "Ist es so? Haben sie das wirklich gesagt? Was meinst du?"

"Warum hast du das getan?"

"Aber was hätte ich als Einzelner denn tun können?"

"Vielleicht hättest du die anderen davon abhalten können..."

"Ich konnte gar nichts tun. Eines Tages wirst du verstehen. Und jetzt laß uns von etwas anderem reden!"

Wir saßen oft auf den marmornen Stufen beieinander, die in den Garten führen. Unsere Gespräche liefen immer so ab. Er wollte die Auseinandersetzung mit einer versöhnlichen Note abschließen, was nicht meiner Vorstellung entsprach. Sehr oft beschwichtigte er meinen Hitzkopf mit einen kühlen Lächeln hinter seinem ergrauten Schnurrbart.

"Warum gräbst du Sachen aus, die das Leben komplizierter machen?"

"Aber eines Tages werden die Leute all das wissen müssen."

"Ich weiß. Aber wenn dieser Tag kommt, dann werde ich nicht mehr da sein. Sie können mich dann ja nicht aus meinem Grab ausgraben. nicht wahr?"

Ich seufzte. Das war nur zu wahr. Er hatte seine Mission erfüllt. In jeder Hinsicht war sein Werk vollendet... Wer weiß, wieviele schmutzige Wäsche es in jeder Familie gibt, im Leben eines jeden Einzelnen. Wieviel traurige Verwirrung. Wieviel Ungerechtigkeit. Wieviel sinnlose Bosheit dauerte fort bis in den Tod, bis ins Grab. Und volkstümlich lärmende mündliche Überlieferung konnte auch nicht alles geraderücken, was in der Befragung der Alten zutage trat.

Als wir Provinzzentrum ankamen, fiel die Nacht herein. Die Reporter gingen zu einer Kneipe, wo es ein billiges Abendessen gab. Sie bestanden darauf, mich zu dem kleinen Fest mitzuschleppen.

Der Mann mit den schiefen Zähnen schaute mich an: "Hier haben wir eine ‚Super'-Reporterin, aber sie fährt ein klappriges Fahrrad, lebt in einem 6 qm großen Zimmer, hat keinen Freund, verhält sich mit allzeit ernster Miene so, als bestehe die Welt vollständig aus wichtigen Themen. Ist Ihnen bewußt, daß Sie so wahrhaftig ein hoffnungslos überholtes Produkt darstellen?"

Alle brachen in lautes Gelächter aus, und ich konnte mich nicht zurückhalten und lachte mit.

Der Mann mit den schiefen Zähnen fuhr fort, mich zu necken: "Gerade wir sind die Verlierer. Wir sind wirklich machtlos, wir können doch nicht einmal am Lauf der Dinge kratzen. Und Herr Tuyen? Er genießt alle himmlischen Vorteile, und seine Kinder erfreuen sich an dem noch lange nachwirkenden Brimborium … Und am Ende nehmen sie im Vergleich zu uns immer noch einen angemaßten fürstlichen Rang ein..."

Der Fahrer schlug ruhig vor: "Jetzt aber Schluß damit. Es ist nichts, worüber man sich lustig machen kann."

Ich verabschiedete mich von den Reportern aus der Hauptstadt und schob das Rad durch enge Gassen. Ganz plötzlich fühlte ich mich nicht mehr aufgeregt. Ich dachte an Cay und mußte zugeben, daß der Mann mit den schiefen Zähnen recht hatte: "Die Kinder erfreuen sich an dem noch lange nachwirkenden Brimborium." Bis zum heutigen Tag war sie sehr glücklich, sie hatte einen Mann mit einem französischen Paß und war von Saigon aus mit ihm hierher geflogen… Ich könnte niemals so leben. Jeder Mann würde es abstoßend finden, wenn er in mein 6 qm Zimmer käme mit dem Einzelbett und dem Bücherregal… Er würde diese heruntergekommene Bleibe sehen und in ein vor lauter Einsamkeit und Entbehrung bleiches Gesicht blicken. Ich würde nie das Leben führen können, das ich mir wünsche. Cay genoß in ihrem Leben alles, ohne auch nur einen Tropfen Schweiß zu vergießen.

Ich trat in mein Zimmer ein, warf die Tasche aufs Bett und setzte mich erschöpft hin, ohne mir auch nur das Gesicht zu waschen. Manchmal muß man plötzlich an sein Schicksal denken und das erfüllt einen mit Selbstmitleid. Vielleicht geht es vielen Leuten so. Solchen, deren Leben zerbrechlich und ungeschützt ist...

Der junge Mann, der Telefondienst hatte, erschien. Ich sah ihn an: noch eine Seele, deren Leben nichts wert war. Er war groß und spindeldürr, hüstelte ständig und hatte in seiner Tasche lauter Zeitungsschnipsel, um sich die Nase abzuwischen. Er litt an einer chronischen Nasenentzündung. Kein Mädchen hätte einen Heiratsantrag von ihm auch nur in Erwägung gezogen.

"Hallo", sagte ich, "was gibt's Neues?"

"Sind Sie gerade erst zurückgekommen?"

"In dieser Minute."

"Sie hatten einen Anruf am späten Nachmittag. Jemand aus der Stadt. Kennen Sie jemanden dort?"

"Nur flüchtige Bekanntschaften."

"Sie wollte Sie sprechen. Es war eine Frau namens Cay."

Ich holte aus meiner Jackentasche ein paar Zigaretten, die ich mir bei einer Kreiskonferenz geschnappt hatte, und gab sie ihm. Er war überglücklich. Der Anruf war vielleicht nicht interessant, die Zigaretten sehr wohl.

"Oh, toll!", sagte er, "Danke, danke…"

Ich beschloß, ein Bad zu nehmen. Aber aus dem Wasserhahn im Gemeinschafts-Badezimmer kam kein Wasser - nicht einmal ein Tropfen. Einige Augenblicke später gingen die Lichter aus. Das Wohnheim der Redaktion war plötzlich wie ein aufgestörter Bienenstock. Mädchen und Frauen stellten ihre Stühle vor die Eingangstüren und schnatterten lautstark los. Hunde bellten, Katzen kreischten, Kinder schrieen. … Und keiner konnte das Gesicht des anderen sehen. Ich dachte, auch eine Szene in der Hölle könnte nicht schlimmer sein als das. Ich hatte es satt. Ich hing mein Moskitonetz auf und machte mich zum Schlafen fertig. Und Cay? Zur Hölle mit ihr! Das war nicht meine Welt. Das war eine Welt voller Licht.

Am nächsten Morgen lag ich noch im Bett, als ich ein Klopfen an der Tür hörte und eine unvertraute Stimme meinen Namen rief. Ich sprang aus dem Bett und warf einen schnellen Blick auf meine Haare im Spiegel. Sonnenlicht strömte durch das Fenster. Ich sah mir ins Gesicht, und alle Probleme schienen verschwunden. Ich riß die Tür auf: Cay.

"Hallo, kleine Schwester!"

Cay, meine Kusine. Mein Herz klopfte aufgeregt angesichts ihrer leuchtenden Schönheit. Sie sah noch viel besser aus als zuvor. Sie hatte ihre Gleichgültigkeit und Reserviertheit abgelegt. Ihre Augen umfaßten mich mit einem Blick inniger schwesterlicher Liebe.

"Ich habe so lange auf dich gewartet letzte Nacht", sagte sie, "jetzt bin ich wiedergekommen."

"Ich war zu erschöpft, als ich nach Hause kam."

"Du hast irgendwas. Es ist etwas passiert, nicht wahr? So müde, daß du nicht zu mir kommen konntest, warst du bestimmt nicht."

Ich konnte nur lächeln. Cay war so nett. Sie konnte immer in meinen Gedanken lesen.

"Kannst du deine Sachen aufräumen? Wir haben einen Gast."

"Wen?"

"Quang."

"O Gott! Warum hast du ihn hergebracht? Du machst mich krank."

"Mach dir keine Sorgen. Ich kenne ihn, es wird gut gehen."

Zusammen falteten wir das Moskitonetz und klopften die Bettdecke aus. Cay nahm den Staubwedel und fegte damit durchs Zimmer. In der Woche meiner Abwesenheit hatte sich eine dicke Staubschicht über alles gelegt. Cay drängte:

"Wasch dir das Gesicht!"

Ich öffnete den Koffer, zog die beste Bluse heraus und lief schnell zum Badezimmer. Was für ein Glück: Das Wasser lief, und auch das Licht war wieder da. Sonnenstrahlen überfluteten den Hof und den Weg hinter dem Haus. Ich nahm ein Bad und ging in ein Nachbarzimmer, um meine Haare zu kämmen. Im Spiegel sah ich vorzeigbar aus. Als ich in mein Zimmer zurückkam, saß Quang bereits da. Seine teure Honda Cub hatte er vor dem Hof abgestellt. Mein Herz schien einen Moment stehen zu bleiben, als ich ihn auf dem klapprigen Stuhl sah, auf dem ich immer sitze und meine Artikel über die Probleme unserer Zeit schreibe. Der Stuhl war wurmstichig und wackelig. Cay saß auf dem Fußende meines Betts. Sie winkte mich herein. Quang sprang auf.

"Guten Morgen", sagte er. "Ich bin Quang. Cay hat mir so viel von dir erzählt. Du siehst genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe."

Ich schaute ihm in die Augen. Ich hatte noch nie einen Mann mit einer solchen Anziehungskraft getroffen. Ich wandte meinen Blick Cay zu und sah ihr heiteres Lächeln. Es war so, als seien sie füreinander bestimmt. Und ich glaubte in dem Moment, was die Physiologen sagen: daß Liebende immer einander gleichen. Quang sah in mancher Hinsicht aus wie Cay. Ihre Ehe würde glücklich sein. So dachte ich.

Er betrachtete die Einrichtung meines Zimmers ungezwungen, aber sehr genau. Es war eben das schäbige Zimmer einer Unverheirateten. Anscheinend hatte er auch schon einmal in einem solchen Zimmer gewohnt, auch wenn ich allein schon an seinem diskret einfachen Anzug erkannte, daß er reich war. Diejenigen, die wirklich reich und ihres Reichtums sicher sind, stellen ihn nicht aus durch ihr Betragen oder ihre Kleidung. Seine natürliche Vornehmheit war nicht aufgesetzt. Ich fühlte mich beruhigt, wie er da auf dem alten Stuhl in diesem Zimmer saß, und ich genierte mich nicht mehr.

"Wie geht es dir, Thao?"

"Du kannst es sehen: So lebe ich."

"In Frankreich haben wir mehr Bequemlichkeit, aber wir sind insofern schlechter dran, als wir sehr wenig Zeit haben."

Dabei zeigte er auf das Landschaftsbild das ich an die Wand gehängt hatte. Die ewige Ruhe über allem. Jeden Morgen ließ ich die Gelassenheit auf mich wirken, die das Bild ausstrahlte, und ich konnte eine Träne nicht unterdrücken angesichts der Erhabenheit und Heiligkeit dieses Ortes, zu dem jeder von uns irgendwann aufbrechen wird.

"Ich wette, daß du jeden Morgen dieses Bild betrachtest."

"Ja."

"Und dann weinst du, nicht?"

Ich nickte. Wir lachten. Es überraschte mich, daß ich für Quang eine schwesterliche Zuneigung entwickelte. Er kam mir nicht vor wie jemand aus einem anderen Land. An ihm war etwas, das mich an meinen verstorbenen Bruder erinnerte. Dieses Gefühl kam schleichend, aber es war tief. Ich wünschte, er würde mir über den Kopf streichen oder mich umarmen, wie er es mit seiner kleinen Schwester tun würde. Seit langem hatte ich mich einem Menschen nicht mehr so nahe gefühlt.

Dann schob er seinen Motorroller in mein Zimmer und wir gingen aus, um zu frühstücken. Er ging zwischen Cay und mir. Auch wenn ich täglich unzählige Menschen traf und mit ihnen redete, so war mir nie ein wirklicher Mann begegnet. In diesem Land hatten die Sorge um das tägliche Essen, der Kampf um die trivialsten Dinge und die nichtige Mittelmäßigkeit der Vergnügungen den Männern ihre Würde genommen. Sie glichen sich den Frauen an, waren schwach und biegsam wie Gemüse unterm Wind, und wo man auch hinkam, traf man stets auf dieselbe Art von Menschen, und man wurde dessen so überdrüssig, daß man schon gar nicht mehr näher hinschaute, ob man es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hatte. Seit langer Zeit hatte ich wieder einmal das Gefühl, neben einem Mann zu gehen, mit dem ich ernsthaft reden konnte.

"Warum heiratest du nicht?", frage er. "So zu leben, ist doch traurig."

Cay warf mir aus den Augenwinkeln einen Blick zu.

Ich antwortete Quang aufrichtig: "Da gibt es niemanden, der mich liebt."

"Weil du nie den richtigen Mann getroffen hast, nicht?"

Cay kicherte leise. Quang war nachdenklich. "Manchmal ist es nur ein Gefühl. Du mußt alle feindseligen Gefühle ablegen. Nähre keine unnötigen Feindschaften. Alles wird gut sein, wenn du erst einen Lebenspartner hast."

"Das ist leichter gesagt als getan. Du hast Cay, deshalb kannst du so reden und andere dazu zwingen, auf dich zu hören. Wie könnte ich so sein wie du?"

Er lachte frei heraus und legte den Arm um Cays Schulter. Wir gingen die Straße hinunter und kamen in das Restaurantviertel. Einmal ergriff er meine Hand, um mich vor einem entgegenkommenden Auto auf den Bürgersteig zurück zu ziehen. Ich war aufgekratzt. Gestern Nachmittag im Bus, als der Mann mit den schiefen Zähnen davon sprach, daß die Kinder sich "an dem lange nachwirkenden Brimborium" um Leute wie Onkel Tuyen erfreuten, hatte ich mir Quang ganz anders vorgestellt. In meiner Phantasie hatte ich einen Mann vor mir gesehen mit einem Schnurrbart, der lässig eine Gitarre hielt und mit einer heiseren Stimme sang, die Augen selbstverliebt geschlossen. Er würde mit den Fingern nach einem Cyclo schnalzen und sich nicht einmal die Mühe machen, den Fahrer anzuschauen, er würde sich cool in Szene setzen und ausprobieren, wie sein Charme auf die Frauen wirkte... Ich weiß nicht warum, aber ich hatte mir Quang ausgemalt wie einen jener gerade in Mode gekommenen Musiker oder Sänger, die ich oft im Fernsehen sah.

"Zu was für einem Frühstück wollen wir Quang einladen?", fragte mich Cay.

"Was magst du am liebsten?"

"Als ich klein war, lebte ich im Süden, und seit wir in Frankreich sind, kocht mir meine Mutter immer, wenn ich zu Hause bin, südliche Gerichte - saure Shrimps mit gekochtem Schweinefleisch, rohe Gemüse und Kräuter, knusprig gebackene Nudeln, gemahlene, in Zuckerrohr geröstete Garnelen und weiche Krabben in Sesamreispapier..."

"Monsieur, Sie machen mir den Mund wäßrig."

"Ich hatte selten die Gelegenheit, Gerichte aus dem Norden zu probieren. So ladet mich doch zu etwas ein, was wirklich deliziös ist. Okay?"

"Cay, laß uns zur dicken Frau Tu gehen und bun thang essen", schlug ich vor.

"Sehr gut. Das habe ich schon lange nicht mehr gegessen."

Frau Tu hatte ein kleines Restaurant am Ende einer engen, von Banian-Bäumen gesäumten Gasse. Obwohl der Laden etwas schäbig aussah, waren die Nudelgerichte gut. Frau Tu sah Cay kommen und kam heraus, um sie zu begrüßen. "Hallo, junge Frau!", sagte sie. "Ich habe gehört, Sie sind schon vor längerer Zeit in den Süden gegangen."

"Ja, und jetzt bin ich gerade zurückgekehrt. Dies ist mein Freund Quang, der aus Frankreich kommt. Er möchte Ihre Nudelgerichte probieren."

"Ich fühle mich geehrt. Bitte kommen Sie doch herein und setzen Sie sich an diesen Tisch, wo es kühl ist. Kien! bring drei chinesische Schüsseln her…"

Quang schien angenehm berührt. Er lehnte sich bequem zurück an den Stamm eines Banian-Baumes. Ich sah das Lächeln in Cays Augenwinkeln.

"Die Besitzerin ist begeistert, Quang", sagte sie, "weil sie einen Kunden aus dem Ausland hat."

Quangs Lächeln war eher traurig: "Gut. Ich bin französischer Staatsbürger, aber in Frankreich werde ich als Ausländer angesehen. Und hier in Vietnam denken die Leute auch, ich sei ein Ausländer, auch wenn ich einen vietnamesischen Paß habe. Wie soll ich darüber glücklich sein?"

"Dann mußt du dahin zurückkehren, wo du geboren bist."

"Leider weiß ich nicht, wo ich geboren bin. Ich möchte ja auch gerne dorthin zurückkehren. Ich fühle mich in Frankreich nicht heimisch, nicht heimisch in Vietnam, nicht heimisch in der Gemeinschaft. Manchmal fühle ich mich nicht einmal in meiner Familie heimisch."

Es sah so aus, als hätten Cay und Quang schon oft über dieses Thema gesprochen. Quang redete mit weicher, ein wenig wehmütiger Stimme. Ich wußte nicht genau, was es damit auf sich hatte, also schwieg ich, während sie miteinander flüsterten.

Quang wandte sich mir zu: "Ich vergaß dir zu erzählen, Thao", sagte er, "meine Eltern waren auch aus dem Norden, aber sie sind beide gestorben. Meine Pflegemutter brachte mich nach Saigon, nach Frankreich gingen wir erst 1970."

"Ich weiß das alles, Cay hat es mir vor kurzem geschrieben."

Cay stand auf und ging hinein, wo Frau Tu dabei war, die Nudeln zu kochen. Quangs Blicke folgten ihr.

"Das ist eine traurige Geschichte, nicht wahr?"

"Ja", sagte ich zu ihm. "Aber du kannst froh sein, daß du in Frankreich lebst."

"Ja, aber ich bin nicht sehr glücklich. Da ist irgendwas, was mich immer dazu drängt, heimzukehren. Ich sage dir wie es ist. Ich dramatisiere nichts…"

"Ich verstehe."

"Ich fürchte, das ist nicht so leicht zu verstehen. Ich weiß nicht, warum ich mich in Frankreich nicht wohlfühle. Ich habe einen Job und ich verdiene Geld, aber ich bin nicht im Frieden mit mir selbst. Es ist nur ein Gefühl, aber du weißt ja, daß manchmal eine triviale Sache ausreicht, um einem Appetit und Schlaf zu rauben."

"Ja. Manchmal ist es so."

"Nach der Hochzeit wollen wir in Saigon wohnen"

"Und deine Pflegemutter?"

"Ich will sie herholen. Sie hält es nicht aus, weit entfernt von mir zu leben. Was denkst du?"

"Ich meine, es wäre besser, nicht hierher zurückzukommen. Dieses Land ist voller Traurigkeit. Es geht uns zwar materiell immer besser, aber es gibt soviel Verwirrung und Ungewißheit, und das wird noch lange so bleiben. Ich sage dir ehrlich, du wirst damit kaum zurechtkommen. Wenn ihr erst einmal verheiratet seid, wirst du überall deinen Frieden finden, egal, wo du lebst."

"Das stimmt vielleicht. Hier ist ein Photo meiner leiblichen Mutter, das meine Pflegemutter für mich aufbewahren konnte."

Er öffnete seine Brieftasche und gab mir ein altes 6x9-Photo. Es war immer noch in gutem Zustand, auch wenn man sofort sah, daß es vor langer Zeit aufgenommen worden war. Ich konzentrierte meinen Blick auf das Gesicht der Frau auf dem Bild. Es war ein vornehmes Gesicht, auffallend schön. Unvermutet fühlte ich mich unruhig, vielleicht wegen dieses stolzen Gesichtsausdrucks. Auf der Rückseite des Photos war trotz verblaßter Schrift noch zu lesen: "Mein lieber Ti, behalte dieses Photo, so daß du deine Mutter erkennen kannst. Liebe die Mutter Han so wie du mich liebst. Lang Sam, 1953."

"Warum nennt sie dich Ti?"

"Das war mein Spitzname, als ich ein Kind war, weil ich im Jahre Ti geboren wurde1. In Saigon änderte meine Pflegemutter meinen Namen erst, als ich im Schulalter war, aber zu Hause nannte sie mich auch weiterhin Ti."

Frau Tu brachte ein Tablett mit drei Schüsseln schneeweißer Nudeln. Cay folgte ihr mit einem Teller Zitronenstreifen und Chilischoten.

Frau Tu sagte freundlich: "Ich habe einen ausländischen Kunden, also habe ich alles selbst zubereitet. Es ist schon lange her, daß ich selbst gekocht habe. Normalerweise gebe ich nur Anweisungen in der Küche."

"Bitte nennen Sie mich nicht einen ausländischen Kunden. Ich bin hundert Prozent Vietnamese."

"Aber Sie sind französischer Bürger. Sie sind kein Vietnamese mehr. Leute wie Sie tragen den französischen Paß zu Recht. Vietnamesen sehen hungrig und ungepflegt aus. Wegen des harten Lebens, Sie wissen ja. Sie und die beiden jungen Damen sollten jetzt ein wenig Zitronensaft in Ihre Nudeln gießen. Toll, ein Franzose…"

Ich sah, wie Quang traurig wurde, als Frau Tu so einfach ihre Gedanken äußerte. Cay sah es auch. Sie mischte sich ein: "Verraten Sie uns das Geheimnis Ihres berühmten Gerichts."

Frau Tu zog einen Stuhl heran, setzte sich und schaute uns beim Essen zu. Sie hatte ein breites Lächeln aufgesetzt. "Es ist köstlich, nicht? Wenn ich selbst koche, hat sich noch niemand beschwert. Sie müssen eine bestimmte Sorte von Kapaun auftreiben, er muß mindestens drei Kilo wiegen. Wenn Sie ihn gekocht haben, müssen Sie ihn herausnehmen und mit einem Zahnstocher die Flügel durchstoßen, damit das darin eingeschlossene Wasser herausfließen kann. So kann der Hahn schnell trocken werden. Auf diese Weise wird das Fleisch nicht in kleine Stücke zerfallen, wenn Sie es zerhacken."

"Und die Brühe?"

"Sie müssen das Wasser nehmen, in dem der Vogel gekocht wurde. Dann fügen Sie Garnelen hinzu und Schweineknochen - am besten Haxen -, Hühnerknochen, Pilze, Fischsoße, Glutamat, in Hühnerfett geröstete Zwiebel… Es ist wirklich eine Kunst, alles richtig zu machen, wissen Sie. Was die Zutaten angeht, die man in die Schüssel gibt, so müssen Sie auf die Farben und auf den Geruch achten. Alles muß sowohl dem Gaumen als auch den Augen gefallen. Dünn geschnittene gekochte Eier, zerkleinerte Wurst, eingelegte Zuckerrüben, fein gemahlene Garnelen, Stücke und feine Scheiben entbeinten Hühnerfleischs werden nebeneinander dekoriert. Dann müssen Sie Pfeffer und Chili in die Fischsoße einrühren… Können Sie all diese verschiedenen Geschmacksnuancen erkennen?"

"Das ist erstklassig. Niemand in Saigon kann so köstliche Speisen zubereiten wie Sie."

"Es gibt viele, die dieses Gericht zubereiten können, aber Sie müssen bedenken, daß die Gewürze aus anderen Gegenden sich nicht immer für diese Art von Nudelsuppe eignen. Sie müssen aus dem Norden stammen. Der Geschmack der Gemüse und der Duft der Kräuter dieser Region sind besonders köstlich. Das können Sie nirgendwo anders bekommen."

Frau Tu blieb an unserem Tisch sitzen, bis wir gegessen hatten. Sie lächelte zufrieden, als Quang den letzten Löffel Brühe geleert hatte.

"Sie wissen wirklich dieses Gericht zu genießen, Sie lassen sich keinen Tropfen entgehen", sagte sie zu ihm, "Wenn Sie auch nur einen Löffel voll zurücklassen würden, dann wäre das ein Affront gegen die Kunst der Köchin, nicht wahr?"

Sie begleitete uns bis auf die Straße und lud uns mehrmals ein wiederzukommen. Wir gingen zu dem breiten Fluß hinunter, an dem die Stadt liegt. Ganz plötzlich wendete sich Cay zu Quang und fragte: "Warum versuchst du nicht, das Dorf Sam zu finden?"

"Ich muß erst nach Frankreich zurück und meine Mutter nach mehr Einzelheiten fragen. Sie hat mir nie gesagt, wo das Dorf liegt. Sie sagt, dort würde niemand mehr leben. Alle seien inzwischen gestorben. Und somit gäbe es niemanden, der wisse, wer ich bin. Sie schien jedesmal, wenn ich darauf zu sprechen kam, panische Angst zu haben."

Wir standen am Uferdamm. Eine Brise kam über den Fluß herüber. Von da aus, wo wir standen, konnten wir die ganze Stadt überblicken. Die Gebäudekomplexe wirkten wie einander drängelnde, vorwärtsschiebende Menschengruppen. Deutlich erkennbar war, daß hier kein wohlüberlegter Bauplan zugrunde lag. Aber der Gesamteindruck war schön, da gab es einen Hafen, da waren Fabriken und ausgedehnte Märkte, die im letzten Jahr überall zu wachsen begonnen hatten.

Quang blinzelte. "Der Norden ist so schön", sagte er. "Ich habe noch nie einen Ort von so großer natürlicher Schönheit gesehen wie hier."

"Du bist voreingenommen!"

"Nein, ich sage die Wahrheit. Andere Länder haben zu viel Stahl und Beton, zu viele Autos und zu viele Abgase. Unser Land hat immer noch etwas Ursprüngliches und Unberührtes."

"Und unsere Mägen sind auch noch unverdorben!"

Quang gab mir einen kleinen Klaps auf den Kopf. Wir hielten uns an den Händen und rannten den Abhang hinunter bis zum sandigen Ufer des Flusses. Abgesehen von Quangs Unruhe wegen seines Geburtsortes und jener unfaßbaren Kraft, die ihn in dieses Land Vietnam zurücktrieb, und außer einer gewissen Sorge, die in meiner Seele wohnte…, waren wir von Freude erfüllt. Wir waren noch jung, und hatten noch so viel vor. Was sich vor unseren Augen eröffnete, war heller und angenehmer, nicht so bedrückend und düster wie zuvor. Und vielleicht kann Frau Tus Rezept für Reisnudelsuppe ein bißchen dazu beitragen, die Verwicklungen im Herzen der Menschen zu lösen…

"Hast du Onkel Tuyen getroffen", fragte ich Quang.

"Noch nicht."

"Warum nicht?"

Kusine Cay lehnte ihren Kopf an seine Schulter und sagte: "Er ging nach Hanoi, um seinen ältesten Bruder abzuholen, meinen Onkel Ca. Als wir gestern Morgen nach Hause kamen, war er gerade weggegangen. Vielleicht sehen wir ihn heute abend."

"Und ich bin deshalb sehr nervös, Cay!"

"Beruhige dich, er wird dich sofort gern haben, du wirst sehen."

"Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein wird, mit einem so großen Politiker wie deinem Vater zu reden."

"Er ist kein Politiker mehr, er war einer. Sonst würden ja alle Alten alles mögliche verlangen können", äußerte Cay recht nachdenklich. "Jetzt ist er nur noch ein alter Mann im Ruhestand, der ein neues Leben anfangen muß."

Wir verabschiedeten uns, nachdem wir uns für den Abend verabredet hatten. Ich ging in mein leeres Zimmer zurück und saß da, müde, traurig und voller träumerischer Hoffnungen. Wenn man lieben will, dann sollte jemanden finden wie Cays jungen Mann. Das ist nicht so einfach, nicht wahr?

***

Ich fuhr mit meinem Fahrrad zur großen Villa, bevor die Straßenlampen angingen. Im Innenhof fand ich das kleine Auto, das meinem Onkel auch im Ruhestand noch zur Verfügung stand, wenn er eine größere Fahrt unternehmen mußte. Die erste Person, der ich in die Arme lief, war Cay.

Sie flüsterte mir ins Ohr: "Der Alte schien irritiert beim Anblick seines künftigen Schwiegersohns."

"Wirklich?"

"Ich weiß nicht, ob er sich freut oder ob ihn was stört."

"Ich bin sicher, daß er sich freut. Wer würde sich nicht einen Schwiegersohn wie Quang wünschen, was könnte man denn noch mehr wollen?"

Der ganze Clan war versammelt. Ich trat ein und begrüßte Onkel Ca. Er war 80 Jahre alt und hatte einen silberweißen Bart. Vor langer Zeit hatte er die Position eines Mandarins oder hohen Beamten bekleidet, und immer noch pflegte er dieses achtungsgebietende Auftreten eines Mannes, der gewohnt war, Anweisungen zu geben. Onkel Tuyen winkte mich zu sich. Er wirkte besorgt, nicht so gelassen wie sonst, wenn ich ihn besuchte. Er fragte mich nach der Sache im Kreis V. Ich erzählte ihm die Geschichte von dem Kerl, der seinen Vater getötet hatte. Er hörte mir aufmerksam zu, aber seine Blicke konzentrierten sich auf Quang.

Der Salon im Erdgeschoß war mit Wandteppichen aus verschiedenen Ländern geschmückt, die Onkel Tuyen besucht hatte. Ein riesiger persischer Gobelin, dessen Bilder eine alte Legende zeigten, hing in der Mitte des Raums und schuf eine festliche Atmosphäre. Die Tische waren zu einer langen Tafel zusammengestellt und mit einem weißen Tischtuch bedeckt. Onkel Tuyens Frau hatte das Festmahl beim Hotel schräg gegenüber bestellt. Zwei Kellnerinnen in der Dienstkleidung des Hotels waren zur Bedienung der Gäste gekommen. Onkel Tuyens Frau trug einen langen weißen, mit blauen Blumen bestickten ao dai. Sie hatte immer noch diese auffällig-eleganten Manieren einer großen Dame in einer entlegenen Provinzstadt, die wirklich nicht zu einer 60-Jährigen paßten. Deshalb wirkte sie ein wenig deplaziert zwischen den Kindern, Neffen und Nichten in bequemer Alltagskleidung. Sie kam lächelnd auf mich zu: "Es ist ja so lange her, daß du hier warst. Wie findest du das alles? Wir haben hier mächtig viel Platz, ich habe die Speisen bestellt und liefern lassen - so ist es familiär." "Es ist alles perfekt!", antwortete ich. Sie wollte noch mehr sagen, aber ich wandte mich ab. Ich mag Frauen mit drei Generationen einwandfreier Herkunft nicht, die als revolutionär gelten wollen und sich dabei doch als hochmütigste Klasse der Welt entpuppen. Mich schien sie zu respektieren, weil sie wußte, daß ich auf ihren Reichtum überhaupt nichts gab. Ich war nie zu einem Essen hergekommen, und ich hatte niemals zugelassen, auch nur im geringsten abhängig zu sein von dem riesigen Reichtum, der wie Regen vom Himmel auf dieses Haus zu fallen schien. Ich fand es bemerkenswert, daß Cay keinerlei Charaktermerkmale von ihr geerbt hatte. Es war, als seien sie von verschiedenem Blut.

Erwartungsvoll strömten die Leute in den Festsaal, alles Verwandte, aus der Stadt. Die alten Leute saßen beieinander. Die Jungen gingen aus und ein. Onkel Ca saß mittendrin. Quang kam von Hof herein, bahnte sich den Weg zu Onkel Ca, faltete seine Hände und verneigte sich bis zur Erde. Dann wandte er sich Onkel Tuyen zu und machte dieselbe tiefe Verbeugung, nach alter Sitte. Alle lachten verwundert auf. Onkel Ca schien Quangs Verhalten zu mögen.

"Warum lacht ihr?" fragte er. "Die Vietnamesen sollten solche alten Höflichkeitsformen beachten. Unser Volk war lange Jahre hindurch zu sehr mit der Revolution beschäftigt, um an diese Traditionen zu denken. Da muß erst einer aus dem Ausland kommen, der diese Bräuche bewahrt hat. Sehr tüchtig, mein Sohn!"

"Ja wir Vietnamesen, die wir im Ausland leben, müssen unsere kulturellen Traditionen pflegen, denn sonst verlieren wir sie. Wir sind nicht wie die Europäer, die zu erobern gewöhnt sind und ihre eigene Lebensweise überall einführen, wo immer sie hinkommen."

Ich saß nahe bei ihnen, so konnte ich ihr Gespräch klar verstehen. Onkel Ca hörte aufmerksam zu. Er hatte sich in seinem Stuhl vorgebeugt. Er kümmerte sich nicht um sein Alter, versuchte, immer an allem teilzuhaben, was das Leben bot. Onkel Tuyen saß auf der anderen Seite des Tischs, gegenüber seinem künftigen Schwiegersohn. Er war ein Mensch, der selten seine Gefühle äußerte, aber an diesem Abend war er tief aufgewühlt. Seit dem Augenblick, in dem Quang den Raum betreten hatte, zitterten seine Hände. Mir fiel dies auf, weil er eine Pfeife rauchte und immer wieder versuchte, sie still zu halten. Er beobachtete aufmerksam Quang bei seinem Gespräch mit Onkel Ca; sein Gesicht zeigte eine gewisse Verwirrung, ja sogar Panik, die er kaum verbergen konnte. Ich dachte, daß es mit Cay zusammenhing und seiner Liebe zu ihr, daß er etwas mehr über seinen Schwiegersohn erfahren wollte, um sich zu beruhigen.

Die Feier war großartig. Ich hatte selten so gut gegessen und einige Speisen kannte ich überhaupt nicht. Der Raum war voller Erwartung, vielleicht deshalb, weil jeder spüren konnte, wie glücklich Cay war. Ihre Schönheit war von hellem Glanz, ihre tiefschwarzen Augen wie funkelndes Wasser. Sie schaute nach rechts und nach links, sie erhob ihr Glas, um allen Leuten zuzuprosten. Die Augen zusammengekniffen, das Kinn in die Hände gestützt, betrachtete Quang Cay. Das war eigentlich keine außergewöhnliche Pose, und deshalb verstand ich nicht, warum Onkel Ca ihn wie hypnotisiert beobachtete. Seine Hand, die gerade eine Gabel mit einem Stück Fleischpastete hielt, fing an, leise zu zittern. Dann lehnte er sich wieder zurück und versank für den Rest des Mahls in tiefe Gedanken. Immer wenn Quang ihn ansprach, antwortete er nur einsilbig. Er schaute ihn auch nicht mehr an. Statt dessen richtete er seinen Blick auf den indischen Wandteppich und die eingewebten Geliebten Krishnas, welche die Kühe hüteten. Ich verspürte eine gewisse Unruhe.

Nach dem Essen zogen sich Onkel Ca und Onkel Tuyen nach oben zurück, um sich auszuruhen. Die älteren Gäste gingen nach und nach. Als Quang sich von ihnen verabschiedete, faltete er wieder die Hände und verbeugte sich vor jedem von ihnen, brachte sie so zu einem gerührten Lächeln. Die jungen Leute blieben noch ein wenig. Quang nahm die Gitarre zur Hand und setzte sich zu ihnen. Cay, ich und einige andere umringten ihn. Er war ein wenig beschwipst und, wie ich fand, auch entspannter.

Er stimmte die Saiten und sagte, mir zugewandt: "Im Ausland habe ich mir vorgestellt, daß die Menschen im Norden sehr arm seien, so sehr darauf konzentriert, ihr Leben zu meistern, daß sie an nichts anderes denken. Aber jetzt sehe ich, daß das nicht stimmt. Ich kann mich wirklich… mit euch verständigen, mit dir, mit Cay und all den anderen. Und wenn das Leben auch nicht ohne Probleme ist, so ist es doch gut. Einen Lebensstandard wie diesen wird man sogar in Frankreich selten finden."

Ich lachte: "Onkel Tuyen ist nicht irgendwer", sagte ich, "er war ein hohes Tier. Davon gibt es nicht viele."

Quang legte den Arm um Cays Schulter. "Als ich dich zum ersten Mal traf, hätte ich nie gedacht, daß du eine Prinzessin bist."

"Was hättest du schon mit einer Prinzessin anfangen können", sagte sie zu ihm, "Gerade weil ich immer so bin wie an jenem Tag, magst du mich, nicht wahr?"

Dann sang Quang einige lustige Lieder, darunter ein französisches, bei dem er die Worte, die er vergessen hatte, durch ;la la la' ersetzte, was alle zum Lachen brachte. Dann erzählte er uns von seinen ersten Tagen im fremden Land, Tagen der Entbehrungen, der Peinlichkeiten, der Einsamkeit. Er mußte alles tun, um unter diesen Fremden seinen Platz zu finden. Und es sollte ja eine würdige, eine anständige Position sein, niemand sollte auf ihn herabsehen können. Das Leben war viel härter als zu Hause…

Während ich ihm zuhörte, blätterte ich still in dem kleinen Taschen-Album mit Photos, das er bei sich trug. Es gab einige Photos von hübschen jungen Mädchen, die lächelnd neben ihm standen, und der Rest waren Bilder von seiner Adoptivmutter. Sie war eine weißhaarige Dame, die einen ao dai trug. Ich sah, daß sie auch in einer eleganten Umgebung immer noch wie eine rechtschaffene Frau einfacher Herkunft aussah. Auf den Photos mit Quang trug sie oft einen schwarzen ao dai mit gestickten Blumen auf der Vorderseite. Es gab auch Bilder vom Hof gegenüber ihres kleinen Hauses. Vor der Tür stand ein Teetisch, der mit einem wunderschönen blauen Tuch gedeckt war. Auch wenn sie wohlhabend waren, so schienen sie doch ein friedliches einfaches Leben zu führen. Es war ein sehr schönes Haus.

Da erschien Onkel Tuyen in dem Fenster, das auf die Galerie ging. Nur ich bemerkte ihn, weil alle Quang beim Singen zuhörten oder sich gegenseitig neckten. Onkel Tuyen winkte mir zu. Ich stand auf und ging hinaus

.

"Meine Frau sagte mir, daß Quang ein Bild seiner richtigen Mutter habe. Stimmt das?", fragte er.

"Ja, Onkel."

"Geh und bring es mir."

Ich ging zurück in den Salon. Das Bild von Quangs leiblicher Mutter war auf der ersten Seite des Albums eingesteckt. Ich nahm das ganze Album und brachte es Onkel Tuyen. Er sagte, er wolle es mitnehmen, um es sich genau anzuschauen. Ich verstand nicht so richtig, aber ich fühlte, daß da etwas Beunruhigendes war.

Etwa ein halbe Stunde später erschien Onkel Tuyen wieder am Fenster und winkte mir erneut zu. "Komm her zu mir, ich habe dir etwas zu sagen."

Ich folgte ihm. Er schien kleiner geworden. Als wir die Treppe hinaufstiegen, beugte er sich außer Atem vor, als wolle er sich mit den Händen auf den steil ansteigenden Stufen abstützen.

"Was ist los, Onkel", fragte ich.

Er machte eine Geste wie um zu sagen: "Still!", und zeigte mit dem Finger auf den Salon, wo die jungen Leute lärmten und lachten. Als wir in seinem Schlafzimmer ankamen, war seine Stirn naßgeschwitzt. Ich nahm schnell irgendeinen Lappen, um ihm die rinnenden Schweißtropfen abzuwischen. Seine Stirn war eiskalt. Er saß auf dem Fußende des Betts und sah aus wie ein Bettler, dem gerade ein Taschendieb die letzten paar Groschen geklaut hat. Als ich ihn so sah, mußte ich fast weinen.

"Was ist, Onkel? Du machst mir Angst!"

Er schaute mich nicht an. Statt dessen starrten seine Augen auf die leere Wand vor ihm. Er sagte: "Du bist ein gutes Mädchen. Ich habe dich stets geschätzt. Deshalb muß ich es dir sagen. Du mußt sie sofort stoppen. Laß sie nicht weitermachen. Es reicht. Sie dürfen nicht mehr miteinander schlafen."

Ich war zutiefst erschrocken. Er zeigte nach unten. Das fröhliche Lachen schallte bis hier herauf. Ich verstand. Mit "sie" meinte er Quang und Cay.

"Er ist Ti. Ich habe ihn verlassen. Der Himmel hat ihn hergeschickt, um mich zu strafen. Er schläft schon seit Monaten in Saigon mit seiner Schwester. So leben eben die jungen Leute heutzutage. Sie schlafen miteinander, ehe sie heiraten. Schon an der Art, wie sie einander anschauen, erkenne ich, daß sie schon miteinander geschlafen haben. Der Himmel hat ihn zurückgeschickt, mich zu strafen…"

Ich schluchzte laut. "Sie irren sich, armer Onkel!"2

"Wie kann ich mich irren? Er ist der Junge, den man Ti nannte und der in dem Dorf Sam geboren ist. Seine Tante Han nahm ihn mit sich. Ich weiß das alles. Ich konnte damals nichts machen. Es war meine Schuld. Als ich ihn hier zum ersten Mal sah, hatte ich eine Vorahnung. Ich verspürte einen Stich ins Herz, und ich wußte nicht, warum…"

Er beugte sich vor und zurück, sprach wie in einem Delirium, als ob ein qualvoller Schmerz seinen Körper durchbohrte. In hilfloser Angst rannte ich weg, Onkel Ca zu holen. Es stellte sich heraus, daß Onkel Ca auch nicht schlief. Er machte eine Bewegung mit der Hand: Er wußte schon alles. Er folgte mir zu Onkel Tuyens Zimmer. Dieser drückte krampfhaft ein Kissen an sich. Ich gab ihm Wasser und rieb seine Hände und Füße mit Heilkräuter-Öl ein. Ich wollte gerade seine Frau rufen, da hielt er mich wie in Panik am Arm fest. "Kein Wort! Kein Wort zu niemandem… Zu niemandem!"

Ich nickte.

Onkel Ca sagte resigniert:

"Das ist Schicksal, so sollte es geschehen. Was kannst du machen? Schicke Ti weg, und dann ist es vorbei. Während des Essens war ich überrascht, zu sehen, wie er dasaß, ich war wie vom Blitz getroffen. Er sah fast aus wie du damals in Hanoi als Student. Eine unglaubliche Ähnlichkeit. Das ist Schicksal. Aber es ist ja noch leidlich gut gegangen."

Von unten ertönte wieder Lachen, das Lachen unbeschwerter Menschen, die nicht wußten, daß ihre Jugend vergiftet, vernichtet war. Ich war entsetzt.

***

Eigentlich gibt es nichts wirklich Schreckliches in einem Land, das nur Entwurzelung, Krieg und Not erlebt hatte. Ich hatte immer geglaubt, daß in alten Zeiten die Leute sich die Geschichte von der "Steinernen Frau, die auf die Rückkehr ihres Mannes wartet"3 ausgedacht haben. Ich dachte, daß es unrecht sei zu glauben, die Hoffnungen der Menschen seien sinnlos unter der ehernen Herrschaft des Schicksals, und daß es falsch sei, über den herzzerreißenden unabänderlichen Zustand der Welt zu lamentieren. Aber wer hätte gedacht, daß solch ein Mißgeschick Onkel Tuyens Familie treffen würde? Doch jede Zeit bringt ihre eigenen Tragödien hervor.

Mein Großvater väterlicherseits stammte aus dem Dorf Sam. Als er alt war, gab er seine Position als Mandarin am Hof von Hue auf und brachte meine Großmutter, eine echte Hueerin, dorthin, um ein neues Leben zu beginnen. Als ich aufwuchs, habe ich nie jemanden von dem Dorf Sam reden hören. Man nannte es immer die Kooperative Quyet Tien - das Dorf Vorwärts marschieren. Der schöne ursprüngliche Name Sam war versunken, verloren in den mächtigen Gezeiten-Wellen der Revolution. Er blitzte nur noch in der Erinnerung der Alten auf.

Onkel Tuyen machte das ABitur in der Provinz und arbeitete dann bei der Eisenbahn. Mein Großvater väterlicherseits verheiratete ihn mit einer jungen Dame aus einer der vornehmsten Familien der Provinz. Sie war so schön, daß sie auf dem Land, wohin sie gekommen war, um mit ihrer neuen Familie zu leben, kaum auszugehen wagte. Ihre Schönheit brachte die Pächter um ihren Schlaf und ihren Appetit.

Mein Großvater ist schon lange gestorben, und zwei Jahre nach der Hochzeit Onkel Tuyens starb auch meine Großmutter. Das Erbe eines ehrenwerten Mandarins war nicht sehr groß - ein paar Felder zum Verpachten, eine ausgedehnte Teeplantage, für deren Ernte sie Pflücker engagieren mußten, und ein ziegelgedecktes Haus - aber im Vergleich zu der Armut auf dem Land zu jener Zeit schien das alles sehr groß, sehr komfortabel, ja unangemessen. Onkel Tuyen erbte das Anwesen, weil Onkel Ca seiner Tochter nach Hanoi gefolgt war. Meine Eltern blieben auch auf dem Land. Tag für Tag ging mein Vater in die Kreisstadt, um an der dortigen Schule zu unterrichten. Meine Mutter eröffnete einen kleinen Teeladen, um meinen älteren Bruder zur Schule schicken zu können. Nach dem Tod ihrer Schwiegermutter legte Onkel Tuyens Frau den ao dai, die Halsketten und Armringe ab, steckte ihr Haar in einem Knoten hoch, griff sich einen Korb und ging Tee pflücken. Die Frauen waren neidisch, wenn sie sie sahen: Warum ist die denn so schön? Warum hat sie einen so hellen Teint? Wahrscheinlich hatte sie auch noch nie Blutegel an ihren Füßen!4

Die Tratschereien der Frauen drangen ihr wie Kratzer unter die gepflegte Haut. Sie schwieg und fuhr fort, in der Teeplantage zu arbeiten. In dieser Zeit war es nicht mehr erlaubt, Lohnarbeiter zu beschäftigen. Die Teeplantage war so groß wie das Auge reichte, und Onkel Tuyens Frau war mit Ti schwanger.

Schon zu Beginn jenes Jahres konnte Onkel Tuyen, der in die Verwaltung der Provinz eingetreten war, aus der Ferne den Todesgeruch wahrnehmen, der in die politische Atmosphäre auf dem Land eindrang. Er schrieb einen Brief an seine Frau, in dem er ihr riet, zu warten und sich nicht zu sorgen, denn er würde zurückkommen, sobald sich alles wieder beruhigt haben würde. Seine Frau weinte bitterlich, denn sie war schwanger und mußte doch die ganze Arbeit auf sich nehmen. Glücklicherweise lebten meine Eltern damals noch in der Nähe.

Aber niemand konnte etwas tun, wenn die Partisanen Nacht für Nacht beim Haus meines Großvaters auftauchten, ihre Gewehre entsicherten und auf die Hausbewohner richteten. Und Onkel Tuyen verschwand spurlos in den kochenden Wirbeln der Politik jener Zeit.

Am Ende des Jahres gebar seine Frau einen Sohn, Quang, den sie Ti nannte. Als er gerade drei Monate alt war, erkrankte seine Mutter an einer schweren Tuberkulose. Zu dieser Zeit war sie schon des Hauses verwiesen worden und mußte in der Reiskammer unterkriechen, einem Schuppen hinten im Garten.5 Hustenanfälle erschöpften sie, ließen ihre Kräfte schwinden. Meine Eltern wurden ständig kontrolliert und konnten deshalb ihrer armen Schwägerin nicht beistehen. Eines Nachts schlich sich meine Mutter in den Garten, um Onkel Tuyens Frau eine Handvoll Reis zu bringen. Aus dem Gras tauchte eine Hand auf, hielt sie am Fuß fest und riß sie nach hinten, so daß sie auf einen der Holzhaufen fiel, die dort herumlagen, seit der Garten zerstört, die Bäume gefällt worden waren. Der Reiskörner spritzten in alle Richtungen und verschwanden im Gras. Meine Mutter wurde zwei Wochen lang in ein dunkles Verlies gesperrt. Man beschuldigte sie der Beteiligung an einer Verschwörung, weil sie das Vermögen eines ‚Volksfeinds' habe verstecken wollen. In ihrer Verzweiflung, aus Hunger und Sorge um das Kind, das die ganze Nacht nach Milch schrie, erinnerte Tuyens Frau sich an Han, eine entfernte Verwandte, die allein lebte und ihr Geld als Händlerin in der Kreisstadt verdiente. Sie schickte ihr eine Botschaft. Han mußte viele Tränen fließen lassen, bis sie ihre Verwandte besuchen durfte. Ihr vertraute Tuyens Frau Ti an: "Nimm ihn mit! Bring ihn ganz weit weg und rette sein Leben!"

Tuyens Frau war es gelungen, ein Halsband aus purem Gold zu verstecken, das ihre Eltern ihr als Mitgift gegeben hatten. Han nahm das Halsband und begann zu weinen:

"Oh, Kusine! Wie kann ich das tun?"

"Du mußt! Warte bis Mitternacht, bring das Kind auf dem kürzesten Weg zum Fluß und von da aus zur Anlegestelle in der Nähe des Marktes der Kreisstadt. Dann bring das Baby nach Hanoi. Von da aus kannst du es dann irgendwohin bringen, wo du es leichter aufziehen kannst."

"Oh, Kusine! Das kann ich nicht!"

"Du mußt mir helfen. Wenn ich nicht so krank wäre, dann wäre ich schon geflohen. Hier ist ein Photo von mir, das einige Tage vor meiner Hochzeit gemacht worden ist. Bewahre es für ihn auf, so daß er sehen kann, wer seine Mutter ist. Sag ihm, sein Vater sei schon tot. Laß ihn nie mehr zurückkommen in das Dorf Sam. Wenn er je hierher zurückkommt, wird ihm etwas Schreckliches passieren. Versprich mir…"

"Ja, ich verspreche es!"

"Je weiter du ihn von hier weg bringst um so besser. Verrate ihm nicht den Weg hierher in das Dorf Sam, verstehst du? Wenn ich tot bin, wird mein Geist über dich wachen und über meinen Sohn. Von jetzt an mußt du ihn deinen Sohn nennen…"

Der Abschied zwischen Leben und Tod fand in einer dunklen, regnerischen Nacht statt, als die Kälte durch Mark und Bein drang. Der Hunger sorgte dafür, daß das Kind nicht einmal schrie. Han nahm eine Handvoll rohen Reises und zerkaute ihn zu einem Brei, um das Kind damit zu füttern. Tuyens Frau lag auf einem Haufen Bananenblätter, erhob ihre Hand, um das Gesicht des Babys, seine Arme und Beine noch einmal zu berühren, dann schickte sie Han weg: "Geh jetzt!"

Han ließ ihr ein wenig Reis zurück, den sie mitgebracht hatte, dann verschwand sie mit Tin in der schwarzen Nacht. Draußen war es kalt und naß, und die Partisanen hatten ihren Posten verlassen und im Haus meines Großvaters Zuflucht gesucht. Das Licht der Sturmlampe erleuchtete den Salon und das Schreien und Gelächter ermöglichten es dem Baby Ti, ohne Schwierigkeiten zu entkommen. Han brachte Ti nach Hanoi, dann nach Haiphong. Sie schaffte es, einen Platz auf einem der Schiffe zu ergattern, die nach Saigon fuhren, und verschwand so aus dem Norden.

Als es ihnen wieder einmal gelungen war, einander zu sehen, sagte Tuyens Frau zu meiner Mutter: "Ich habe Ti in Sicherheit gebracht, jetzt kann ich sterben." Einige Tage lang hustete sie Blut und starb dann, gekrümmt wie eine Garnele, auf ihren Bananenblättern. Meinen Eltern wurde erlaubt, sie in eine Strohmatte zu wickeln und auf dem Friedhof in Con zu beerdigen. Onkel Tuyen ist nie mehr zurückgekommen, obwohl Onkel Ca ihm erzählt hatte, daß Han das drei Monate alte Baby mitgenommen habe und daß seine Frau voller Erbitterung über seine Niedertracht eines schrecklichen Todes unter Fremden gestorben sei. Er kam nicht einmal her, um das Grab seiner Frau zu besuchen, obwohl er dies heimlich hätte tun können. Irgendwie verschleierte er seine Vergangenheit. Seine Papiere waren angeblich bei einem Überfall verloren gegangen, Bekannte aus seiner früheren Heimatgegend mied er, und wenn wirklich einmal jemand neugierig nach seiner Herkunft fragte, blieb er ruhig und gelassen. Er war bewußt sehr tief abgetaucht, und als er wieder auftauchte, hatte er schon wieder eine sehr hohe Position. Er heiratete eine Frau mit verbürgt einwandfreier Herkunft, die aus einer einfachen Bauernfamilie stammte und nach der revolutionären Landreform einen Kleinhandel betrieb. Viele Jahre hintereinander war er ein hochrangiger Kader an der Spitze der lokalen Verwaltung, die nur Hanoi direkt unterstand. Er kannte sehr hochgestellte Persönlichkeiten, deshalb gehörte er regelmäßig als wichtiges Mitglied den Gruppen an, die in offiziellem Auftrag ins Ausland reisten. Seine Füße trugen ihn in alle Welt und seine Hand unterzeichnete Verträge in vielen Regionen. Zwischen diesen angenehmen Reisen und den Momenten glorreicher Taten gab es auch finstere Momente wie den, als er kaltblütig Tausende junge Leute in den amerikanischen Bombenhagel schickte. Niemand entkam seinen blindwütigen Befehlen. In all diesen Jahren erhob er niemals seine Hand, um auch nur ein einziges Leben zu retten.

Fünf Monate, nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte, starb meine Mutter am Kindbettfieber. Es gab keine Medikamente und keinen Reis. Die Familie konnte nichts tun, die Partisanen kontrollierten oder verboten alles. Mein neunjähriger Bruder Toan schlich sich in die Felder, grub heimlich Süßkartoffeln aus und las auf die Erde gefallene Reiskörner auf, um mich zu ernähren. Mein Vater lag ernsthaft krank zu Hause. Er hörte mich vor Hunger schreien, konnte mir aber nicht helfen. In dieser Zeit war das Dorf voller Südvietnamesen, die umgruppiert worden waren6. Sie waren nur arme Bauern in Uniformen, und sie haßten die Kinder der Grundbesitzer ebenso wie die Grundbesitzer. Sobald sie eines davon erblickten, stürzten sie sich darauf und schlugen zu. Die Kinder der Grundbesitzer hatten solche Angst, daß sie sich tagsüber nicht auf die Straße trauten. Die Soldaten kamen eines Morgens zu uns, als mein Bruder auf der Suche nach Gemüse weggegangen war. Sie stellten sich um meinen bettlägerigen Vater herum auf: Nieder mit diesem Sohn eines Grundbesitzers! Der haßerfüllte Ton entsetzte meinen schwerkranken Vater dermaßen, daß er aus dem Bett sprang und in den Hof rannte. Zwei Mann schlugen ihm mit Stangen auf den Kopf. Da sprang er in den Teich, wo wir früher Lotus gezüchtet hatten. Die beiden waren so außer sich vor Haß, daß sie ihm nachsprangen und seinen Kopf mit Steinen traktierten. Sie ließen erst von ihm ab, als er tot war. Mein Vater starb mit dem Kopf unter Wasser, sein Hirn und sein Blut verbreiteten sich auf der Oberfläche des mit Entengrütze zugewachsenen Teichs.

Toan kam nach Hause und fand mich nur noch schwach wimmernd vor Hunger und unseren Vater tot. Er war erst neun Jahre alt! Unsere Schreie waren laut genug, um freundliche Seelen zu erreichen. Der alte Pächter, der früher für meinen Großvater die Hausarbeit gemacht hatte, half uns, unseren Vater zu begraben, und dann nahm er uns bei sich auf. Der alte Mann brachte es fertig, mir jeden Tag eine Schale Reis zu geben. Ich kränkelte, war kraftlos wie ein keuchendes kleines Kätzchen, aber ich überlebte. Nach einiger Zeit ging die Welle des Hasses zurück, und meine Tante kam aus der Provinzstadt, um uns abzuholen, damit wir bei ihr aufwuchsen. Toan ging in die zweite Klasse, während ich immer noch sehr klein war. Er absolvierte die siebente Klasse, studierte dann drei Jahre Pädagogik und wurde Lehrer. Er entwickelte sich zu einem großen schlanken Mann, war aber immer deprimiert. Jetzt erst verstand ich, warum mich Quang, als ich ihn zum ersten Mal sah, an das Gesicht meines Bruders erinnerte.

Während eines Kritikseminars7 für Lehrer in einem Kreis nahe der Provinzhauptstadt stand ein Man mit weißer Brille auf dem Podium und sagte freundlich: "Unter uns befinden sich wahrscheinlich viele Leute, die fälschlich angeklagt worden sind während der Landreform. Genossen, bitte tragt alles vor, sprecht frei heraus."

Toan ging zum Podium und äußerte sich leidenschaftlich: "Meine Großeltern gaben Reis für die Soldaten. Mein Vater war am Sturz der Regierung 19458 beteiligt. Er war im Widerstandskomitee des Kreises. Die Familie meiner Großeltern hat der Revolution zwei Märtyrer gegeben. Warum wurde mein Vater zu Tode geprügelt, und warum ist das nie untersucht worden?"

Der Herr mit der weißen Brille schüttelte meinem Bruder freundlich die Hand und versprach, mit seinen Vorgesetzten darüber zu sprechen.

Toan kehrte in seine Schule zurück und zwei Wochen später erhielt er eine Vorladung ins Büro des Direktors. "Sie haben sich unmoralischer Beziehungen mit einer Frau schuldig gemacht. Das Erziehungswesen braucht Leute mit einwandfreiem Betragen." Der Direktor hielt ihm eine Entlassungsverfügung vor die Nase, die bereits vom Leiter der Schulbehörde unterschrieben war. Natürlich wußte Onkel Tuyen, als Leiter der Stadtverwaltung, über diese Verfügung längst Bescheid, aber seit langem wagten es seine Verwandten nicht mehr, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er empfing keinen einzigen... Toan verstand, worum es ging. Er war verliebt in seine Kollegin Kim, die in derselben Schule unterrichtete. Sie war verheiratet. Zu der Zeit war dies eine schweres Vergehen, aber er war sich im Klaren darüber, daß er der Schule verwiesen wurde, daß ihn darüber hinaus noch etwas viel Schrecklicheres erwartete, und daß dies das Ende für ihn bedeutete: Er bekam den Befehl, in seinen Geburtsort zurückzukehren, nach Quyet Tien, das Dorf voller schlimmer Erinnerungen und voller Bauern, die immer noch die Kinder der Grundbesitzer haßten. Sie hatten Angst, daß das Stückchen Land, das an sie verteilt worden war, zurückgefordert würde oder daß es irgendwelche anderen Probleme geben würde. Er kam ins Haus meiner Tante, um mich zu sehen. Er hielt mich in seinen Armen und weinte. Ich verlangte, mit ihm ins Dorf zurück zu gehen.

"Ich gehe nirgendwohin zurück", sagte er, "und du mußt hier bleiben. Du mußt studieren, damit du eine gebildete Person wirst."

Ich war immer noch so klein, wie hätte ich seinen seelischen Zustand begreifen können? Mein Bruder ging fort in Richtung Bahnhof, dann sprang er unter den Zug nach Hanoi. Meine Tante wollte mich nicht hingehen lassen, aber ich hörte die Leute erzählen, wie der Kopf, die Arme, die Beine meines Bruders… zu einem Brei zermalmt auf den Geleisen lagen. Ich war starr vor Entsetzen. Das Gefühl der Angst vertrieb das Gefühl der Liebe. Ich war jedoch immer noch zu klein, um wirklich zu verstehen, was Unheil bedeutet.

In diesen Jahren lebte mein Onkel Tuyen in seiner bewachten Villa. Als Cay erwachsen war, ging sie nach Europa zum Studium. Onkel Tuyen erlaubte ihrem Bruder Vi, im Ausland Chemie zu studieren, und dann, als er zurückkam, verschaffte er ihm einen Posten im städtischen Planungskomitee. Die ältere Schwester Huong studierte Physik und arbeitete dann im Kernforschungsinstitut. Was den jüngsten Sohn, Hoang, angeht, so studierte er Automatisierungstechnik und sein Vater schuf für ihn eine Stelle im Preisüberwachungskomitee. Die Berufe der Kinder paßten zu allen Sektoren der Gesellschaft und würden niemals politischen Turbulenzen oder Änderungen ausgesetzt sein. Er war weitblickend in jeder Hinsicht, außer in dem einen Fall, den er nicht voraussah: Zwei seiner Kinder hatten im Auf und Ab des Lebens einander getroffen, sich ineinander verliebt, und wollten nun heiraten.

***

Am nächsten Morgen bestand Onkel Ca darauf, nach Hanoi zurückzufahren. Onkel Tuyen bestimmte, daß Cay ihn im Auto hinfahren sollte. Sie war eine sehr gute Fahrerin. Quang blieb zurück. Quang und Cay waren überrascht angesichts des eingefallenen Gesichts ihres Vaters. Er winkte Cay näher zu sich: "Ich fühle mich sehr müde. Laß Quang hierbleiben, so kann ich einiges mit ihm besprechen. Du fährst Onkel Ca und kommst dann morgen zurück."

Quang und Cay gingen Hand in Hand die Treppe hinunter. Ich spähte durchs Fenster: Unter dem großen Muom-Baum im Garten küßten sie sich. Ihre Küsse waren alles andere als diskret. Ich dachte an den Stapel Hotelrechnungen, den Cay in ihrer Geldbörse hatte. Sie hatten in einem teuren Hotel für zwei Wochen ein Zimmer gebucht. Ich betete zum Himmel, daß Cay nicht schwanger würde. Denn dann würde ihrer beider Kind vielleicht ohne Arme oder Beine geboren werden. Oder seine Nase oder seine Augen würden nicht so sein wie bei Kindern von Eltern, die aus verschiedenen Familien kamen.

Onkel Ca packte seine Sachen und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin: "Was für ein Unglück, was für eine Schande. Genug. Ich bin bereit zu sterben." Er wandte sich mir zu. "Wofür sollte ich noch länger leben?"

Als Cay weg war, sagte Onkel Tuyen "Sag Quang, daß er hierher kommen soll."

Quang stand am Gartenzaun bei Hoang. Als er mich rufen hörte, kam er heraufgerannt. Ich war Betroffen: Im Tageslicht sah er Onkel Tuyen ähnlich, vor allem die Augenbrauen, das Kinn, und die Lippen. Sogar seine breiten, vornehmen Ohren hatten jene besondere Ausformung, die es nur bei den Leuten aus dieser Familie gab. Er streichelte mir über den Kopf. "Der Alte ruft nach mir, ja?" fragte er. Ich nickte. Er lief geschwind hinauf.

Ich traute mich nicht dabeizusein, wenn Vater und Sohn ihre Verwandtschaft feststellen würden. Ich ging hinab in die Küche und half Onkel Tuyens Frau bei den Frühlingsrollen. Heute würde nur die Familie speisen. Sie war verstimmt über Onkel Cas plötzlichen Abschied.

Ich sagte: "Alte Leute sind ebenso unberechenbar wie Kinder. Warum regst du dich auf?"

Obwohl meine Tante eine kluge Frau war, hatte sie keine Ahnung, daß ihr Mann etwa 20 Jahre zuvor seine Frau und sein Kind wie in einem großen Kessel kochenden Öls im Stich gelassen, sie auf grausame und brutale Weise verlassen hatte, um sich selbst zu schützen, sich verhalten hatte wie ein wildes Tier.

Sie rollte die Blätter für die Frühlingsrollen, hob die Hand, um sich eine Locke aus der Stirn zu wischen. Ein Topf Brühe mit Rippchen begann zu kochen, also nahm sie den Deckel ab und legte ihn einfach auf den Boden. Obwohl sie eine Dame geworden war, hatte sie noch immer diese lässigen Angewohnheiten der Frauen vom Lande. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihre Stimme weicher und süßer klingen zu lassen, weich wie Korken, süß wie Sirup, was mir immer ein Schaudern den Rücken hinunter jagte. Solange ihr Mann noch im Dienst war, hatte sie nie begreifen wollen, wer ich sei. Sie, die selber aus einfachen Kreisen stammte, verachtete, als sie erst eine Lady geworden war, aus ganzem Herzen alle, die im Rang unter ihr standen. Sie begleitete wiederholt ihren Mann auf seinen Reisen in reiche Länder. Und wohin sie auch kam, ließ sie aus Habgier aus den Hotelzimmern alles mitgehen, von den Streichhölzern bis zu den Seifestückchen. Typisch für Leute ihrer Herkunft, konnte sie ihre Gier nach trivialen Dingen nicht unterdrücken. Sie behandelte alle schlecht, vom Chauffeur bis zur Verkäuferin im Lebensmittelladen. Sie war wie ein Dienstmädchen, das in ein reiches Haus kommt und vergißt, daß sie immer noch ein Dienstmädchen ist… Immer wenn ich sie ansah, verspürte ich tiefe Abneigung und hegte böse Gedanken. Sie hatte Cay geboren. Aber nach diesen ganzen Ereignissen hatte ich das Gefühl, daß Cay in Wirklichkeit die Tochter meiner Tante war - der Frau, die Quang zur Welt gebracht hatte. Und so hatten sie dieselbe Mutter, und unglücklicherweise hatte die grausame Hand des Schicksals sie wieder zusammengebracht nach einer leidvollen Trennung.

Nach einer Stunde ging ich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Onkel Tuyen lag da wie bewußtlos. Ich rannte in den Garten hinab. Quang saß auf der Steinbank neben dem Zaun und rauchte eine Zigarette. Ich setzte mich neben ihn. Schweigend nahm er meine Hand.

Niemals zuvor hatte ich ein so trauriges Männergesicht gesehen. Bis dahin hatte ich Verzweiflung nur bei Leuten erlebt, die in der Lotterie verloren hatten, oder bei solchen, denen es nicht gelungen war, einige Quadratmeter mehr an öffentlicher Wohnfläche zu ergattern, oder solchen, die unter niedrigen Löhnen, Nahrungsmangel oder üblen Scherzen litten… Niemals hatte ich ein solches Gesicht gesehen, eine so unendliche Melancholie, die nichts in der Welt würde lindern können. Vielleicht ist jedes Glück, ist jede Traurigkeit geprägt durch den kulturellen Hintergrund. Woher die Leute auch immer kommen, äußern sich Glück und Trauer doch immer im Einklang mit ihrer Kultur. In Quangs Adern floß ein Blut, dessen kulturelles Erbe so beschaffen war, daß er sich selbst als ehrlos empfand, als geschlagen, und daß sein Herz brach, als er sich selbst fälschlicherweise so maßlos beschuldigte. Er dachte nicht mehr daran, daß er an seinem Geburtsort Schrecklichem ausgesetzt gewesen, Sein Herz war jetzt nur noch teilnahmslos und kalt wie eine Pflanze.

Ich redete, aber eigentlich wäre ich lieber in Tränen ausgebrochen. "Niemand ahnt etwas. warte bis morgen, ehe du weggehst!"

"Nein ich geh noch heute nachmittag. Sag allen, sage es auch Cay, daß ich plötzlich gehen mußte, um die Rückkehr meiner Mutter zu organisieren, wie der Alte es verlangt hat. Du mußt dir auch etwas ausdenken, denn ich werde nie mehr hierher kommen. Ich werde die Garnelenzucht im Süden aufgeben. Cay wird denken, daß sie an einen Weiberhelden geraten ist. Es ist besser so…"

Die Stimmung beim Mittagessen war wie bei einem Begräbnis. Onkel Tuyen war traurig. Quang war traurig… Wer könnte auch in solcher Lage guter Laune sein? Cays Geschwister und ihre Freunde und Freundinnen standen vor einem Rätsel. Nur Onkel Tuyens Frau hatte nichts gemerkt. Oberflächliche Seelen wie sie erweisen sich als sehr nützlich in solchen Augenblicken. Sie dachte, die Frühlingsrollen seien versalzen und das sei der Grund dafür, daß die Leute es sich nicht schmecken ließen. Als Quang sagte, er habe einen wichtigen Geschäftstermin und müsse deshalb den Vereinigungsexpreß9 um zwei Uhr nehmen, waren alle erstaunt. Er sagte "In genau einer Woche bin ich wieder hier!"

Von diesem Moment an sagte niemand mehr etwas, außer Onkel Tuyens Frau, die weiter schnatterte. Sie war die glücklichste Person im Raum, weil sie sich nicht vorstellen konnte, daß irgend jemand ernsthafte Sorgen haben könnte. Wenn sie nicht ständig weitergeredet hätte, so wären alle anderen in Tränen ausgebrochen.

Ich war dabei, als Vater und Sohn in Onkel Tuyens Zimmer voneinander Abschied nahmen. Quang umarmte den Fremden, der sein Vater geworden war und schluchzte, "Vater! Vater, bitte vergib mir!"

"Nein, es ist nicht deine Schuld. Gehe jetzt. Nach einer Weile werde ich mit deiner Schwester reden… Bitte vergib mir…"

Beide weinten.

Der Vereinigungsexpreß hatte die Stadt durchquert und fuhr in den Bahnhof ein. Quang ging zum Schlafwagen. Durch das Zugfenster schaute er auf mich und Cays Geschwister. Sein Gesicht war bleich. Ich spürte, daß das Leben dieses Gesicht bereits verlassen hatte.

Am nächsten Abend kam Cay nach Hause. Sie wollte von keiner Erklärung etwas wissen. Sie war sogar böse auf mich.

"Was weißt du? Du hast nie jemanden so geliebt, wie kannst du mich verstehen? Nein, unterbrich mich nicht. Warum ist er weggefahren? Wir haben uns doch so sehr geliebt."

In derselben Nacht nahm auch sie den Vereinigungsexpreß. Onkel Tuyen wurde krank. Die geräumige Villa wirkte leer und deshalb um so größer. Ich blieb ein paar Tage bei ihm, dann mußte ich zu meiner Arbeit zurück. Die Zeitung wollte, daß ich meine Reportage über dieses Verbrechen im Kreis V. fertig schreibe. In dieser Zeit waren Artikel mit solchen Geschichten sehr gefragt. Da brauchte der Straßenverkäufer nur zu brüllen: "Sohn tötet seinen Vater und schlitzt ihm den Bauch auf!" und die Zeitungen gingen weg wie warme Semmeln10. Wir würden unser Geld kriegen, sogar einen Bonus, und in unserem Leben würde es ein bißchen mehr Licht geben, im wörtlichen Sinn. Ich war es leid, aber ich mußte es tun.

Ehe ich in den Kreis zurückfuhr, erhielt ich ein Telegramm von Cay: "Habe überall gesucht, kann Quang nicht finden. Komm. Hilf mir." Aber konnte ich hingehen? Das Beste wäre, ihn nicht zu finden.

Sie hatten den Mann, der seinen Vater getötet hatte, ins Polizeihauptkommissariat der Provinz gebracht. Ich brauchte nicht mehr weit zu fahren. Er saß an einem Tisch auf der anderen Seite der eisernen Stangen. Ich saß auf dieser Seite, meinen Notizblock aufgeschlagen vor mir. Was ich wissen wollte, war, weshalb er seinen Vater auf eine solch brutale Weise umgebrachte hatte. Ich fragte ihn sanft, freundlich, nicht im Ton eines Verhörs, sondern dem eines einfachen Gesprächs mit jungen Leuten. Er starrte mich an. Er schien voller Haß, nicht mehr teilnahmslos wie zuvor. Ich nahm dies als ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, daß er etwas sagen würde, obwohl er immer noch bleich war, ausgezehrt, kalt und gefühllos. Ich wartete geduldig eine ganze Weile. Ich lächelte ihn sogar an.

Schließlich, als hätte man ihn von innen angestoßen, sprang er auf wie ein wildes Tier, knirschte mit den Zähnen und schlug sich mit beiden Fäusten vor die Stirn.

"Was wollen Sie wissen?" brüllte er, "Warum wollen Sie das wissen? So ein niederträchtiger Kerl mußte ja getötet werden. Gemein sein ganzes Leben lang. Wer könnte das aushalten? Was immer ihr mit mir vorhabt, los, tut es nur. Zerschneidet mein Fleisch und werft es den Hunden vor. Was ihn angeht, er war ein Teufel, gewissenlos, ich konnte nicht mit ihm leben…"

Er tobte fürchterlich, als sei er völlig außer sich. Man mußte ihn packen und in seine Zelle zurückbringen. Ich seufzte. Noch eine furchtbare Geschichte? Wenn man da was wissen will, dann muß man sie von ihren Anfängen her untersuchen, aber die Geschichte von Onkel Tuyens Familie hatte mich alle Kraft gekostet.

Ich kehrte zurück in mein kleines Zimmer. Ich brauchte das jetzt: an diesen schmucklosen Ort zurückzukommen, den ich nun wie eine Oase empfand, wo es niemanden gab, der mich belästigte, keine Tragödien. Ich würde die Freiheit haben, alleine gut zu schlafen, alleine nachzudenken und alleine auf mein Bild Die ewige Ruhe über allem zu starren.

Ich öffnete die Tür und ging hinein. Ein Telegramm war unter der Türe durchgeschoben worden und lag vor mir. Ich öffnete es und las: "Quang hat sich umgebracht im Hotel M., fünfter Stock, Zimmer Nr. -. Das Opfer hat angeordnet, daß das Personal Sie informieren soll. Bitte kommen Sie und helfen Sie uns bei unseren Ermittlungen."

Vielleicht mußte die Geschichte so enden. Aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß das hübsche Gesicht meines Vetters so verschwinden, sich langsam zersetzen würde in der schwarzen Erde…

Anmerkungen der Übersetzer:
1 Ti markiert das sechste Element in einem Zyklus von zwölf; hier geht es um die dem Mondkalender entsprechenden Jahreszyklen und das Tierkreiszeichen der Schlange.
2 Mit dem Wechsel zum Sie soll im Deutschen angedeutet werden, daß sie nun den Onkel vor allem als Respektsperson anspricht.
3 Eine alte vietnamesische Legende erzählt die tragische Geschichte eines Seefischers, der eines Tages eine schreckliche Wahrheit entdeckt: Seine Frau ist in Wirklichkeit seine Schwester, die er seit langem tot geglaubt hatte. Er fährt aufs offene Meer hinaus, um niemals wiederzukehren. Jeden Tag bringt seine Frau ihr Kind an die Klippen, und wartet auf die Rückkehr ihres Mannes. Die Götter haben Mitleid mit ihnen und verwandeln sie in Felsgestein. Seitdem wenden sich die Seeleute in Seenot an diesen "Stein des Wartens" und sagen: "Mach, daß wir heil wieder zurückkommen, denn unsere Frauen und Kinder warten auf uns."
4 Da sie nie in die Felder gegangen war, hatte sie sich auch noch nie an den Füßen verletzt. Solche Verletzungen wurden durch das Anlegen von Blutegeln vor Entzündungen geschützt.
5 Während der Landreform-Kampagne der 1950er Jahre wurde das Eigentum der sogenannten Großgrundbesitzer konfisziert und neu verteilt.
6 Das Genfer Abkommen 1954 schrieb vor, daß alle Widerstandskämpfer sich in den Norden begeben sollten, auch die, die aus dem Süden stammten. Es sollte ja nur für 2 Jahre sein.
7 cuoc chinh huan Sitzungen und Kurse, in denen die Fehler der Landreform anerkannt und diskutiert werden sollten.
8 Gemeint ist die von Frankreich und Japan unterstützte Regierung des Kaisers Bao Dai.
9 Schnellzug zwischen den beiden großen Städten, der nur an wenigen Bahnhöfen hält.
10 im Original tom tuoi frische Garnelen

Quelle: Le Minh Khue: Bi kich nho [Eine kleine Tragödie], in:
Le Minh Khue: Mot minh qua duong. [Allein über die Straße]
Nhung truyen ngan moi va nhung truyen tam dac
[Neue und wohlbekannte Kurzgeschichten], Hanoi 2006,
ins Deutsche übersetzt von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo
Illustration: Dao Quoc Huy: Nguoi giay, 2005

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2006 und 3-4/2006

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