Wenn man jung ist ...

Eine Kurzgeschichte von Phan Thi Vang Anh

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Im sechsten Monat des Mondkalenders jährt sich der Todestag meiner Tante. An das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr. Alles, was ich sagen kann, ist, daß meine Großmutter immer, wenn dieser Todes- und Trauertag näher kommt, nicht mehr dieselbe ist: Sie wird apathisch, aufsässig, verliert ein wenig den Kopf …

Meine Tante hat sich selber umgebracht, und zwar mit Tabletten. Niemand konnte sie retten, denn sie war Medizinstudentin und darüber hinaus las sie Romane. Somit wußte sie genau, wie viele Tabletten sie nehmen mußte, um wirklich zu sterben, und sie nahm sie an einem Ort, an dem niemand dazwischen kommen konnte. Allein zurückgelassen, lebte Großmutter seitdem in dem großen Haus; den ganzen Tag verbrennt sie Räucherstäbchen vor den Hausaltären ihres Mannes und ihrer Tochter.

Mein Vater sagte zu meiner Mutter: „Es wäre besser, wenn Hoan bei der Großmutter wohnen würde!“ Das gefiel meiner Mutter überhaupt nicht, aber was konnte sie dagegen sagen? Bei der Großmutter lerne ich für mein Studium, mache Einkäufe und kümmere mich um den Haushalt: das ist mein täglicher Beitrag. Großmutter kocht, gibt den Hühnern zu fressen, gießt die Orchideen und sorgt mit viel Mühe dafür, daß die Räucherstäbchen ständig vor den zwei Altären glühen.

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Meine Tante war eine junge Frau voller Widersprüche: von sich eingenommen, aber empfindlich gegen das, was die Leute sagten, frech und großspurig, aber zugleich voller Komplexe. Sie ging oft aus, arbeitete aber auch hart. Sie hatte eine Menge Freunde, mit denen sie sich nur im Café traf; Sie war ein Mensch, der nie zu Ende führte, was er begonnen hatte. Ihre Schubladen waren voller Zettel, auf denen sie gute Vorsätze notiert hatte: nicht mehr..., sonst … In ihrem Schrank hat man nicht zu Ende geführte Stickereien gefunden, Romane, in denen eingeknickte Seiten zeigten, daß sie kurz vor dem Ende nicht mehr weiter gelesen hat. Im ersten Moment liebte sie, im nächsten war sie es schon wieder leid. So hatte sie eine Menge Jungen zur Weißglut gebracht ...

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Schließlich aber war sie „vernünftig“ geworden. Der, den sie liebte (oder besser der, der sie liebte) war unreif, sowohl seinem Charakter als auch seinem Verhalten nach. Ich duze ihn, weil er so alt ist wie ich, das heißt zwei Jahre jünger als meine Tante. Hinter seinem Rücken nannte meine Tante ihn „Kerl“ und sprach von ihm als „dieser Kerl Vy“. Wenn er zur Verabredung zu spät kam, überhäufte sie ihn mit Vorwürfen: „Das ist ein schäbiger Kerl!“ erklärte sie dann. Wenn er dann endlich kam, ging sie mit ihm, zwar mit einem Schmollmund, wagte aber nicht, ihm böse zu sein. Von diesen Rendez-vous kam sie gegen elf Uhr abends zurück; manchmal fröhlich, oft aber auch ging sie schweigend direkt ins Bett. Mein Vater sagte zu meiner Großmutter: Du solltest auf sie aufpassen!“ Großmutter lächelte nur: „Ich brauche ihr nur etwas zu sagen, und schon tut sie das genaue Gegenteil. Soll sie doch!“

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Ja genau, Soll sie doch! Sie ging weiterhin mit Vy, obwohl dieser „Provinzdandy“ in Long Xuyen eine langjährige Geliebte hatte, mit der er fast eine Ehe führte. Jeden Monat warf er sich auf sein Fahrrad, das schönste der ganzen Fakultät, und sauste los in Richtung Provinz, ohne sich darum zu kümmern, daß er nicht zum Appell erschien, daß er seine Vorlesungen versäumte, daß er meine Tante allein zurück ließ wie eine leidende Seele. Vier oder fünf Tage später tauchte er wieder auf, nach dem letzten Schrei gekleidet, die Taschen voller Geld, und man fragte sich, wo er das her hatte. Meine Tante fragte ihn: „Was hast du dort gemacht“ „Ich war abgebrannt“ „Hast du Ngan gesehen? Und wie war es?“ „Nicht gut. Ich habe sie satt, die abgetakelte Schlampe!“ Meine Tante tat so, als würde sie ihm glauben, um sich nicht die Freude zu verderben in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr. Aber da sie nicht dumm war, sagte sie sich, um sich zu trösten: „Solange er mir die Wahrheit sagt, liebt er mich!“ Wenn er unvorsichtig war und redete, erzählte Vy meiner Tante, wie er und Ngan in dem kleinen Haus am Ende einer Sackgasse, wo es den besten gemahlenen Reis gab, zusammen in einem Bett lagen und sich nur über dies und das unterhielten. … „Ich war hundemüde, ich hatte keine Lust!“ beklagte er sich. Aber dieses Bedauern paßte überhaupt nicht zu dem strahlenden Gesicht, das er dabei hatte.

Meine Mutter sagte: „Mal ehrlich, Xuyen. Wie hältst du diese verkorkste Situation aus?“ Meine Tante, die gerade Fleisch klein hackte, schlug hart das Messer auf das Schneidbrett: „Das ist nicht mein Mann, ist das klar! Er geht aus mit wem er will, er schläft mit wem er will, das ist mir egal!“ Meine Mutter sagte schüchtern: „Damit solltest du nicht spielen! Am Ende kommst du nicht mehr davon weg.“

Ja, sie kam wirklich nicht davon weg! Sie besuchte nicht mehr die kleinen Kneipen, ging nicht mehr „einfach nur so“ aus, wie in der Zeit, in der sie nie Geld hatte. Ihr intellektueller Bekanntenkreis war zusammengeschrumpft, ganz klein geworden. Sie schrieb Liebesgedichte, die so düster waren, daß kein Verleger sie drucken wollte, und sie schrieb ein konfuses Tagebuch, in dem nur drei Personen vorkamen: Vy, Ngan und sie selbst. Sie stellte Vy nicht vor die Wahl: sie oder Ngan, denn sie hatte Angst, daß er, in die Enge getrieben, sich für Ngan entscheiden könnte.

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In dieser Zeit kam ich oft zu Großmutter und half ihr beim Ernten der Mangos oder der vu sua1, machte den verstopften Abfluß wieder frei und ging Wasser schöpfen, wenn es Stromsperren gab … kurz all das, was meine Tante nicht machte. Sie saß immer an einem Tisch, der vor dem Fenster stand, wo ein hong xiem-Baum2 seine Zweige bis ins Zimmer hereinstreckte. Sie kam, uns Gesellschaft zu leisten, nur, wenn sie guter Laune war. Wenn nicht, machte sie das Radio an und hörte Musik, schrieb Tagebuch oder erledigte ihre Korrespondenz. Dann durfte man sie auf keinen Fall stören. Großmutter sagte, sie sei launisch, wie mein Großvater. Außer daß mein Großvater sich nicht ständig amüsieren wollte und nicht so leichtfertig war wie sie. Großmutter sagte, Tante sei zu empfindlich, sehr schnell beleidigt, sie leide, sei aber zu stolz, zu weinen, und das sei der Grund dafür, daß sie stets diesen finsteren und bockigen Gesichtsausdruck habe. Auch ich habe diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen, wenn Vy wieder mal nicht pünktlich zur Verabredung erschienen war. Es war schaurig und erschreckend. Meine Mutter, der ich das erzählte, sagte nur: „Du hast eine zu lebhafte Phantasie!“

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Ihre Freunde entfernten sich von ihr, einer nach dem anderen. Das waren arglose Studenten. Diese zukünftigen Schriftsteller und Künstler, die mit ihr die Faszination des Bohème-Lebens geteilt hatten, entdeckten nun, daß sie all das in den Wind schlug, um sich ausschließlich Vy zuzuwenden. Sie versuchten, ihr gut zuzureden, ihr mit allen Mitteln und unter Betrachtung aller Aspekte klar zumachen, daß Vy nur ein „armer Kerl“ sei und nicht mehr. Einer, der nicht viel rede, weil er nichts zu sagen habe, der von Zeit zu Zeit viel Geld habe, aber ansonsten ein rücksichtsloser Draufgänger sei. Nichts zu machen. Sie sagte, daß ja alle Männer so seien, alle nur Schürzenjäger. Vy und sie gingen in keinen Hörsaal mehr, sie schwänzte immer öfter die Vorlesungen, mußte deshalb immer mehr Stoff nachholen. In ihren Schubladen häuften sich neue Zettel mit Vorsätzen: gleich morgen anfangen zu arbeiten … unbedingt … sonst …

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Dann kamen die Sommerferien. Vy hatte sich in Luft aufgelöst. Meine Tante zog sich mehr und mehr zurück. Sie ging nicht mehr in die Cafés, hörte keine Musik mehr. Den ganzen Tag saß sie an ihrem Schreibtisch, unter dem hong xiem-Baum, repetierte ihre Vorlesungen oder kritzelte irgendwas auf kleine, nur handgroße Zettel. „Du bist doch in Ferien!“, sagte Großmutter zu ihr. „Ich muß für Prüfungen lernen.“ Den ganzen Tag ging das so, meine Großmutter ließ sie in Ruhe und bat mich, ihr zu helfen, damit meine Tante sich ungestört ihren Studien widmen könne.

An ihrem Geburtstag regnete es nicht, und die Sonne brannte nicht so heiß, aber niemand kam sie besuchen, außer zwei Studentinnen ihres Semesters mit einem Blumenstrauß und ein paar Stückchen Seife. Meine Tante steckte die Blumen nachlässig in irgendein Glas und stellte es in die Ecke. An dem Tag brachte ich ihr ein Geschenk meiner Eltern und ein Kompott, das ich selber zubereitet hatte. Sie lag auf dem Bett unter dem Moskitonetz. Sie schlief nicht, war aber auch nicht ganz wach. Ich schlug ihr vor: „Sollen wir nicht einen Kaffee trinken gehen?“ Da sprang sie sofort auf ihre Füße: „Ja, gehen wir. Ich bin es satt, hier im Haus herumzusitzen.“ Ich ging mit ihr zum Phi Van, einem Café, das ich öfter besuchte. Den ganzen Weg über schien es mir, als sei alles neu für sie, mit erstaunten Augen blickte sie auf den Verkehr und sagte nichts. Schließlich fragte sie mich: „Hoan, hast du einen Freund?“ „Ja, aber es ist nur ein Kumpel.“ Ich war euphorisch und zugleich beunruhigt darüber, daß sie wissen wollte, welcher „er“ mir wichtig war. „Was macht er? Ist er nett?“ fragte sie. „Er geht in dieselbe Klasse wie ich. Er ist ein guter Junge, sehr natürlich, sehr nett.“ Meine Tante runzelte die Stirn: „Was soll das heißen: 'natürlich'?“ „Das soll heißen: sehr authentisch. Ach was, ich habe mich lustig gemacht über deine Frage, und du fällst prompt darauf herein.“ Sie lächelte, aber es war ein etwas verkrampftes Lächeln, ihre dunklen Augen waren plötzlich traurig geworden und auf eine seltsame Weise durchsichtig. Ich sagte, was man eben so sagt in einer solchen Situation: „Heute Abend wird Onkel Vy zurückkommen, nicht wahr?“ Da errötete sie: „Nein, niemand wird kommen heute Abend. Ich habe jetzt sehr wenig Freunde!“ In der Tat, sehr wenig Freunde! Und deshalb hatte ich die Ehre, zusammen mit ihr im Café zu sitzen!

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Großmutter kann sich noch daran erinnern, daß meine Tante kurz vor ihrem Tod ihre frühere Fröhlichkeit wiedergefunden hatte. Sie ging wieder in die Cafés, leistete sich Süßigkeiten und nahm Großmutter mit auf ihrem Gepäckträger. „Ich habe die Prüfung bestanden“, erklärte sie. Und dann, wie in einem Roman, als nämlich niemand darauf gefaßt war, bat sie Großmutter um die Erlaubnis, einige Tage in Long Hai verbringen zu dürfen. Wenige Tage danach wurde Großmutter nach Vung Tau gerufen, um ihren Körper zu identifizieren und abzuholen. Kein Wort des Abschieds, wie das sonst üblich ist, keine Vorwürfe. Bei ihrer Leiche fand man nichts, keinen Brief, kein Photo. Nur die leere Schlaftabletten-Röhre.

Großmutter zog ihr die moosgrüne Bluse an, die sie so gelieb hatte. Und die weite Hose, die sie immer angezogen hatte, wenn sie sich zum Ausgehen schön machen wollte; Die Haare machte sie ihr auf Hippe-Art zurecht … Da hatte ihre Jüngste ihr einen schweren Schlag versetzt! Einfach weggegangen ohne Erklärung, und alle waren perplex. Jeder durchsuchte sein Gedächtnis und fragte sich, ob er sie durch irgend etwas verletzt haben könnte, wo sie doch so empfindlich war!

Zu ihrer Beerdigung erschien „Onkel“ Vy nicht. Man sagte, er sei im Urlaub in Quy Nhon. Mein einziger Wunsch war, daß ihn dort die Wellen für immer wegtrügen.

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Inzwischen sind zwei Jahre vergangen. An meine Tante erinnert sich niemand mehr genau, außer meiner Großmutter. Wenn sie das gewußt hätte, wäre meine Tante sicher nicht auf die Idee gekommen, sich umzubringen. „Sie war verrückt. Das mußte ja irgendwann soweit kommen!“ Damit war die Angelegenheit für meinen Vater erledigt. Meine Mutter sagte: „Das hatte sicher irgendwas mit Vy zu tun.“ Jedenfalls wußte niemand etwas Genaues. Das Tagebuch, das sie hinterlassen hat, lieferte auch keine plausible Erklärung, es war düster, ob sie nun über Regen, schönes Wetter, das Ausgehen oder das Studium schrieb: Alles war wie in ein dunkler Licht getaucht, er­schien aussichtslos. Das war so erschreckend, daß ich nach er Lektüre zu mir sagte: „Dann hatte sie wohl recht, sich umzubringen.“ Aber da ich neugierig bin und ein wenig mißtrauisch, habe ich versucht, den wahren Grund herauszubekommen, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß sie alles daran gesetzt hatte, um Vy dazu zu bringen, sie zu verlassen. Und zwar deshalb, weil sie es nicht ertragen hätte, das Semester wiederholen zu müssen, was ihr nämlich das mitleidige Grinsen ihrer Kommilitonen eingetragen hätte. Meine Mutter sagte: „Sterben für eine Bagatelle … Als wäre es das wert!“ War es das wert?

Aber natürlich war es das wert! Ich stand an der Tür, draußen regnete es wie aus Eimern. Wenn meine Mutter wüßte, wie verrückt und unvernünftig man sein kann in diesem Alter, wie sehr man Freunde braucht, die einen verstehen, und wie wichtig es ist, sich zu rächen! Ich stelle mir vor, daß meine Tante sich im Augenblick des Todes vorgestellt hat, alle würden ihr nachweinen, Vy sich, verstört und voller Reue, auf ihren Sarg werfen würde, wie um ihr ins Grab zu folgen … Ach! Am Tag ihrer Beerdigung lag Vy am Strand. Es war schönes Wetter und er war sehr fröhlich.

Quelle:Phan Thi Vang Anh: Khi nguoi ta tre (Wenn man jung ist),
in: Truyen ngan bon cay but ngu, (Kurzgeschichten von vier Autorinnen) Hanoi 2002.
Übersetzung: Günter Giesenfeld und Marianne Ngo
Illustrationen: Zwei Bilder aus der Holzdruck-Serie "Tanz mit dem Löwen" 1992, von Dinh Luc,
aus: Dinh Luc, painter, Hanoi 1994

Veröffentlicht in: Viet Nam Kurier 2/2009

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