Um jeden Preis?

Ein Kommentar von Günter Giesenfeld

I

n der Viet Nam News vom 22. September 2013 ist eine ganze Seite der Ankündigung einer neuen Buchveröffentlichung gewidmet. Es handelt sich um die Giap-Biographie von Cecil B. Currey1, die jetzt in vietnamesischer Übersetzung veröffentlicht worden ist. Es sei „eine neue historische Biographie, geschrieben von einem amerikanischen Professor“, und sie werte „intensive Forschungsergebnisse und Archivmaterial aus erster Hand aus, um die Motive und die taktische Genialität der verehrten vietnamesischen General herauszuarbeiten.“ heißt es im Untertitel zu der Rezension.

Dies verwirrt einen Leser, der sich in der Literatur zu Giap auskennt, in dreierlei Hinsicht: Erstens ist das Buch von Currey keineswegs „neu“, wie behauptet wird, sondern stammt aus dem Jahre 1997. Zweitens ist diese Veröffentlichung bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass es bislang keine „offizielle“ oder wissenschaftliche Biographie des legendären Generals in vietnamesischer Sprache gibt.2 Die amerikanische Darstellung ist also das erste Buch über Giaps Leben, das vietnamesische Interessierte lesen können. Die dritte Verwirrung betrifft den Titel: „Sieg um jeden Preis“ klingt für einen europäischen Leser nach einem Klischee, das in der westlichen Darstellung eng mit dem vietnamesischen General verbunden ist: Er sei ein rücksichtsloser Militär gewesen, dem Menschenleben nichts bedeutet hätten, der Hunderttausende kaltblütig geopfert habe, um den Sieg zu erringen. Die Formulierung „um jeden Preis“ konkretisiert sich also in diesem Zusammenhang wie von selbst als „Ohne Rücksicht auf eigene Verluste“. Wenn man das Buch von Currey liest, findet man seltsamerweise kaum Formulierungen, die dieses Urteil über Giap bestätigen, und es mag sein, dass der Titel gar nicht vom Autor selbst stammt, sondern vom Verleger, dem das Klischee über Giap so geläufig schien, dass er es aus Gründen der Werbung bedienen zu müssen glaubte.

T

rotzdem ist es für einen Vietnamfreund hierzulande verwunderlich, dass man an dem Titel des Buchs in Vietnam anscheinend kaum Anstoß genommen hat. In der Rezension heißt es zwar: „Obwohl das Buch diesen Titel trägt, so hat der General nicht den Sieg um jeden Preis gesucht. Im Gegenteil, er versuchte erfolgreich, mit Hilfe seiner Intelligenz und seines Verstandes so wenig Opfer und Schäden wie möglich in Kauf zu nehmen.“ So wird der vietnamesische General Nguyen Huy Hieu zitiert, der das Buch „eines der vollständigsten und detailliertesten Bücher“ nennt, die von Ausländern über General Giap geschrieben worden seien.3

Der Titel des Buchs ist also jedenfalls für die vietnamesischen Ausgabe nicht verändert worden. Wahrscheinlich ist die im Westen unvermeidliche Assoziation mit dem „Ruf“, den Giap bei Antikommunisten genießt, in Vietnam nicht so naheliegend. Das Buch enthält aber auch viele Darstellungen und Gedankengänge sowie Vermutungen über das Leben Giaps, die einem orthodoxen Historiker der Partei nicht unbedingt gefallen dürften. Ob im Text Korrekturen oder Auslassungen bei der Übersetzung vorgenommen wurden, kann ich nicht beurteilen. Ungeachtet dessen ist die Tatsache, dass dieses Buch jetzt in vietnamesischer Sprache verfügbar ist, an sich schon bemerkenswert.

I

m Zusammenhang unseres Schwerpunktthemas soll aber doch auf dieses spezielle Bild eingegangen werden, das im Westen von eher reaktionären Kreisen über Giap (und übrigens manchmal auch Ho Chi Minh) noch immer verbreitet wird. Verschiedene Autoren haben versucht, Zitate oder Aussagen von Giap selbst zu finden, die das (Vor)Urteil bestätigen könnten. Als erstes Beispiel mag hier der berühmte und eigentlich seriöse Journalist und Buchautor Jean Lacouture stehen, der in einem Artikel aus dem Jahre 1952 am Ende seiner Wiedergabe eines Interviews mit Giap diesen mit der folgenden Aussage zitiert: „Wir lassen uns durch keinerlei Rücksicht auf Personen, durch keinerlei Zerstörungen aufhalten.“ Das Original-Interview wurde zuerst in der Zeitschrift Paris-Saigon am 27. Februar 1946 veröffentlicht. Jahre später erst erschien ein Artikel in Le Monde4, der auf diese Veröffentlichung zurückgeht und Teile desselben Interviews inklusive der Aussage Giaps wiedergibt5. Er enthält interessanterweise als Einleitung zu dem erwähnten Zitat, folgenden neu ergänzten Kommentar des Autors: „Er (Giap) führt den totalen Krieg, den er vor sechs Jahren ausgelöst hat, mit der Härte eines kommunistischen Führers und asiatischen Kriegsherrn.“ Es folgt, als Beleg für diese Aussage, das Zitat von Giap.

M

an sollte da genauer hinsehen. Ich lasse beiseite die irritierende Verdrehung (er, Giap, habe den Krieg ausgelöst und nicht der französische Admiral d‘Argenlieu), ich verweise auch nur nebenbei auf die fatale, bewusste oder fahrlässige Konnotation des Begriffs „totaler Krieg“ in diesem Zusammenhang.

Für die Beurteilung des Zitats von Giap (Ich unterstelle Lacouture nicht, es erfunden zu haben) sollte man sich erinnern, dass es aus dem Februar 1946 stammt. Damals hatte sich Ho Chi Minh dazu entschieden, dem französischen Expeditionsheer, wenn man seine Rückkehr schon nicht verhindern konnte, einen friedlichen Einmarsch in Nordvietnam zu erlauben, was besser zu ein schien als die noch andauernde Besatzung durch die Chinesen.6 Mit dem militärischen Verantwortlichen im Norden (General Morlière) schien ein friedliches Nebeneinander möglich, aber der Kommandant des Südens, Admiral d‘Argenlieu, hatte die klare Absicht, zur Eroberung von Tonking notfalls einen neuen Krieg zu führen. Wenn Giap in dieser Situation von „Rücksicht auf Personen“ und von „Zerstörungen“ sprach, so meinte er damit die zu befürchtenden Opfer und Verwüstungen durch eine französische Eskalation – die ja dann auch erfolgte. Ein Angriff des Viet Minh, der vielleicht eigene Opfer verursacht hätte, stand nicht zur Debatte. Die Schlussfolgerung auf die Mentalität Giaps und „asiatischer Kriegsherren“ ist zumindest gewagt, tendenziell rassistisch und wird im Original-Interview auch nicht vollzogen.

D

as Bild vom rücksichtslosen Feldherrn, der die eigenen Truppen auf die Schlachtbank führt, hat in der westlichen Diskussion Tradition und Methode. Es wird Giap und auch anderen militärischen Anführern aus den unterentwickelten Ländern immer wieder zugeordnet. Nur: Es ist – zumindest im Falle Giap – durch kein einziges authentisches Zitat, durch keinen einzigen authentischen Bericht belegbar. In den umfangreichen Werken und Schriften des Generals findet man nirgendwo eine entsprechende Aussage. Trotzdem wird es immer wieder versucht: Als zweites Beispiel sei Bernd Greiner genannt, der in seinem Buch einen angeblichen Ausspruch von Giap wie folgt zitiert: „Jede Minute“, soll dieser gesagt haben, „sterben in der ganzen Welt Hunderttausende von Menschen. Das Leben oder der Tod von Tausenden, selbst wenn sie Landsleute sind, bedeutet in Wirklichkeit sehr wenig.“7 Das Zitat stammt aus einem unveröffentlichten und undatierten Report der US-Army und ist dort ohne Angabe der Entstehungsumstände und des Textcharakters (Interview? Aussage? Gesprächsnotiz?) archiviert – eine höchst zweifelhafte Quelle. Der Giap-Biograph Cecil B. Currey, der im Laufe seiner Recherchen auch alle zugänglichen US-Archive nach Dokumenten mit Bezug zu Giap konsultiert hat, bemerkt an mehreren Stellen, wie wenig zuverlässig die dort niedergelegten Dokumente oft sind, weil sie aus (französischen und amerikanischen) Geheimdienstquellen stammen: „Die am meisten von Irrtümern durchsetzten Dokumente sind diejenigen, die von der CIA stammen!“8 Auch Greiners Versuch ist also wenig glaubwürdig.

Z

u dem Bild des harten, rücksichtslosen Zynikers vermerkt der englische Biograph Giaps, Peter Macdonald: „Was seine Rücksichtslosigkeit (ruthless9) angeht, ja, er ist ohne Zweifel rücksichtslos, und zwar insofern, als jeder erfolgreiche Militärkommandant diese Haltung bis zu einem gewissen Ausmaß einnehmen muss. Seine persönliche Meinung in dem Sinne ob er Gräuel initiiert, geduldet oder unterstützt hat, die vom Hanoier Regime während der Unterdrückung der VNQDD im Jahr 1946 und bei der Landreform vom 1956 verübt wurden, wird man wohl nie erfahren. Und natürlich kann er nicht selbst verantwortlich gemacht werden für jegliche Bürgerkriegs-Gewalt, die vom Vietkong im Süden ausgeübt worden ist.“10

Das beharrliche Insistieren auf dem Klischee mag ein Versuch sein, Gründe für die Niederlage der US-Intervention zu finden, um die eigene militärische Führung, die eigenen Soldaten nachträglich zu entlasten, nach dem Muster: Wenn der Gegner so skrupellos ist, kann man das eigene Versagen als Versuch interpretieren, sich nicht auf dieselbe Ebene begeben zu wollen.11 Dahinter steht eine Art Kriegsethos oder die Verstellung von einem „fairen“ Kampf, gegen die die Vietnamesen verstoßen hätten. Auf Stammtischniveau mag eine solche halsbrecherische Argumentation vielleicht sogar die erstrebte Entlastungswirkung haben. Sie ist aber, wenn man zum Beisiel an My Lai denkt, eigentlich pervers.

Anmerkungen:
1 Cecil B. Currey: Victory at any cost. The Genius of Vietnam‘s Gen. Vo Nguyen Giap. Dulles, Virginia 1997.
2 Jedenfalls keine, die in eine europäische Sprache übersetzt worden ist. Aber auch befragte vietnamesische Freunde wussten nichts von einer in Vietnam veröffentlichten Biographie des Generals.
3 VNS 22.09.2013
4 LM 5.12.1952
5 Er wurde anlässlich des Todes von Giap in der LM vom 6./7. Oktober 2013 unverändert nachgedruckt.
6 Diese Ansicht Ho Chi Minhs war damals in der Regierung der DRV nicht unumstritten.
7 Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten, Hamburg 2007, S. 54. Zur allgemeinen Einschätzung dieses Buchs vgl. LdR 237ff.
8 Currey, S. 336. Die Bemerkung bezieht sich speziell auf diejenigen Dokumente, die Giap betreffen.
9 Auch: unbarmherzig.
10 Peter Macdonald: Giap. The Victor in Vietnam, London 1973, S. 345. Im zweiten erwähnten Fall (Landreform) ist anzumerken, dass Giap derjenige war, der sich als erster Regierungsvertreter in die Provinz Nghe An begab, um die Bevölkerung für die gemachten Fehler um Verzeihung zu bitten.
11 Damit ist das Grundmotiv vieler Hollywood-Produktionen angesprochen, die einen nachträglichen (moralischen) Sieg der USA zu inszenieren versuchen. Es kann aber auch so interpretiert werden, dass es jegliche eigenen Gräuel rechtfertigt.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2013

zurück zurückVNK Home