Es war nicht Johnson

Neue Erkenntnisse zum Tonking-Zwischenfall

Gareth Porter

Mehr als fünfzig Jahre lang galt es als ausgemacht, dass der Tonking- Zwischenfall ein Täuschungsmanöver war, das Präsident Lyndon B. Johnson dazu benutzt habe, den Krieg gegen Nordvietnam politisch im Kongress durchzusetzen. Aber die Bombardements vom 4. August 1964, als Reaktion auf einen angeblichen Angriff der nordvietnamesischen Marine, der nie stattgefunden hatte, waren keine freie Entscheidung des Präsidenten; Im Gegenteil, er versuchte lange Zeit, sie zu vermeiden.

Das eigentliche Täuschungsmanöver hat Verteidigungsminister Robert McNamara zu verantworten, der nämlich seinen Präsidenten bewusst falsch informierte, um seine Entscheidung zu beeinflussen. Er informierte ihn nämlich nicht darüber, dass der US-Kommandeur im Golf von Tonking, der zunächst gemeldet hatte, es habe in der Nacht eine Attacke von nordvietnamesischen Patrouillenschiffen gegen US-Kriegsschiffe in der Region gegeben, später ernsthafte Zweifel an dieser Meldung ausgedrückt und ein genaue Untersuchung unter Tageslicht-Bedingungen angeordnet hatte. Das Verschweigen dieser Information war ein unverschämter Versuch, die verfassungsmäßige Entscheidungsgewalt des Präsidenten über den Einsatz militärischer Gewalt auszuschalten.

McNamaras Täuschung ist Dokumenten zu entnehmen, die in der Lyndon- Johnson-Bibliothek archiviert und inzwischen zur öffentlichen Einsicht freigegeben worden sind. Der Autor dieses Artikels hat sie ausgewertet, um die Geschichte des Tonking-Zwischenfalls 2005 in einem Buch über den Eintritt der USA in den Vietnamkrieg zu beschreiben. Der Zwischenfalls ist ein Schlüsselereignis in dem größeren Zusammenhang der Frage, wie die nationalen Sicherheitsinstitutionen, sowohl in der Gestalt militärischer als auch ziviler hoher Beamter, immer wieder versuchten, Druck auf Lyndon B. Johnson auszuüben, um ihn dazu zu bewegen, den Krieg in Vietnam auszuweiten.

Lyndon B. Johnson (LBJ) hatte sich zwei Tage zuvor geweigert, als Reaktion auf einen nordvietnamesischen Angriff auf US-Schiffe, die elektronische Überwachungsaktionen durchführten, militärisch zurückzuschlagen. Aber am 4. August befahl er auf McNamaras Druck dann doch Vergeltungsschläge, und zwar auf der Grundlage von Berichten über einen neuen Angriff. Nach dieser Entscheidung jedoch begann der US-Einsatzkommandeur im Golf von Tonking, Kapitän John Herrick, daran zu zweifeln, dass US-Schiffe wirklich angegriffen worden seien und ordnete eine „genaue Untersuchung“ an, ehe als Reaktion irgendeine militärisch Aktion unternommen werde.

MaNamara las Herricks Bericht am Nachmittag, und als er den Oberkommandeur der Pazifik-Einsatzflotte, Armiral Sharp anrief, erfuhr er von diesem, dass Herrick weitere erhebliche Zweifel habe, dass ein Angriff stattgefunden habe. Herrick hatte inzwischen mit der Besatzung der „Maddox“ Gespräche geführt. Sharp riet dringend dazu, den „Befehl“ zu den für den Abend geplanten Luftangriffen „zurückzuhalten“, bis eindeutig geklärt sei, ob es wirklich einen nordvietnamesischen Angriff gegeben habe.

Aber MaNamara sagte zu Sharp, er zöge es vor „den Befehl ausführen zu lassen“, während er auf die „definitive Bestätigung“ warte über das was tatsächlich passiert war.

MacNamara gab danach den Befehl zu den Luftangriffen frei, ohne den Präsidenten von den Erkenntnissen zu unterrichten, die er von Sharp erfahren hatte. Damit maßte er sich tatsächlich die Befehlsgewalt an, die nach der Verfassung nur der Präsident ausüben darf, wenn es um eine Kriegserklärung geht.

Bei der nächtlichen Besprechung im Weißen Haus behauptete MaNamara weiterhin kategorisch, dass im Golf von Tonking US-Schiffe attackiert worden seien. Als er nach Beweisen dafür gefragt wurde, sagte McNamara: „Diese gibt es nur als streng geheime Informationen.“ Und er zitierte eine von der NSA abgefangene vietnamesische Botschaft. Diese konnte allerdings nichts mit dem Zwischenfalls vom 4. August zu tun haben, wie Geheimdienstspezialisten beim Abgleich der Daten sofort erkannten.

Jetzt erwachte bei LBJ der Verdacht, dass McNamara ihm Informationen von größter Wichtigkeit vorenthielt. Er beauftragte sofort den Nationalen Sicherheitsberater McGeorge Bundy, herauszufinden, ob die behauptete Attacke wirklich stattgefunden habe. Das Außenministerium wies er an, ihm eine komplette Chronologie der Kontakte McNamaras mit den militärischen Stellen am 4. August direkt ins Weiße Haus zu liefern, inklusive der Inhalte jeder einzelnen Kommunikation.

Diese Aufstellung zeigte, dass Mc- Namara weiterhin die wichtigsten Inhalte der Gespräch von LBJ fernhielt. So wurde zum Beispiel Sharps Mitteilung, dass Kapt. Herrick „die ganze Situation zweifelhaft“ fand und eine „‘recce‘1 bei Tageslicht“ forderte, ehe irgendeine Entscheidung getroffen würde, sich zu rächen, nicht an den Präsidenten weitergeleitet. Ebenso wurde verschwiegen, dass Sharp mit Herricks Vorsichtsmaßnahme einverstanden war. Weiterhin wurde fälschlicherweise behauptet, MaNamara sei mit Sharp einer Meinung gewesen, dass der Angriffsbefehl ausgesetzt werden müsse, bis eine eindeutige Bestätigung vorliege.

Die Annahme, dass LBJ den Tonking- Zwischenfall dazu benutzt habe, die Politik der USA in Richtung einer militärischen Intervention zu beeinflussen, ist also falsch. Die neuen Erkenntnisse decken vielmehr auf, wie groß die Differenzen zwischen Johnson und seinen Sicherheitsberatern in Bezug auf die Vietnampolitik waren. In den Tagen nach dieser Episode hatte Johnson genügend Beweise und war überzeugt, dass der Angriff nie stattgefunden hatte. Er reagierte auf diese Erkenntnis mit dem Befehl, sowohl die CIA-Kommandos als auch die Patrouillen der US-Marine nahe der Küste einzustellen.

Im September 1964 versuchten Mc- Namara und andere hohe Beamte erneut, LBJ dazu zu bewegen, Patrouillenfahrten in provokativer Weise weit näher an der Küste vorzunehmen und gleichzeitig wieder Erkundungskommandos auf dem Land nach Nordvietnam zu schicken. Sie wollten damit einen erneuten Zwischenfall provozieren, um ein umfassendes Bombardierungsprogramm zu rechtfertigen. Aber Johnson bestand darauf, dass die Patrouillen mindestens 20 Seemeilen von der Küste entfernt blieben und verbot die Kommando-Operationen zu Lande ganz.

Sechs Wochen nach den Tonking- Bombardements, am 18. September 1964 behaupteten McNamara und Rusk, Nordvietnam habe einen weiteren Angriff auf einen US-Zerstörer im Golf von Tonking ausgeführt und versuchten erneuten, bei Johnson einen Rachefeldzug durchzusetzen. Aber LBJ war skeptisch und sagte zu MaNamara: „Gerade vor ein paar Wochen sind Sie zu mir gekommen und haben behauptet, dass sie einen Angriff auf uns verübt hätten – dass sie auf uns feuerten, und wir feuerten zurück, und später kam heraus, dass sie vielleicht gar nicht auf uns gefeuert haben.“

Nach seiner Wiederwahl im November 1964 musste sich LBJ erneut einer Fülle von ähnlichen politischen Ratschlägen widersetzen, die alle wollten, dass Nordvietnam systematisch bombardiert werden solle. Hartnäckig blieb er bei seiner Meinung, dass eine Bombardierung des Nordens nichts bringen würde, solange der Süden geteilt2 und instabil sei. Er zeigte sich offen gegenüber der Absicht der demoralisierten südvietnamesischen Regierung, eine Vereinbarung mit den Kommunisten3 über eine neutralistische Regierung anzustreben, sehr zum Verdruss seiner Berater. Mc- George Bundy erinnerte sich dass er damals daraus den Schluss gezogen habe, Johnson sei kurz davor „Südvietnam aufzugeben“.

LBJ gab dem Druck seiner Berater erst nach, als McNamara und Bundy Ende Januar 1965 ihm einen gemeinsamen Brief schrieben, in dem sie klarstell- ten, dass die Verantwortung dafür, dass die USA in Südvietnam „gedemütigt“ würden, einmal allein auf seinen Schultern liegen würde, wenn er seine Politik der „Passivität“ weiter fortsetzen würde. In der Furcht, von seinen eigenen Beratern desavouiert zu werden, gab Johnson schließlich dem Druck nach und stellte sich nicht mehr gegen die systematischen Bombardierungen, obwohl er dadurch in einen eskalierenden Krieg hineingezogen wurde, den er nie gewollt hatte. Die USA versank im Strudel des Vietnamkrieges, den LBJ fortan öffentlich und privat verteidigte, was zu der logischen, aber missverständlichen Folgerung beitrug, er sei stets die treibende Kraft hinter diesem Krieg gewesen.

Die grundlegende Lehre, die man aus der Tonking-Episode ziehen muss, die Erkenntnis, dass eine Gruppe höherer Sicherheitsberater es schaffen konnte, durch kaltblütige und ungesetzliche Taktiken ihre eigene Kriegsagenda durchzusetzen, im vollen Bewusstsein, dass der Präsident sie ablehnte.

Anmerkungen:
1 „reconnaissance“, Aufklärung
2 In Teile unter Kontrolle der südvietnamesischen Regierung und befreite Gebieten
3 Gemeint ist die südvietnamesische Befreiungsfront.

Quelle:
The Real Tonking Gulf Deception Wasn‘t by Lyndon Johnson, August 2014, http://www.counterpunch.org/2014/08/05/roberts- mcnamara-and-the-real-tonkin-gulfdeception/ übersetzt von Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2014

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