Foto: Trong Chinh/VNP

Der 12. Parteitag
Kein Umschwung, sondern Kontinuität

Günter Giesenfeld

Die wenigen Berichte, die in der hiesigen führenden Presse und im Fernsehen über den Parteitag der KP Vietnams erschienen sind, können als Versuche gewertet werden, die in Vietnam herrschende politische Kultur mit westliche Erklärungsmustern zu verstehen, sie an den „Kampfformen“ zu messen, mit denen hierzulande politische Auseinandersetzungen ausgetragen werden.

Deswegen bestanden Vorbereitung und Durchführung des Parteitages nach diesen Berichten im Wesentlichen in einem Wettlauf zwischen zwei Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs der KP. Das ist, blickt man genauer hin, sowohl richtig als auch einseitig. Nach westlicher Sicht ist bei diesem „Machtkampf“ einer der Kandidaten „ausgeschaltet“ worden, der andere hat „gewonnen“. Aus vietnamesischer Sicht wäre das anders zu formulieren: Man hat sich geeinigt und damit die Einheit der Partei gewahrt, und damit hat sich nach Meinung der Mehrheit in der Parteiführung die bessere Politik für das Land durchgesetzt und damit der Kandidat, der dieses Ziel am besten durchzusetzen verspricht. Beobachtern sowohl in Vietnam als auch im Ausland bleibt es gleichwohl unbenommen, diese Politik zu kritisieren, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass sie beim nächsten Parteitag korrigiert wird. Der grundlegende Unterschied liegt in der Priorität des Einheitsgedankens gegenüber der Vorherrschaft des Konkurrenzdenkens, was man erkennen muss, will man ein Ereignis wie diesen Parteitag überhaupt richtig verstehen – und sei es um es zu kritisieren.

Beobachter im Westen sprechen davon, dass sich angesichts aktueller politischer Entwicklungen im Land und in der Region in der Parteiführung zwei Fraktionen entwickelt hätten, die zwei verschiedene Tendenzen für eine zukünftige Wirtschafts- und Außenpolitik verträten. Die eine, verkürzt als pro-westlich charakterisiert, wird mit dem Namen Nguyen Tan Dung verknüpft, dem aktuellen Ministerpräsidenten, die andere, verkürzt als pro-chinesisch geltende Fraktion verbindet sich mit dem Namen des Generalsekretärs der Partei, Nguyen Van Trong. Diese beiden „Fraktionen“ hätten um die Macht gekämpft, und der Parteitag habe diesen „Kampf“ entschieden. Wie sahen die politischen Ziele der beiden „Lager“ aus?

Nguyen Tan Dung, „pro-westlich“

Der Premierminister der bisherigen Regierung, Nguyen Tan Dung, hat eine Wirtschaftspolitik betrieben, die als „unternehmerfreundlich“ gilt und die Privatisierung der Staatsbetriebe favorisiert. Außerdem wird er als überzeugter Vertreter von vom Westen so genannten „Reformen“ betrachtet. Das wird an seinem Eintreten für das Freihandelsabkommen TPP festgemacht, und dies bedeute wirtschaftspolitisch eine weitere Angleichung an den Westen, gesellschaftspolitisch die Förderung von unabhängigen Institutionen der Zivilgesellschaft1, und außenpolitisch eine Hinwendung zu den USA und eine Distanzierung von China.

Die Diskussion um diese Orientierung ist keineswegs neu, sie hatte im Jahre 2014 schon auch in der Öffentlichkeit zu Debatten geführt, und zwar seit der Krise um die chinesische Ölplattform im Mai diesen Jahres. In dieser Debatte spielte u.a. der Brief von ehemaligen Funktionären der Partei eine Rolle, in dem im Juni die Regierung aufgefordert wurde, die allzu große Nachgiebigkeit gegenüber China aufzugeben, ja gar, sich von China zu lösen. Regierungschef Dung hat diese Mahnungen ernst genommen, und vielleicht wäre die Diskussion und die Reaktionen in Vietnam und in Teilen der Weltöffentlichkeit nicht so heftig gewesen, wenn Dung nicht Premierminister gewesen wäre. Wie bekannt, gab es damals in Vietnam Momente, in denen der von der Regierung mit ausgelöste und geschürte „Volkszorn“ so außer Kontrolle geriet, dass es Verletzte und Tote zu beklagen gab. Die Regierung musste eingreifen und sich bei chinesischen Geschäftsleuten entschuldigen und sie für ihre Büros, die verwüstet worden waren, entschädigen.2

Dungs Position erhielt – jedenfalls in westlicher Sicht – eine Bestätigung spätestens dann, als im Jahre 2015 die USA ihr Engagement in den bis dahin weitgehend regionalen Konflikt um die Inseln im Ostmeer deutlich werden ließen. Zwar hatte Präsident Obama schon bei früheren Gelegenheiten seine Absicht verkündet, den Einfluss seines Landes im Pazifik zu stärken, und zwar im Rahmen einer Politik, die „Rebalancing“ genannt wird und mit einer neuen Annäherung an Japan auch das südchinesische Meer in den Blick nahm. Jetzt jedoch, als der Konflikt zwischen China und den anderen Anrainerstaaten dort zu eskalieren begann, traten die USA als Großmacht auf den Plan und machten klar, dass es sich auch um den Interessenkonflikt zwischen zwei Großmächten handelte. Damit war auch eine Politik der pragmatischen Verständigung mit dem übergroßen Nachbarn, wie sie die vietnamesische Regierung immer wieder verfolgt hat, in Frage gestellt. Sie strebte zwar keine freundschaftliche3, mindestens aber eine störungsfreie Koexistenz an.4 Diese Versuche scheinen immer wieder zu scheitern, obwohl die chinesische Seite fast demonstrativ mitspielt, während sie ihre Politik der Nadelstiche weiter betreibt. Vietnam befindet sich schon in dieser regionalen Konstellation in einer äußerst prekären Situation, weil es nicht, wie China, immer wieder im Kleinen vollendete Tatsachen schaffen kann. Hinzu kommt, dass der globale Aspekt der chinesischen Position einer Deeskalationspolitik entgegensteht. Allerdings erwächst damit Vietnam in den USA auch ein potentieller Bundesgenosse, der dabei jedoch vor allem eigene Interessen verfolgt.5

Nguyen Phu Trong, „pro-chinesisch“

Der frühere und jetzt wiedergewählte Generalsekretär der Partei Nguyen Phu Trong ist nach Meinung der westlichen Presse der Vertreter der „konservativen“ Parteifraktion, es wird behauptet, er sei weniger bekannt und weniger beliebt, was aber wohl eher nur für das westliche Ausland zutrifft. Der Hauptgrund für die ablehnende Haltung der westlichen Kommentatoren ihm gegenüber ist wohl die Tatasche, dass er das politische System Vietnams verteidigt: „Die Qualität eines politischen Systems hängt nicht ab von der Anzahl der Parteien, sondern von der Qualität der Parteien“, soll er bei einem Besuch in Japan im September 2015 gesagt haben. Er ist in dem Sinn „pro-chinesisch“, weil er, um es positiv zu formulieren, für eine „Deeskalierung“ des Verhältnisses zu China eintritt. Das muss man nicht unbedingt ideologisch begründen und daraus schließen, dass er für einen „Kommunismus“ à la Mao eintritt. Es kann auch Ausdruck einer realistischen Einschätzung der Machtverhältnisse sein. Er strebe eine „Pragmatisierung“ der Politik China gegenüber an, wird betont.


Nguyen Phu Trong. Photo: Tri Dung/VNA

Seine innenpolitischen Ziele dürften sich kaum von denen seines „Konkurrenten“ unterscheiden, das haben die noch zu erörternden politischen Beschlüsse des Parteitags gezeigt. Falsch und eine Folge allzu großer Simplifizierung in der westlichen Darstellung wäre die Schlussfolgerung, er sei gegen die Politik der Annäherung an die USA. Dagegen spricht allein schon die spektakuläre Reise, die er im Juli 2015 in die USA unternommen hat. Zur Verblüffung aller Beobachter wurde er dabei auch offiziell von Präsident Obama empfangen – eine Ehre, die sonst nur Staatspräsidenten und Regierungschefs vorbehalten ist und nicht dem Generalsekretär einer kommunistischen Partei. Diese Tatsache wurde in Vietnam, aber auch von westlichen Beobachtern als „Respektbezeugung für das von Vietnam gewählte politische System“6 interpretiert. Wie dem auch sei, dieser Besuch war dadurch zur offiziellen Bestätigung der Tatsache erklärt worden, dass man in dem Konflikt um das Ostmeer auf derselben Seite stehe, aus welchen Gründen auch immer.

Trong hatte im Gepäck die Forderung an die USA, das Waffenembargo, das seit Ende des Vietnamkriegs immer noch bestand, aufzuheben. Dass sein Wunsch auf fruchtbaren Boden fiel, wurde jetzt deutlich: Am 23.05.2016 wurde das Embargo tatsächlich aufgehoben7.

Entscheidung schon vor dem Parteitag

Auf dem Parteitag selbst trat nur Trong als Kandidat für den Posten des Generalsekretärs an. Dung war schon vorher in den Abstimmungen im Politbüro und Zentralkomitee gescheitert. Deswegen hat auch die Konkurrenz zwischen zwei Konkurrenten bei den Beratungen des Parteitags kaum eine Rolle gespielt, sehr wohl aber die Neubesetzungen der beiden Parteigremien ZK und Politbüro.

Die Parteistatuten setzen bei diesen Wahlen der Auswahl der Kandidaten enge Grenzen: Für das Politbüro gilt eine Altersgrenze von 65 Jahren, wer älter ist, darf nicht kandidieren. Außerdem ist die Mitgliedschaft in diesem Gremium auf 10 Jahre begrenzt. Wer auf einen der Führungsposten des Landes gewählt werden will (Premierminister, Staatspräsident und Vorsitzender der Nationalversammlung), muss zuvor mindestens 5 Jahre lang Mitglied des Politbüros gewesen sein. Außerdem gibt es Regeln für die regionale Herkunft (Norden, Mitte, Süden).

Ungeschrieben gilt zudem das Bestreben danach, die Mitgliedschaft zu verjüngen: 10% der Mitgleiter sollen jünger als 40 sein, außerdem 15% weiblich. Eine zunehmend größere Rolle spielen bei den Wahlen zu den Parteigremien auch neu eingeführte „Beliebtheitswerte“ der Inhaber von Führungspositionen durch die Parteimitglieder, wie sie zum ersten Mal beim 10. Plenum im Januar 2015 in Form von „Vertrauensabstimmungen“ durchgeführt wurden, bei der die Delegierten Noten wie „hohes Vertrauen“, „Vertrauen“ und „geringes Vertrauen“ vergeben konnten. Öffentlich wurde zwar über die Abstimmung, nicht aber über ihre Ergebnisse berichtet.8

Obwohl die Frage der Besetzung des umstrittenen Postens des Generalsekretärs schon entschieden war, diskutierte der Parteitag dennoch auch über die Alternativen, die bei einer solchen Wahl zur Debatte standen – wie etwa konservativ gegen liberal, parteikonform gegen reformfreudig, „Traditionalisten gegen „Modernisierer“9 oder auch kurz: „Leistung“ gegen „Ideologie“10 – eben jene Kategorien, die bei der westlichen Kommentierung von Ereignissen in Vietnam immer schon die Hauptrolle gespielt haben.

Dass dies zumindest vereinfachend um nicht zu sagen populistisch ist, beweisen einige Fakten im Zusammenhang mit dem Parteitag. Dass Trong sozusagen die Beziehungen zu den USA zumindest gefördert hat – auch wenn die US-Regierung jetzt nicht plötzlich den vietnamesischen Einparteienstaat gut findet – passt nicht so recht in das Bild eines „pro-chinesischen“ Politikers. Bei den Verhandlungen über TPP soll er sich auch für einen Gewerkschafts-Pluralismus in Vietnam eingesetzt haben, einem neuen Gesetz zum Seerecht hat er zugestimmt und dabei auch geäußert, dass eine zu große Nähe zu China nicht gut sei. Von ihm wird der Satz zitiert: „Gott ist weit, China ist nah“11, womit er im Verhältnis zu China eine eher pragmatische denn ideologische Position vertritt.

So sehen Beobachter als Gründe der Entscheidung gegen Dung – sie bedeutete auch sein Verschwinden von der politischen Bühne, denn als Regierungschef durfte er nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren – nicht so sehr politische Divergenzen, sondern die Furcht vor einer drohenden Machtkonzentration, dann nämlich, wenn er „als neuer Parteichef und mit einem ihm treuen Ministerpräsidenten eine vergleichbare Machtkonzentration erlangen wollte, wie sie Ji Xinping in der Volksrepublik China innehat“12. Außerdem waren im Vorlauf des Parteitags Vorwürfe gegen Dung im Zusammenhang mit Finanzskandalen um die Staatsfirma Vinashin laut geworden sowie zweifelhafte Personalentscheidungen zugunsten von Familienmitgliedern. Solche Vorwürfe, die ihn in die Nähe von Korruption brachten, waren aber sicher nicht ausschlaggebend.

Insofern überrascht es nicht, dass die Dung-„Fraktion“ auf dem Parteitag keineswegs ausgeschaltet wurde, im Gegenteil: Der Sohn von Dung, Nguyen Thanh Nghi (39) wurde neu in das ZK gewählt. Er war Parteichef der Provinz Kien Giang gewesen und wohl aufgrund seiner Verwandtschaft in der Parteihierarchie schnell aufgestiegen. Auch der Parteichef von Da Nang, Nguyen Xuan Anh (39) sowie weitere Mitglieder der Gruppe um Dung wurden in das ZK gewählt.

Vor allem aber ist hier die Entscheidung des Parteitags zur Besetzung des Postens des Regierungschefs zu nennen. Der neue Ministerpräsident Nguyen Van Phuc, also der direkte Nachfolger von Trung, war seit 2006 Leiter des Büros von Trung und seit 2011 dessen Stellvertreter gewesen. Er wird auch von westlichen Beobachtern zum „Reformflügel“ zugeordnet. Bei seiner Wahl wusste die Parteiführung natürlich, dass er die Wirtschaftspolitik von Trung nicht abbrechen, sondern fortführen würde.

Auch in solchen Details lässt sich die Tendenz ablesen, nicht auf Konfrontation zu gehen, sondern das Hauptziel der Einheit zu fördern. Ihrem Charakter gemäß sind solche Entscheidungen nicht als „Kompromisse“ in dem Sinn zu bewerten, wie sie in unserer politischen Kultur üblich sind (vor allem in den immer wieder entscheidenden Koalitionsverhandlungen), sondern als dem hohen Ideal der Einheit13 verpflichteter Zwang, Gegensätze auszugleichen, um die Kräfte auf ein gemeinsames Ziel zu konzentrieren.14

Partei und Volk

Das Verhältnis zwischen politischer Führung und Bevölkerung beruht, wie bei uns auch, auf einem Grundsockel von Wertvorstellungen, auf die sich die Führung beruft und an denen ihre Regierungstätigkeit gemessen wird. Bei uns, allgemein in den westlichen Ländern, sind das die Werte der demokratischen Freiheit, der Gleichheit und der bürgerlichen Moral (um es kurz und ungenau zu charakterisieren), also abstrakte Werte, auf die sich wohl jeder Politiker oder Kandidat für politische Ämter beruft. Dass dies der derzeitige Bewerber der konservativen Partei in den USA auf das Präsidentenamt ausdrücklich und provokativ nicht tut, ist sowohl ein Zeichen dafür, wie sehr diese abstrakte Berufung von der Bevölkerung in Frage gestellt wird, als auch ein Symptom für eine anscheinend tendenziell weltweite Entwicklung, die sich direkt gegen die westliche Ausprägung der Demokratie als Staatsverfassung wendet und sehr gefährlich ist. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die politische Kultur in Vietnam beruft sich auf andere Werte, nach westlicher klischeehafter Vorstellung sei das der Marxismus-Leninismus. So vereinfachende Vorstellungen vergessen den zweiten Wertebezug, der in den entsprechenden Formulierungen vietnamesischer Politiker und den offiziellen Reden und Texten stets hinzugefügt wird: die „Ideen Ho Chi Minhs“. Manchmal bleibt dieser Bezug auch in offiziellen Statements sogar allein stehen, wie etwa in einer Rede des neu gewählten Generalsekretärs Nguyen Phu Trong auf einer „Galaveranstaltung zur Begrüßung des erfolgreichen Parteitags“ vor etwa 1.500 Künstlern und Künstlerinnen am 28.01.2016: „Wir wollen die Wünsche Ho Chi Minhs erfüllen und die Einheit innerhalb der Partei wie unser Augenlicht bewahren. Die KPV soll Moral und Aufgeschlossenheit zeigen, um ihre Führungsrolle zu behaupten und Ziele zu erreichen, die sie selbst und der ehemalige Präsident Ho Chi Minh sowie die Bevölkerung gesetzt haben.“15

Es scheint sogar so zu sein, dass die Bekenntnisse zum Marxismus-Leninismus in den öffentlichen Reden eine immer weniger zentrale Rolle spielen und weitgehend rhetorisch bleiben. Schon die epochemachende Entscheidung der Partei im Jahre 1986 für die „doi moi“-Politik war mit der Einführung der „sozialistischen Marktwirtschaft“ eine Abkehr von der „reinen“ Lehre. Was bedeutet also dieses „Denken Ho Chi Minhs“, das seit dem 7. Parteitag im Jahre 1991 als gleichberechtigter politischer Bezugspunkt neben den Marxismus-Leninismus getreten ist und seither diesem gegenüber immer mehr an Gewicht gewonnen hat?

Ho Chi Minh war weder ein Philosoph noch ein analysierender Sozialwissenschaftler, sondern ein politischer Führer und Patriot und zugleich ein umfassend gebildeter Politiker. Der Marxismus war für ihn eine Theorie, mit der die Entwicklung der Menschheit in den letzten zwei Jahrhunderten überzeugend erklärt werden konnte. Ihn anzuwenden hieß für ihn, seine Analyse des Kapitalismus und Lenins Analyse des Imperialismus für die Ausarbeitung von politischen Zielen einer Befreiungsbewegung zu nutzen. Ho Chi Minh hat keine „Lehren“ hinterlassen – deswegen auch die etwas holprige Formulierung „Gedanken“ oder „Ideen“ Ho Chi Minhs. Insofern kann der Bezug auf ihn kein theoretischer sein, denn er hat kein „Wertesystem“ in abstrakter Form formuliert.

Wenn also die vietnamesische politische Kultur auf einem Wertesystem beruht, so ist es kein philosophisches oder moralisches, sondern ein historisches. Die Legitimation der vietnamesischen Führung oder Partei beruht nicht auf gemeinsamen Werten in Form von Idealen oder ethischen Prinzipien, sondern auf Bezügen zur Geschichte, das heißt zu den Befreiungskämpfen, zur Revolution, und zu einer charismatischen Figur.16 Hier ist die Wurzel zu finden, aus der der zentrale Punkt der vietnamesischen politischen Kultur erwachsen ist: das Ideal der Einheit, verstanden auch als bewusste Alternative zu den Grundlagen der westlichen politischen Kulturen, dem Individualismus und dem Konkurrenzprinzip als Basis der Demokratie.

Basis der Demokratie ist für die Vietnamesen die Einheit und sie beziehen sich dabei auf ihre eigenen Traditionen, wie etwa den Konfuzianismus, in dessen Soziallehre das kollektive Gemeinschaftsleben stets Priorität gegenüber individuellen Interessen hat.

Auch die westlichen Grundwerte haben historische Bezüge: die französische Revolution, die Emanzipation von der Kirche, die Menschenrechte. Diese sind aber im öffentlichen Diskurs und im Bewusstsein der Menschen kaum mehr präsent.

Es scheint, dass ein solcher Prozess der „Ent­historisierung“ auch in Vietnam bevorsteht oder bereits im Gang ist. Im Bewusstsein der Menschen hat der Bezug zum Befreiungskampf stark an Aktualität und damit Bedeutung verloren. Beobachter machen das auch an der Tatsache fest, dass im Zuge der „Verjüngung“ der Mitgliedschaft etwa im Zentralkomitee jetzt dort schon diejenigen die Mehrheit haben, deren persönliche Erfahrung des Befreiungskampfs nur noch eine abstrakte ist, nicht gelebt, sondern vermittelt. Ganz zu schweigen von den Jugendlichen, die zum Teil sogar regelrechte Abwehrreaktionen gegen die Erinnerung an den Krieg zeigen.

Es besteht also die akute Gefahr, dass die Partei in diesem Prozess zunehmend ihre Haupt-Legitimation verliert, der Organisator des Siegs im Befreiungskampf gewesen zu sein. Das führt dazu, dass auch das Wertesystem mit dem Ideal der Einheit im Zentrum an Bedeutung verliert, das heißt, zunehmend in Frage gestellt wird. Das bislang unhinterfragbare Ideal wird tendenziell zu einer Forderung, die gegen Widerstände durchzusetzen ist.

Vielleicht ist es ja so, dass die Partei diesen Legitimationsverlust schon seit langem vorausgesehen hat, genauer seit etwa 30 Jahren, also seit doi moi. Man kann insofern die Entwicklung Vietnams und die Politik der Partei im Rückblick in einer ganz neuen Perspektive sehen. Dann erscheint die Politik der Öffnung, „doi moi“ genannt, als der Beginn des Versuchs, der Partei und ihrem Führungsanspruch eine neue Legitimation zu geben. Im Zusammenhang mit dem 12. Parteitag sprachen Beobachter davon, dass eine neue Legitimationsbasis für die Partei immer wichtiger werde: der wirtschaftliche Erfolg.17 In den abschließenden Berichten über den Parteitag wurden „sechs Hauptaufgaben und Hauptkriterien für die Entwicklung des Landes in kommender Zeit“ festgelegt. Diese sind:
- höheres Wirtschaftswachstum,
- Entfaltung der Rolle des Marktes und der Wirtschaftssektoren, darunter der Privatwirtschaft,
- Aufbau einer starken und transparenten Partei
- Korruptionsbekämpfung
- Gewährleistung der Menschenrechte
- Außenpolitik der aktiven Integration in die Welt als zuverlässiger Partner und verantwortungsvolles Mitglied der Weltgemeinschaft.18

Die beiden ersten Punkte können dem Versuch zugeordnet werden, die „neue“ Legitimationsbasis der Partei zu stärken. Die Korruption, ein Dauerthema aller Parteitage, stellt die ernsthafteste Herausforderung für das Grundideal der Partei dar, weil sie ein direkter Verstoß gegen das Gesetz des Gemeinwohls ist. Ihre dauerhafte Präsenz, vielleicht sogar ihr Anwachsen und die eher bescheidenen Erfolge bei ihrer Bekämpfung sind wohl als Indizien des oben genannten Perspektivwechsels zu interpretieren. Während in den westlichen Demokratien die Korruption sozusagen eine systemimmanente Tendenz ist und deshalb ohne die Abschaffung des Kapitalismus nicht auszurotten sein wird, ist sie im System des Einheitsgedankens eine zentrale Missachtung desselben.

Diese Verschiebung der Legitimationsbasis für den Führungsanspruch der Partei kann man auch als Ausfluss einer anderen Grundtendenz der Geschichte Vietnams sehen, nämlich des politischen Pragmatismus, der das Handeln der vietnamesischen politischen Führer von den antikolonialen Kämpfen über Ho Chi Minh bis zur Gegenwart auszeichnet. Sie haben nämlich stets die realistische Auswertung der Situationen und Kräfteverhältnisse und eine mögliche Reaktion darauf der Durchsetzung von grundsätzlichen (ideologischen) Ziele vorgezogen. In der gegenwärtigen, auch den Parteitag bestimmenden Situation besteht eine solche Reaktion darin, das Verhältnis zwischen Führung und Volk nicht mehr auf den Zwängen im Krieg und in revolutionären Zeiten zu begründen, sondern eine Art Sozialvertrag anzustreben, in dem die Führung der Bevölkerung eine gewisse Grundsicherheit verschafft einschließlich eines höheren Lebensstandards und größerer Freiräume. Die allgemein beobachtete Tendenz, dass sich in Vietnam Partei und Staat immer mehr aus dem Privatleben der Menschen zurückziehen, ist ein Indiz dafür.

Aber damit sind die älteren, historischen Wertesysteme nicht ausgeschaltet, sondern koexistieren mit den neuen weiterhin, was zu widersprüchlichen Erscheinungen führt. So achtet man in Vietnam weiterhin darauf, dass die politische Führung nach außen als einheitlich, also konsensorientiert und kollektiv erscheint, lässt aber in den veröffentlichten Diskussionen (vor den anstehenden Wahlen) differierende Meinungen sehr wohl nach außen dringen. So lässt die Führung auf der einen Seite in den Medien Einflüsse westlicher (US-amerikanischer) verdummender Trashmedien zu und imitiert sie sogar in eigenen Formaten und Produktionen, verfolgt aber andererseits jeden Versuch in Blogs, das Prinzip der Einheit in Frage zu stellen. Auch in der Wirtschaft sind solche Widersprüche allenthalben anzutreffen, sie sind Folge der Öffnung, der Globalisierung, aber auch geeignet, dem Vorurteil Nahrung zu geben, Vietnam sei auf dem Weg „zum Kapitalismus“.

Der „new deal“19 der Partei mit ihrem Volk besteht unausgesprochen darin, dass eine möglichste hohe soziale Sicherheit Vorrang hat vor einer extensiven Ausweitung der individuellen Rechte, eine Vorstellung, die sich abermals auf konfuzianistische Traditionen gründet. Natürlich ist dieser „Vertrag“20 nirgendwo formuliert und paraphiert, man sollte ihn lieber einen „modus vivendi“ nennen und darin den Versuch sehen, sich seitens der Partei auf die veränderte Situation einzustellen.


Der Parteitag hatte auch seine Show-Elemente Foto Tri Dung/VNA

Die Beschlüsse

Der 12. Parteitag fand vom 21. bis 28. Januar 2016 statt, es nahmen 1.510 Delegierte daran teil, die 4,5 Millionen Mitglieder repräsentierten. Vielleicht ist es interessant, noch eine weitere Statistik zu nennen: 99 % der Delegierten haben einen Hochschulabschluss.

In den Personalfragen wurden Beschlüsse gefasst, die vorher bereits ausdiskutiert und entschieden worden waren. Die Zahl der Mitglieder des Zentralkomitees wurde auf 180 erhöht, davon sind 19 unter 40 Jahre alt und 18 Frauen. Das neue Politbüro hat 18 Mitglieder, darunter 3 Frauen. Erwartungsgemäß wurde Nguyen Phu Trong zum Generalsekretär wiedergewählt. Zur Vorsitzenden der Nationalverammlung bestimmte man Nguyen Thi Kim Ngan, sie ist damit die erste Frau in dieser Position.

In der Außenpolitik wurden für die nächsten fünf Jahre keine gravierenden Veränderungen beschlossen. Eine zunehmende Integration in die globalisierte Welt ist seit langem fester Bestandteil der Außenpolitik, die der zuständig Minister als „aktive Teilnahme“ bezeichnete, die sich in Zukunft erweitern soll zu einem „aktiven Beitrag“, es wird also eine nicht mehr nur beobachtende, sondern einwirkende außenpolitische Orientierung angestrebt. Die Ostmeer-Krise war natürlich ein wichtiges Thema, aber auch hier wird das Bedürfnis nach Kontinuität, trotz des „chinafreundlichen“ neuen Generalsekretärs, deutlich. Diese besteht darin, wie bislang deutlich Vietnams Ansprüche zu vertreten, zugleich aber auch gegen eine drohende Kriegsgefahr zu arbeiten und auf Verhandlungen, vor allem im Rahmen regionaler Bündnisse wie dem ASEAN-Pakt zu drängen: Diplomatie statt verbaler und militärischer Eskalation.

Die Wirtschaftspolitik nahm einen großen Raum ein in den Diskussionen, dennoch kamen kaum verändernde oder bewegende Beschlüsse dabei heraus. Die Forderung nach einer „größeren Rolle der Privatunternehmen“ und nach einer „Finanzreform“ entsprach vielen westlichen Erwartungen, ist aber nicht neu. Das Wirtschaftswachstum soll 6,5 bis 7 % betragen und „nachhaltig“ sein, der Umweltschutz soll dabei gewährleistet werden. Armutsbekämpfung und Korruptionsbekämpfung sind seit langem Dauer­themen, zu denen auch das Thema Vertrauensverlust der Partei gehört. Der scheidende Minister für Planung Bui Quang Vinh stellte fest, dass die „politischen Reformen den wirtschaftlichen hinterherhinken“. Auch das ist nicht neu.

Anmerkungen:
1Ich verwende bei dieser Charakterisierung westliche Sprachregelungen, die in der vietnamesischen Diskussion sicher nicht so auftreten werden.
2Vgl. dazu die Artikel in VNK 2/2014
3Die Beschwörung dieser Freundschaft, die die offiziellen Berichte über offizielle Treffen zwischen Vertretern beider Länder auffällig betonen, kann man als Gewichte auf einer Waagschale interpretieren, wo sie Provokationen Chinas auf der anderen Waagschale ausgleichen sollen.
4Vgl. VNK 3-4/2015
5„Eigene Interessen“ ist zwar die landläufige Meinung, aber nicht ganz korrekt. Es geht, wie es in einer entsprechenden Studie heißt, um die „Kontrolle über einen entscheidenden Teil der Weltwirtschaft“. Vgl. Michael Paul: Eine „große Sandmauer“ im südchinesischen Meer, SWP-Studie, Berlin 2016, S. 7. Dieser Aspekt kann hier nicht ausgeführt werden, dies soll in einer späteren Ausgabe des VNK geschehen.
6Washington Post, 03.07.2015
7Die Frankfurter Rundschau vom 24.05.2015 meldete dies unter dem Titel: „USA wollen ehemaligen Feind Vietnam aufrüsten“
8Nur vietnamesische Internet-Blogs waren voller nicht verifizierbarer Vermutungen.
9So in dem Kommentar des Leiters des ARD-Studios Singapur Udo Schmidt am 21.01.2016
10So in einer Studie der Friedrich Ebert Stiftung vom Februar 2016: Martin Grossheim und Erwin Schweisshelm: Kontinuität plus X, Berlin 2016, ISBN 978-3-95861-399-7 im Internet: http://library.fes.de/pdf-files/iez/12325.pdf
11Zit. nach Grossheim/Schweisshelm, S. 4
12Grossheim/Schweisshelm, S. 2
13Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um ein Ideal aus dem Befreiungskrieg handelt, und dass die Einheit die wohl wichtigste Voraussetzung für den Sieg war.
14So sind Auseinandersetzungen, wie sie im Westen derzeit in den USA oder in den Kabbeleien zwischen Merkel und Seehofer bei uns inhaltlich und formal ausgetragen werden, in der politische Kultur Vietnams unvorstellbar.
15Zit. nach Voice of Vietnam 28.01.2016
16So sehen das auch Grossheim/Schweisshelm (S. 3)
17Vgl. Grossheim/Schweisshelm, S. 3
18Zit. Hoang Binh Quan, außenpolitisches Komitee des Parteitags nach Voice of Vietnam, 28.01.2016
19So hieß die Politik des amerikanischen Präsidenten Roosevelt, der in einem Pakt zwischen Regierung und Volk die Folgen der schweren Wirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre überwinden wollte und der beidseitige Verpflichtungen enthielt.
20Grossheim/Schweisshelm, S. 3 sprechen von einem „social contract“, vielleicht in Anlehnung an Rousseau und dessen Untersuchung, „ob es in der staatlichen Ordnung irgendein gerechtes und sicheres Verwaltungsprinzip geben kann, wenn man die Menschen nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein könnten.“ (Le contrat social Buch 1, 1762)

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2016

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