Tri Dung/VNA

Wahlen zum Parlament 2016
Eine neue Regierung, ein neues Parlament

Günter Giesenfeld

Am 22. Mai 2016 wurden in Vietnam eine neue Nationalversammlung und neue Volkskomitees in allen Gemeinden gewählt.

Wahlen in Vietnam laufen anders ab als bei uns, und aus unserer Perspektive erscheinen sie als langweilig: Es fehlt das, was wir hier als „Wahlkampf“ bezeichnen, sei es, dass Politiker sich mehr oder weniger überzeugend auf öffentlichen Veranstaltungen präsentieren und jede Menge Versprechungen machen, sei es, dass mindestens ein Jahr vor den Wahlen alle politischen Entscheidungen unter dem Vorbehalt stehen, ob sie der jeweiligen Partei bei der Wahl „nützen“ oder nicht, sei es schließlich in Form einer jegliche zivilisierte Höflichkeit missachtenden Schlammschlacht, wie es der Welt jetzt in den USA vorgeführt wird.

Nein, bei Wahlen in Vietnam steht eher nicht das Konkurrenzprinzip im Vordergrund, was in einem Einparteiensystem auch kaum möglich ist. Die zum Teil scharfen innerparteilichen Auseinandersetzungen werden zumeist hinter verschlossenen Türen ausgetragen und die Ergebnisse dringen erst dann in die Öffentlichkeit, wenn der „Kampf“ entschieden ist.

Die meisten Kommentatoren hier im „Westen“ sind überzeugt, dass solche Wahlen, wie sie in Vietnam alle fünf Jahre stattfinden, nicht „demokratisch“ seien – eine Frage, die sich jedoch kaum jemand bezüglich der Zustände in den USA stellt.

Sie soll mit Bezug auf Vietnam hier auch nicht beantwortet werden, sondern das andere „System“ soll vor allem möglichst genau beschrieben werden, ob man ihm dann das Markenzeichen „demokratisch“ zugesteht, scheint weniger wichtig als die Chance, dabei andere Denkmuster kennenzulernen.

Ein komplizierter Prozess

Wahlen in Vietnam bestimmen nicht nur die Zusammensetzung der Nationalversammlung (Parlament), sondern auch die Besetzung aller Funktionsposten in den Provinzen und Gemeinden – es wird also in einer Wahl auch über das abgestimmt, was bei uns in getrennten „Kommunalwahlen“ entschieden wird.

Jeder Bürger, der älter ist als 20 Jahre, kann zu den Wahlen kandidieren. Auf die in mehreren Schritten erstellte Kandidatenliste kann man gesetzt werden (meist durch Organisationen wie die Partei oder andere Massenorganisationen, aber auch durch andere Bürger oder Institutionen wie Firmen oder Vereinigungen), das ist der Normalfall. Seit 2002 können auch Einzelpersonen sich selbst nominieren, sie brauchen dafür keinen Bürgen und müssen auch nicht Parteimitglieder sein, haben aber nur geringe Chancen, auch auf die endgültige Kandidatenliste gesetzt zu werden. Für die Kontrolle der Wahlen wird eine „Nationale Wahlkommission“ gebildet, die aus Vertretern der Vaterländischen Front (3), aus Ministern der amtierenden Regierung (4) und Vertretern der amtierenden Nationalversammlung (4) gebildet wird.

Für die Organisation und den Ablauf der Wahlen ist die Vaterländische Front Vietnams zuständig, die offizielle Dachorganisation aller Massenorganisationen wie Gewerkschaften, Frauenunion sowie Verbänden und Gesellschaften aller Art. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Erstellung der Kandidatenliste, die im Vorlauf mehrfach aktualisiert wird, also in einem längeren Prozess entsteht.

Dazu sammelt die Vaterländische Front die Nominierungen der Verbände (auch der Partei und des ständigen Komitees der Nationalversammlung) und aktualisiert die nationalen und die lokalen Listen in drei Konferenzen, nach denen der jeweilige Stand veröffentlicht wird. Sie muss dabei auf die Einhaltung der Quoten achten, die vorgeschrieben sind für Frauen, ethnische Minderheiten, unter 40-Jährige, Nichtmitglieder der Partei und selbst nominierte Kandidaten. Außerdem gibt es komplizierte Regeln, nach denen die Regionen und Städte entsprechend repräsentiert sein müssen.

Bürgerkontakt

Nachdem die endgültige Liste der Kandidaten festgelegt und veröffentlicht worden war, mussten sich in der Zeit zwischen dem 27. März und 21. April 2016 alle Kandidaten ihren potentiellen Wählern in Versammlungen vorstellen. Nachdem in den letzten Jahren das Prinzip der Bürgerbeteiligung von Partei und Regierung stark gefördert wurde, kommt diesen Versammlungen jetzt große Bedeutung zu, sie sind insofern mit unseren Wahlkämpfen vergleichbar, als die Kandidaten hier direkt um die Gunst der Wähler werben müssen, werden dabei allerdings durch die öffentliche Hand und nicht durch einen Parteiapparat oder private finanzielle Mittel unterstützt.

Es ist vorgeschrieben, dass die Fragen, die die Bürger bei diesen Veranstaltungen stellen, von den Kandidaten selbst beantwortet werden und dass diese ihre Absichten und Vorhaben nicht nur vorstellen, sondern auch begründen müssen. Es genügt also nicht, zuvor in der Partei festgelegte Ziele und Programme zu referieren, sie müssen auch gegen kritische Einwände der Bürger verteidigt werden.

Nicht nur bei den Wahlen, sondern auch in den Legislaturperioden hat man in Vietnam die Verpflichtung der Mandatsträger zu Kontakten mit den Bürgern verschärft. Seit 2013 müssen alle Politiker flächendeckend Bürgersprechstunden durchführen, in der Nationalversammlung gibt es in jeder Sitzung einen speziellen Tagesordnungspunkt „Anfrage“, in dem die Abgeordneten Fragen an die Regierung stellen können, die sofort durch den zuständigen Minister beantwortet werden müssen, ein Verweis auf eine spätere schriftliche Antwort ist nicht zugelassen. Durch diese Maßnahmen sollen die Kompetenz und die Durchsetzungskraft der Parlamentarier bei der Kontrolle der Regierung gestärkt werden.

Die Kandidaten

Für die Wahl zur neuen Nationalversammlung 2016 – sie findet im 70. Jahr nach den ersten Wahlen (1946) in Vietnam statt – wurden 870 Kandidaten auf die endgültige Liste gesetzt. Das Parlament hat 500 Mitglieder, also werden bei der Wahl 370 Kandidaten automatisch „abgewählt“. Die Kandidatenliste umfasste in dieser Wahl:
- 339 Frauen (39%)
- 204 Angehörige von ethnischen Min­derheiten (23,5%)
- 268 Kandidaten unter 40 (30%)
- 97 Nicht-Parteimitglieder (11%)
- 154 Selbstnominierte (19%)

In jeder dieser Kategorien wurden mehr Kandidaten nominiert als es die Quotenregelungen vorschreiben. Seit 2003 müssen von Rechts wegen in jedem Wahlkreis mindestens zwei Kandidaten mehr antreten als Mandate zu vergeben sind.

Selbstnominierte Kandidaten sind, wie gesagt, erst seit 2002 zugelassen. Zu jeder Wahl treten einige von ihnen an, sie sind in der Regel nicht Mitglieder der Partei, haben aber eine eher gehobene gesellschaftliche Position, sind Geschäftsleute, Akademiker und wohnen in der Regel in Hanoi oder Ho-Chi-Minh-Stadt. Normalerweise schaffen es nur wenige von ihnen (etwa 10%) auf die endgültige Kandidatenliste, noch weniger werden tatsächlich gewählt.


Nguyen Thi Kim Ngan, Präsidentin der Nationalversammlung

Aufgaben und Funktion der Nationalversammlung

Die Nationalversammlung ist das Vietnamesische Parlament. In Vietnam gibt es ein System, das nur eine Kammer kennt, die Nationalversammlung ist also die einzige Institution der Legislative.

Die 500 Abgeordneten der Nationalversammlung (NV) werden für eine Legislaturperiode von fünf Jahren gewählt. Die NV muss mindestens zweimal im Jahr eine Vollversammlung abhalten und wird in den Zwischenzeiten von ihrem Ständigen Ausschuss vertreten, welchen sie jede Periode neu wählt. Die Nationalversammlung ernennt den Staatspräsidenten, den Premierminister und die Regierung (Exekutive), sowie die Prokuratur des Obersten Volksgerichtshofes und des Oberen Volkskontrollamtes (Judikative). Die NV hat seit den letzten Verfassungsänderungen stark an politischem Einfluss gewonnen. Ihre Rechte umfassen nun auch die Änderung von Gesetzen und der Verfassung, sowie die Möglichkeit, Minister und Vorsitzende von Behörden mit Ministerialstatus zur Verantwortung zu ziehen. Die größte politische Macht liegt jedoch nach wie vor bei der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV), welche durch die Vaterländische Front den Wahlprozess organisiert und kontrolliert. Die KP stellt in der Nationalversammlung ca. 90 % der Abgeordneten, was zur Folge hat, dass auch die meisten Regierungsmitglieder und Richter Mitglieder der Partei oder zumindest politisch Gleichgesinnte sind. Die Partei bestimmt durch ihr Zentralkomitee und das Politbüro die Politik des Landes, ist dabei aber einer intensiveren Kontrolle durch die demokratischen Institutionen ausgesetzt als früher.

Die Nationalversammlung hat ihren Sitz in Hanoi, wo sie seit 2010 in einem eigenen, neu errichteten Gebäude tagt, das von deutschen Architekten entworfen und unter Mitarbeit deutscher Firmen gebaut worden ist. 2008 ist das alte Tagungsgebäude direkt am Ba Dinh-Platz abgerissen worden.

Traditionen und Demokratie

„Traditionen werden in Vietnam groß geschrieben. Chinas konfuzianisches Kulturerbe bestimmt auch in Vietnam Gesellschaft und Alltag: Hierarchie und Unterordnung in der Familie, klar geregelte Beziehungen in der Politik. Schnittstellen politischer Macht konzentrieren sich in Hanoi in zwei Institutionen: im Zentralkomitee (175 Mitglieder) und Politbüro (16 Mitglieder).“1 Alle fünf Jahre findet ein Parteitag statt, dort werden die wichtigsten richtungsweisenden Entscheidungen abgestimmt und beschlossen, die zuvor meist im kleineren Kreis bereits vordiskutiert worden sind.2 Abgesehen von der mangelnden Transparenz politischer Entscheidungsprozesse, die man diesem Konzept vorwerfen kann, führt es dazu, dass (oft sehr kontroverse) parteiinterne Diskussionsprozesse zu konsensorientierten Kompromisslösungen geführt werden. Die Rotation einer Kernelite von Entscheidungsträgern garantiert in Vietnam zudem eine gewisse gesellschaftliche Systemstabilität.

In der Nachkriegsgeschichte Vietnams hat diese Stabilität – zumindest nach 1986, dem Jahr der Einführung der „doi moi“-Politik – in turbulenten Zeiten für geordnete Übergänge und die Überwindung von Krisen ohne gesellschaftliche Erschütterungen beigetragen.

„Durch schrittweise Verflechtung in globalisierte Produktionsketten mutierte Vietnam zum Billiglohnstandort für Investoren aus Japan, Südkorea, Taiwan, USA und EU. Heute bietet Vietnam Wachstumsraten (2015: 6,7 %), die nur noch (knapp) von China übertroffen werden. Im regionalen Umfeld krisengeschüttelter ASEAN-Staaten Südostasiens schickt sich Hanoi nun an, geopolitische Konflikte zwischen China und USA um strategische Einflusszonen und geoökonomische Verschiebungen in Asien-Pazifik zum eigenen Vorteil zu nutzen.“3

Auch in den Zentralfragen der vietnamesischen Politik nach 1986 bei der Umsetzung und Ausarbeitung der „doi moi“-Beschlüsse bleiben zwei Komplexe Dauerthemen auf Parteitagen und in der alltäglichen Politik: Innenpolitisch Vietnams Wirtschaftsmodell und außenpolitisch das Verhältnis zu den beiden in Konkurrenz miteinander stehenden Großmächten China und USA. Beide Themen werden seit Jahren auch in der Partei kontrovers diskutiert. Diese Auseinandersetzung wird in der westlichen Wahrnehmung meist auf den Gegensatz „Reformer“ gegen „Konservative“ heruntergerechnet, mit deutlicher moralisierender Übertragung auf den abstrakten Gegensatz zwischen „autoritär“ und „demokratisch“. Solche Formeln sind unzulässige Vereinfachungen, die der Komplexität, die diese Fragen für Vietnam haben, nicht gerecht werden – es ist, als könne man alle Probleme in Vietnam durch einfache, als alternativlos hingestellte Maßnahmen lösen: die wirtschaftlichen durch Privatisierungen, die politischen durch ein Mehrparteiensystem und die außenpolitische Zwangslage durch eine bedingungslose Anbindung an den Westen.


Bild: Hoang Dinh Nam/AFP
Plakate vor einem Wahllokal in Hanoi. Kommentar in de Bildunterschrift:
"... aber spannend wird es eher nicht". Frankfurter Rundschau, 23.05.2016


Außerdem bleibt, wie an anderer Stelle erläutert4, das Wirtschaftswachstum in Vietnam für dessen Regierung und Partei unverzichtbar, als Ersatz für die schwindende Bedeutung des Krieges und des Sieges als Legitimation für die Herrschaft der Partei. Wachstum aber ist nur möglich in einem globalen Zusammenhang, der nicht nur von den USA, sondern auch von kapitalistischen Strukturen beherrscht ist. In diesem Dilemma hat für die vietnamesische Regierung die Aufgabe, ihrem Volk einen besseren Lebensstandard zu garantieren, vor allen Erwägungen über offensichtliche „Nebenwirkungen“ absoluten Vorrang.

Natürlich gibt es in der Partei auch Diskussionen über die Frage, ob das gegenwärtige Wirtschaftssystem, das man „sozialistische Marktwirtschaft“ nennt, und das aktuelle politische System für das Land dauerhaft zukunftstauglich sind. Sogar über einen „kosmetischen“ Umbau des politischen Systems wird nachgedacht: „Aus der Nationalversammlung könnte ein Unterhaus, aus dem Zentralkomitee ein Oberhaus mutieren, Kandidaten könnten ja vorab nach Kriterien politischer Loyalität ausgesucht werden.

Der Stadtstaat Singapur wird als funktionierendes Beispiel einer konfuzianischen Diktatur von Technokraten in Beijing und Hanoi seit Jahren aufmerksam beobachtet. Neoliberale Wirtschaftspolitik und politische Autokratie sind in Singapur seit dessen Staatsgründung (1962) eine erfolgreiche Symbiose eingegangen. Vietnams politische Zukunft muss sich keineswegs zwangsläufig in Richtung eines Systems mit westlich-demokratischem Zuschnitt bewegen.“5

In Vietnam ist man sehr wohl auf der Suche nach Vorbildern für ein zum eigenen Land passendes demokratisches System. Das muss nicht unbedingt eine der im Westen vorfindlichen Ausprägungen der parlamentarischen Demokratie sein. Und deren Defizite, wenn sie sich mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verbinden, kennen wir ja selbst nur allzu gut.

Anmerkungen:
1Zitat aus: Wilfried Arz: Neue Staatsführung in Vietnam. In: Eurasisches Magazin, 28.01.2016.
http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/Vietnam-hat-eine-neue-Regierung/20131222
2Einige der hier gegebenen Informationen stammen aus: „Wählen auf Vietnamesisch“, einem Artikel auf der Website der Konrad-Adenauer-Stiftung. http://www.kas.de/wf/kas_45173-1-30.pdf
3Arz, a.a.O.
4Siehe den Artikel zum Parteitag in diesem Heft.
5Arz, a.a.O.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2016

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