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„Ohne Vietnam wäre ich nur
eine halbe Portion“

Zum Tod von Wilfried Seipp

Günter Giesenfeld

Bei meiner ersten Reise nach Vietnam im Jahre 1978 teilte er ein Doppelzimmer mit mir und war für mich sozusagen ein Vietnam-Profi und ein freundlicher Ratgeber und Fragenbeantworter auf dieser Reise in ein Land, über das ich dabei war, ein Buch zu schreiben.

Wilfried war zum ersten Mal schon 1966/67 für 15 Monate nach Vietnam gekommen, um als Arzt und Dermatologe an einem „Entwicklungsprojekt“ der Bundesregierung im damaligen Südvietnam teilzunehmen, mit dem der „Aufbau einer medizinischen Fakultät in Hue“ unterstützt werden sollte. Dieses Projekt wurde hauptsächlich von Erich Wulff betrieben, der nach dem Krieg mehrfach Vorsitzender unserer Freundschaftsgesellschaft war. Als Wilfried dort eintraf, war sein Wissen über Vietnam geprägt von der Position der Bundesregierung mit ihrer strikten Unterstützung der US-Politik und deren Antikommunismus. Erich hatte sogar zu Beginn den Verdacht, dass er vom deutschen Geheimdienst, damals „Amt Gehlen“ genannt, auf ihn angesetzt worden sei. Aber es wurde daraus eine tiefe Freundschaft und vertrauensvolle Zusammenarbeit, die, zusammen mit dem, was er dort erleben konnte, Wilfrieds Haltung radikal änderte. In sein Tagebuch schrieb er dazu den Satz: „Ohne Vietnam wäre ich nur eine halbe Portion“.

Das Projekt geriet bald bei den südvietnamesischen Militärs und beim Auswärtigen Amt in Bonn in den Verdacht, nicht treu genug deren politischen Vorgaben zu dienen. Denn Erich nahm nicht nur geheime Kontakte zur damaligen Befreiungsfront auf, sondern machte es sich auch zum Prinzip, in seiner Klinik jeden Patienten zu behandeln, der eingeliefert wurde, ohne Ansehen der Zugehörigkeit zu einer der Parteien im Krieg.

Wichtig wurde für Erich auch der Kontakt zu den Buddhisten in Hue, die damals schon starke kritische Positionen, dem katholischen Präsidenten Diem und seinem Regime gegenüber entwickelt hatten. Die deutsche Regierung beschloss daraufhin, ihre Zuschüsse zu stoppen, aber die Ärzte waren dagegen, denn es war ein sehr erfolgreiches Projekt für die Universität von Hue. Zwar war der Krieg in dieser Zeit schon stark eskaliert – die Stärke der in Vietnam befindlichen US-Truppen ging schon in die Hunderttausende, die Besprühungen mit Agent Orange hatten längst begonnen –, Erich, Wilfried und einige andere Ärzte konnten immerhin erreichen, dass noch eine restliche Gruppe von vier deutschen Ärzten verbleiben durfte, um eine geordnete Übergabe der medizinischen Versorgung in vietnamesische Hände zu gewährleisten. Diese fanden dann in den Unruhen während der Tet-Offensive 1968 leider den Tod, und zwar durch Angehörige der Befreiungsfront, die sie für Amerikaner hielten: eine „Panne, wie sie in jedem Krieg tausendfach vorkommt“, schreibt Wilfried dazu.1

Erich und Wilfried verließen Vietnam mit einigen anderen am Jahresende 1967. In ihren Koffern konnten sie viel Beweismaterialien über die Unterdrückung des buddhistischen Widerstands in Hue sowie über allgemeine Kriegsverbrechen des südvietnamesischen Regimes sowie „amerikanische Sünden“2 aus dem Land schmuggeln. Auf dem Russell-Tribunal 1967 in Roskilde waren diese Dokumente die Grundlage für Erich Wulffs Bericht über die Lage in Vietnam, wobei zum ersten Mal negative Stellungnahmen internationaler Wissenschaftler, die durch Beweismaterial unternauert waren, in die westliche Öffentlichkeit gelangten.

Wilfried ist danach wohl 1979 mit der erwähnten Reisegruppe zum ersten Mal nach dem Krieg wieder nach Vietnam gereist. Dabei hatte er aber, weil wir „nur“ eine Touristengruppe waren, noch keine Gelegenheit, alte Bekannte zu treffen und seine ehemalige Wirkungsstätte in Hue aufzusuchen. Dies hat er später nachgeholt: Einer seiner Studenten leitete dort nun die dermatologische Abteilung der Universitätsklinik.

Wilfried ist gleich nach 1975 Mitglied unserer Freundschaftsgesellschaft geworden. Seine „vietnamesischen“ Aktivitäten konzentrierten sich jedoch vor allem auf die Sichtung und Ordnung seines Archivs und auf die Arbeit an Tagebüchern und Erinnerungstexten.

Umso größer war unsere Freude, als Wilfried und seine Frau Veronika im November 2017 bei einem Treffen von Frankfurter Mitgliedern der FG auftauchten. Diesem neuen Kontakt hat nun der Tod ein Ende gesetzt. Wir vermissen ihn sehr.

Text

Anmerkungen:
1 in seinem Nachruf auf Erich Wulff im Viet Nam Kurier 3-4/2009
2 So Wilfried ebda.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2017

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