Abgelehnt!

Das US-Berufungsurteil in Sachen "Agent Orange"

Eine Analyse von Jürgen Adam

Die politische Diskussion um die Klage der vietnamesischen DioxinOpfer vor amerikanischen Gerichten konzentriert sich zurecht auf die Betonung des Unrechts, das mit der chemische Kriegesführung der USA der vietnamesischen Bevölkerung angetan wurde, und das viele als Kriegsverbrechen bezeichnen. Eine andere Seite der Angelegenheit ist die juristische Argumentation, die ja bekanntlich allein vor Gericht Bestand hat, und bei der, obwohl es sich um eine Zivilklage handelt, sehr wohl auch die Regierung Entscheidungshilfe beisteuert. Jürgen Adam hat sich die Mühe gemacht, der zuweilen skurrilen, aber sehr geschickten juristischen Argumentation nachzugehen, die die Richter ganz im Sinne ihrer Regierung aufbieten, um die Klage abzulehnen. Die beklagten Firmen bleiben dabei ganz unbehelligt.

Am 22.Februar 2008 hat das Bundesberufungsgericht der USA (US-Court of appeals for the second circuit) die Berufung der vietnamesischen Kläger gegen das Urteil des Bundesbezirksgerichts für den östlichen Bezirk von New York zurückgewiesen, mit dem ihre Klage abgewiesen worden war. Mit der Klage hatten die Kläger, vietnamesische Einzelpersonen und die VAVA (Vietnam Association for Victims of Agent Orange) Schadensersatz für die erlittenen Schäden durch den Einsatz von Agent Orange und anderen Herbiziden durch die Streitkräfte der USA im Vietnamkrieg verlangt. Die Klage richtet sich nicht gegen die US-Regierung oder die USA als Staat, sondern gegen eine Anzahl von Unternehmen der Chemischen Industrie, die die Herbizide an das Militär geliefert haben, darunter Dow Chemical, Monsanto und andere.

Das Berufungsgericht hat ohne Beteiligung von in zivilrechtlichen Verfahren vor den Bundesgerichten nicht vorgesehenen Laienrichtern in der Besetzung mit drei Berufsrichtern entschieden. Es ist die höchste Gerichtsinstanz unterhalb des Obersten Gerichts (Supreme Court) der USA.

Am Verfahren hat sich die Regierung der USA u.a. durch ein umfangreiches "Statement of Interest" der Zivilabteilung des Justizministeriums beteiligt. Das Gericht ist dessen Argumenten weitgehend gefolgt. Beteiligt waren außerdem neben den Prozeßparteien die Handelskammer der USA und die Washington Legal Foundation als "amici curiae" (lateinisch = Freunde des Gerichts)

Das Urteil enthält ähnlich wie vergleichbare deutsche Urteile eine Darstellung des Sachverhalts, über den die Parteien streiten, gibt die Rechtsansichten der Parteien wieder, referiert die Begründung des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils und endet mit den rechtlichen Gründen für die eigene Entscheidung. Ähnlich wie im deutschen Revisionsverfahren wird nicht der ganze Streit neu aufgerollt, sondern das Berufungsgericht prüft bestimmte Rügen der Berufungskläger wegen rechtlicher Fehler und Irrtümer des erstinstanzlichen Gerichts. Das Urteil umfaßt 35 maschinenschriftliche Seiten.

Eine vollständige Übersetzung des Urteils erscheint mir, allein schon vom Umfang her, nicht sinnvoll. Statt dessen möchte ich versuchen, die juristischen Argumente, die von den Beteiligten und ihren Rechtsanwälten und vom Gericht angeführt worden sind, in einer für den juristischen Laien verstehbaren Form zusammenzufassen und zu vereinfachen mit der mir bewußten Gefahr, daß dabei möglicherweise Feinheiten zu kurz kommen.

Empörung ist vor Gericht unerheblich

Zunächst muß dem juristischen Laien klar gemacht werden, daß auch bei einem emotional so aufwühlenden Thema wie dem jahrelangen Einsatz der dioxinverseuchten Herbizide mit seinen verheerenden Folgen - für die Vegetation, das Wasser, die Lebensmittel und Tiere und infolgedessen für Menschen über mehrere Generationen - moralische Empörung den Betroffenen juristisch weder Schadensersatz noch sonstige Hilfe bringt. Es soll deshalb hier nicht moralisch bewertet, sondern mit Distanz der wesentliche Inhalt des Urteils wiedergegeben werden.

Ich lasse die prozeßrechtlichen Teile des Berufungsurteils weg, in denen es um die Frage geht, ob und wie weit das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil zu überprüfen berechtigt ist. Teile meines Textes sind wörtliche, nicht durchgehend als solche gekennzeichnete Übersetzungen aus dem Urteil. Weggelassen habe ich die Zitate aus der Rechtsprechung der US-Gerichte einschließlich des Supreme Court. mit Ausnahme der Behandlung von dessen sogenannter Sosa-Entscheidung.

Man fragt sich auch als Jurist, wie die vietnamesischen Kläger dazu kommen, wegen aus Kriegshandlungen des US-Militärs resultierenden Schäden vor einem zivilen Bundesgericht der USA gegen die Produzenten und Lieferanten der Herbizide zu klagen. Die Kläger stützen ihre Klage im wesentlichen auf eine spezielle Vorschrift des US-amerikanischen Rechts: das Alien Tort Statute (ATS) (sinngemäß: Gesetz über Schäden von Ausländern), 28 United States Code (Sammlung der Bundesgesetze) § 1350. Dieses verleiht den Bundesbezirksgerichten die Entscheidungsbefugnis über alle zivilrechtlichen Klagen, die Ausländer wegen Ersatz von Schäden erheben, die ihnen unter Verletzung von internationalem Recht oder von durch die USA abgeschlossenen Verträgen entstanden sind. Die Kläger vertreten die Ansicht, daß die Regierung der USA durch das Versprühen giftiger Herbizide in Teilen Südvietnams von 1962 bis 1970 internationales Recht verletzt haben und daß die beklagten Unternehmen zu den Rechtsverletzungen der Regierung Beihilfe und Anstiftung durch die Lieferung von Agent Orange geleistet haben und daher mit ihren Unternehmenskapazitäten direkt verantwortlich waren. Die Kläger stehen auch auf dem Standpunkt, ihre Klage auf vietnamesisches Recht (domestic law) stützen zu können. Sie haben sowohl Schadensersatz in Geld als auch gerichtlich angeordnete Entschädigung in Form von Verbesserung der Umweltbedingungen, Reinigungsmaßnahmen und Abschöpfung von Gewinnen beantragt.

Die beklagten Unternehmen hatten schon in der ersten Instanz versucht, die Klage allgemein juristisch ohne Prüfung von Sachverhalten mit der Begründung abzuwehren, daß der Fall nicht unter das ATS falle und daß es sich insgesamt um eine von den Gerichten nicht zu entscheidende politische Frage (Political Question) handle. Dem war das Gericht nicht gefolgt. Es hat die Klage jedoch mit der zentralen Begründung abgewiesen, der Einsatz von Agent Orange habe weder gegen internationales Recht noch gegen Verträge der USA verstoßen. Dem ist das Berufungsgericht gefolgt.

Keine Gesamtbewertung

Der Kern des Problems liegt darin, ob die Voraussetzungen des ATS erfüllt sind oder nicht. Das Berufungsgericht verneint dies, indem es kunstvoll das tatsächliche Geschehen in den Entscheidungszentralen der USA (Weißes Haus, Verteidigungsministerium, Kongreß) und am Tatort (Schlachtfeld) in kleine Teile zerlegt und in subjektive Ziele und Absichten und objektive Folgen aufspaltet. Am Ende bleibt nichts rechtlich Faßbares, keine Gesamtschau der skrupellosen, an den fürchterlichen "Nebenfolgen" gänzlich desinteressierten großflächigen Entlaubungsaktionen.

In dem "Background" überschriebenen Teil des Urteils behandelt das Gericht die Entstehung und Entwicklung des Herbizidprogramms. Schon bald nach dem eigenen militärischen Einstieg in den Krieg hatten die führenden Militärs der USA erkannt, daß die tropische Vegetation Vietnams den Kämpfern der Befreiungsbewegung und Nordvietnams Schutz und Deckung sowie eine Nahrungsgrundlage bot. Man sah sie nicht, hatte kein freies Schußfeld und man konnte ihnen nicht die Ernährungsgrundlage nehmen. Schon im November 1961 ließ sich Präsident Kennedy von den Militärs überzeugen, daß dem abgeholfen werden sollte. Das Militär mußte nichts neu erfinden. Schon in den 1940er Jahren waren vom US-Militär betriebene Forschungen auf die Grundbestandteile der Komponenten von Agent Orange gestoßen: 2,4dicholorophenoxyacetic acid (2,4D) und 2,4,5trichlorophenoxyacetic acid (2,4,5T). In den 1950er Jahren wurden unter Leitung des US-Militärs Feldversuche durchgeführt, die die Wirkung der Versprühung dieser Stoffe von Flugzeugen aus erweisen sollten. Diese Versuche bildeten die Grundlage für die Entlaubungsprogramme in Vietnam. 1961 evaluierte die Advanced Research Projects Agency (Agentur für fortgeschrittene Forschungsprojekte) die Machbarkeit der Entlaubung tropischer Vegetation in Vietnam und empfahl die sofortige Anwendung von 2,4D und 2,4,5T. Im Januar 1962 begann die US Air Force die operationale Phase des Entlaubungsprogramms in Südvietnam. Benutzt wurde eine Substanz mit dem Namen Agent Purple. Im weiteren Verlauf des Jahres 1962 kam ein Forschungsteam zu dem Ergebnis, daß eine 50/50 Mischung der beiden Substanzen am effektivsten war. Diese Formel wurde unter dem Namen Agent Orange bekannt. Das Militär setzte formale Spezifikationen für die Stoffe fest. Diese Spezifikationen waren die Grundlage für das "Design" und die Zusammensetzung der Chemikalien, die die Regierung verlangt hatte. Sie wurden später als Grundlage für die militärische Beschaffung von Agent Orange benutzt. Die Regierung stattete die Hersteller mit Kopien dieser Spezifikationen aus und bezog diese in die Verträge mit ihnen ein. Die Regierung erließ auch strenge Regelungen über die Kennzeichnung der Fässer mit den von den beklagten Firmen hergestellten Herbiziden. Die Namen der verschiedenen "Agents" (Agent Orange, Agent Purple usw.) mußten auf einem 3 inch (7,6 cm) breiten farbigen Band auf der Außenseite der Fässer mit dem jeweiligen Herbizid vermerkt sein. Die Regierung verbot außer dem farbigen Band jede weitere Kennzeichnung der Fässer mit sprachlichen Texten, Markierungen oder Identifikationszeichen.

1966 war die Regierung besorgt darüber, daß die Produktion von Agent Orange nicht ausreichen könnte, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Sie entschloß sich, die Hersteller zu einer höheren Produktion zu zwingen. Dies geschah auf der Grundlage des Defense Production Act von 1950, der den Präsidenten ermächtigte, von den Herstellern im Rahmen von Verträgen oder Befehlen zu verlangen, die Produktion mit Vorrang vor anderen Geschäften abzuwickeln, wenn die nationale Verteidigung dies erforderte. Der Präsident übertrug diese Befugnis auf das Handelsministerium, das im März 1967 die beklagten Hersteller anwies, die Produktion von Agent Orange zu beschleunigen und die Kapazität zu erhöhen.

Im Juni 1966 hatte eine Regierungsuntersuchung über die Langzeit-Gesundheitsfolgen von Herbiziden, darunter 2,4,5T, (bekannt als Bionetics-Studie) den Beweis von Teratogenizität (Verursachung angeborener Defekte) bei Mäusen erbracht. Diese Studie wurde dem Nationalen Krebsinstitut vollständig erst im September 1968 vorgelegt. Mitarbeiter des Nationalen Gesundheitsinstituts hatten jedoch schon vorher Kenntnis vom Stand der Untersuchung. Die Regierung gab im Frühjahr 1969 weitere intensive Untersuchungen in Auftrag, die die Ergebnisse der Bionetics-Studie ergänzen sollten. Es gab aber keine Einschränkungen des weiter betriebenen Entlaubungsprogramms in Vietnam. Erst nach der Veröffentlichung der Studie im Oktober 1969 beschränkte die Regierung den Gebrauch von 2,4,5T sowohl in den USA (bei Nahrungspflanzen und in Wohngebieten) als auch in Vietnam, wo der Gebrauch auf Gebiete abseits menschlicher Besiedlungen beschränkt werden sollte. Am 15. April 1970 suspendierte das Verteidigungsministerium den militärischen Einsatz von Agent Orange wegen der erwiesenen Toxizität der Dioxin-Komponente.

Nur zum Schutz der eigenen Soldaten

Das Verteidigungsministerium der USA hatte von Anfang der Entlaubungsaktion an darauf bestanden, daß diese dem Schutz des Lebens der eingesetzten US-Soldaten und der südvietnamesischen und anderen Verbündeten dienen und die Opfer auf dieser Seite verringern sollten. Hierzu zitiert das Urteil Äußerungen des stellvertretenden Verteidigungsministers Admiral Lemos. Das Gericht vertritt die Auffassung, das Verteidigungsministerium habe strikt darauf geachtet, daß nur solche Feldfrüchte angegriffen würden, die bekanntermaßen von den "Vietcong" und den Nordvietnamesen angebaut würden; Es habe die Vereinigten Stabschefs angewiesen, immer wieder diese zentrale politische Direktive hervorzuheben, die chemischen Herbizide nur in Gebieten abseits der Bevölkerung anzuwenden.

Daß das Ministerium dies behauptet, liegt nahe. Ob es auch stimmt, ist eine andere Frage. Ich selbst habe 1985 im Grenzbereich zu Kambodscha in der Provinz Thay Ninh riesige Flächen mit zahlreichen Ortschaften darin gesehen, die weitgehend völlig verwüstet und vegetationsfrei waren, und habe mit etlichen überlebenden Einwohnern gesprochen, die von den Entlaubungsaktionen im Bereich ihrer Dörfer berichteten. In diesem Gebiet, das auch zahlreiche zivile Agent Orange-Opfer aufweist, endete einer der Zweige des sogenannten Ho Chi Minh-Pfades.

Trotz der Befürwortung durch die militärischen Spitzen war das Programm nicht unumstritten. Außerdem bestand die "Gefahr", daß die "kommunistische Propaganda" das Programm als eine Art von bakterieller oder chemischen Kriegsführung charakterisieren würde. Trotzdem bestanden die Entscheidungsträger auf seiner Fortführung, und zwar im Hinblick auf die "substantiellen militärischen Vorteile". Außenminister Dean Rusk beriet 1961 Präsident Kennedy dahingehend, daß "der Gebrauch von Entlaubungsmitteln keinerlei Vorschrift des internationalen Rechts in Bezug auf chemische Kriegsführung verletzt und eine anerkannte Kriegstechnik ist". 1969 wurden die USA in der UN-Vollversammlung mit einem Antrag konfrontiert, der forderte, daß das Genfer Protokoll von 1925 betr. das Verbot von erstickenden und anderen giftigen Gasen und bakteriologischen Methoden der Kriegsführung (das die USA 1969 noch nicht ratifiziert hatten) zumindest auch einen Teil der Herbizid-Nutzung zur Kriegführung untersage. Die Delegation der USA stimmte gegen diesen Antrag mit der Begründung, da chemische Herbizide 1925 noch nicht bekannt gewesen seien, könnten sie von dem Protokoll nicht erfaßt sein. 1970, als Präsident Nixon das Protokoll dem Senat zur Ratifizierung vorlegte, wiederholte Außenminister Rogers, das Verständnis der USA gehe dahin, daß das Protokoll den Gebrauch von chemischen Herbiziden im Krieg nicht verbiete. Diese Auffassung wiederholte Präsident Ford 1975.

Der Kongreß war sich der Fragwürdigkeit des Herbizid-Programms bewußt. Er hat manche militärische Initiative in Südostasien mißbilligt. Er hat es jedoch nie abgelehnt, die (finanziellen) Mittel für das Entlaubungsprogramm bereitzustellen. Versuche einzelner Abgeordneter (Senatoren Nelson und Goodell), das Herbizid-Programm zu verbieten, scheiterten mit großer Mehrheit (62 zu 22 bzw. 48 zu 33). Dem Kongreß war auch die juristische Kontroverse über das Genfer Protokoll von 1925 und die Rechtmäßigkeit des Herbizid-Einsatzes in Vietnam bekannt. Der eigentlich wünschenswerte Beitritt der USA zu diesem Abkommen wurde deshalb wegen Zweifeln an der parlamentarischen Ratifizierung bis nach der Beendigung des Entlaubungsprogramms zurückgestellt.

Das Gericht hat ferner hervorgehoben, daß das Abkommen von 1995 zwischen den USA und Vietnam, das die Clinton-Regierung nach der Beendigung des weitgehenden Embargos Vietnams durch die USA zur Regelung zahlreicher durch den Krieg und seine Folgen verbliebener ungelöster Probleme abgeschlossen hat, bezeichnenderweise keinerlei Regelung über Entschädigung oder Wiedergutmachung in Bezug auf Ansprüche wegen des Herbizid-Einsatzes einschließlich Agent Orange enthält.

Auslegungen des Völkerrechts

Das Berufungsgericht hat in seinen rechtlichen Schlußfolgerungen (Analysis) zunächst die Voraussetzungen für einen Anspruch nach dem Alien Tort Statute unter Berücksichtigung der Sosa-Entscheidung1 des Supreme Court dargestellt:

Unabhängig voneinander müßten drei Voraussetzungen erfüllt sein:
1. Der Kläger muß ein Ausländer sein.
2. Er muß wegen einer Schadens klagen, der
3. unter Verletzung des Völkerrechts (law of nations) oder eines von den USA ratifizierten Vertrages zugefügt worden ist.

Völkerrecht im Sinne des ATS sei das Völkergewohnheitsrecht, das die Gesamtheit der Regeln umfasse, an die die Nationen in der internationalen Gemeinschaft sich universell halten oder in die sie einwilligen aufgrund des Empfindens einer Verpflichtung oder wechselseitiger Betroffenheit. Bei der Entscheidung, ob eine Regel eine Norm des Völkergewohnheitsrechts sei, haben die Gerichte traditionell "die Werke von Juristen, die sich professionell mit Völkerrecht beschäftigen, die allgemein Handhabung und Praxis der Staaten und die Entscheidungen von Gerichten, die dieses Recht feststellen und durchsetzen" konsultiert. Nachfolgend zitiert das Gericht ausführlich aus Entscheidungen des Supreme Court zu den Maßstäben zur Ermittlung völkerrechtlicher Regeln. Der Supreme Court hat in seiner Sosa-Entscheidung das ATS, das ursprünglich ein Teil des Justizgesetzes von 1789 war, dahingehend ausgelegt, daß es keine eigene Anspruchsgrundlage schaffe, sondern nur eine Zuständigkeitsregelung sei und eine bereits vorhandene Anspruchsnorm voraussetze. Das Berufungsgericht verweist auf die Aufforderung des Supreme Court an die nachgeordneten Gerichte in der Sosa-Entscheidung, bei der Frage, ob das Völkerrecht einen auf das ATS gestützten Anspruch rechtfertigen könne, mit Vorsicht vorzugehen. Zusammengefaßt vertritt der Supeme Court die Auffassung, die Gerichte sollten sich bei der Auslegung des ATS an das Verständnis des Rechts zum Zeitpunkt des ursprünglichen Erlasse des ATS im 18. Jahrhundert orientieren. Diese Betrachtungsweise ist kennzeichnend für einen Teil des rechten konservativen Flügels der Richter des Supreme Court, der sich dagegen sperrt, alte Rechtsvorschriften als entwicklungsbedürftige Normen zu betrachten, die sich sozusagen mit der Zeit verändern können.

Die Kläger haben sich bei ihrer Argumentation, daß die Versprühung von Agent Orange gegen Völkergewohnheitsrechts-Normen verstoßen habe, die den Gebrauch von vergifteten Waffen und die Verursachung vermeidbaren Leidens verbieten, auf verschiedene internationale Abkommen berufen, so u. a. auf das Haager Abkommen von 1907 mit Zusatzregelungen und auf das Genfer Protokoll von 1925 sowie die 4. Genfer Konvention von 1949.

Das Berufungsgericht hat diese Argumentation nicht akzeptiert. Das Haager Abkommen von 1907 entspreche den Grundlagen des Nationalen Handbuchs des Militärrechts der USA und dem führender anderer internationaler Staaten. Die darin enthaltenen Regeln, die als anerkanntes Völkergewohnheitsrecht anzusehen seien, seien durch die Entlaubungsaktionen nicht verletzt. Das gelte auch für die 4. Genfer Konvention, die die USA 1955 ratifiziert haben. Das Genfer Protokoll von 1925 sei erst 1975 von den USA ratifiziert worden, und zwar nicht rückwirkend, sondern nur für die Zukunft. Es sei daher für den maßgeblichen Zeitraum 1962 bis 1970 kein von den USA ratifizierter Vertrag; außerdem habe das Vorgehen der USA auch zuvor nicht gegen den Vertrag verstoßen. Angesichts des Verhaltens der USA bis zur Ratifizierung könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Inhalt des Vertrages allgemein als Teil des anerkannten Völkerrechts anzusehen sei, das nach dem Bewußtsein und der Praxis der Nationen verbindlich sei. Unter Berücksichtigung der Vorbehalte der USA bei der Ratifikation sei es eine unzulässige Annahme, dem Protokoll den Status einer verbindlichen völkerrechtlichen Regel während der Zeit des Vietnamkrieges zuzuerkennen.

Nachfolgend setzt sich das Gericht mit der Argumentation der Kläger auseinander, die an die Verbrechen des NS-Regimes in Deutschland vor 1945 unter Verwendung von Giftgas anknüpft. Die Kläger haben sich auf Ausführungen des US-Militärjuristen Generalmajor Kramer berufen, der sich im März 1945 mit deutschen Einsätzen von chemischen Mitteln in Bezug auf das Wachstum von Pflanzen beschäftigt und eine Einzelfallprüfung verlangt hatte, wenn sich Auswirkungen auf Menschen ergeben hatten. Die Klägerseite hatte sich ferner bei ihrer Argumentation, daß der Einsatz von Herbiziden als Benutzung von Giften (poisons) unzulässig sei, auf naturwissenschaftliche Gutachten (Professor George P. Fletcher und Jordan Paust) sowie auf die Arbeiten von Gelehrten des Völkerrechts gestützt, die generell die Ansicht vertreten, daß die chemische und biologische Kriegsführung völkerrechtswidrig sei. Die Kläger haben argumentiert, die beklagten Unternehmen hätten gegen das Verbot unnötigen Leidens verstoßen. Der Gebrauch jeglichen Materials, das Nebenwirkungen (Kollateralschäden) haben könne und für militärische Zwecke nicht notwendig sei, sei universell verboten. Zusammengefaßt: Der Einsatz von Agent Orange sei im Verhältnis zu den militärischen Notwendigkeiten unverhältnismäßig, weil er nicht notwendiges menschliches Leiden verursache. Insbesondere meinen die Kläger, daß die Art. 146 und 147 der 4. Genfer Konvention jede "exzessive Zerstörung und Enteignung von Eigentum, die nicht durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt ist und die gesetzwidrig und willkürlich durchgeführt wird," verbieten, wenn diese gegenüber geschützten Personen begangen wird. Außerdem stützen sich die Kläger auf die Regelungen für die Nürnberger Prozesse wegen NS-Kriegsverbrechen.

Das Berufungsgericht weist diese Argumente zurück und stellt sich auf den Standpunkt, unter Berücksichtigung der Sosa-Entscheidung des Supreme Court hätten die Kläger das Bestehen einer universell anerkannten Norm des Völkerrechts, die den Kriegseinsatz von Agent Orange verboten habe, nicht dargelegt.

Wörtlich: "Auch wenn der Herbizid-Einsatz umstritten gewesen sein mag, die uns vorliegenden Unterlagen stützen die Schlußfolgerung, daß Agent Orange als ein Entlaubungsmittel eingesetzt wurde und nicht als Gift, das auf die menschlichen Bevölkerung zielte. Insoweit als Agent Orange nur auf Entlaubung und Zerstörung von Feldfrüchten intendierte, verletzte sein Gebrauch nicht die hier behandelten internationalen Normen, weil diese nicht notwendig den Einsatz von Materialien verbieten, die nur in zweiter Linie, aber nicht ihrer Intention nach, schädlich für Menschen sind. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, daß die Kläger nirgendwo behaupten, daß die Regierung mit dem Einsatz von Agent Orange die Absicht verfolgte, menschliche Wesen zu schädigen. In ihrer erweiterten Klagebegründung räumen die Kläger ein, daß der ‚festgestellte Zweck des Versprühens (von Herbiziden) ein zweifacher sei: a) die Entlaubung von Wäldern und Mangroven, um die vegetative Deckung der Truppen (der Demokratischen Republik Vietnam und der Nationalen Befreiungsfront) zu zerstören und b) Nahrungsmittelpflanzen zu vernichten, um sie der Nahrung zu berauben.' Ferner haben die Kläger anerkannt, daß die Herbizid-Entlaubungs-Kampagne neben anderen Dingen die pflanzliche Bedeckung in der Nähe von U.S.Basen und deren Umgebung schwer betroffen hat, was es noch weniger plausibel erscheinen läßt, daß die Regierung beabsichtigt habe, die Herbizide als Giftwaffe im Krieg einzusetzen."

"Es fehlt an einem Konsens in der Internationalen Gemeinschaft im Hinblick darauf, ob das Verbot von Gift auch Entlaubungsmittel umfaßt, die möglicherweise unbeabsichtigte toxische Nebenwirkungen haben im Gegensatz zu Chemikalien, die Kombattanten töten sollen."

Im Anschluß an diese Ausführungen stellt das Berufungsgericht die Rechtssprechung u. a. des Internationalen Gerichtshofs dar, aus der sich ergebe, das der Inhalt des Begriffs "poison" (Gift) in den Haager Verträgen von 1907 unklar sei, wie sich u. a. aus Entscheidungen zum Einsatz nuklearer Waffen ergebe.

Das Berufungsgericht vertritt die Auffassung, daß die Kläger sich zu Unrecht auf die Stellungnahme des Generals Kramer berufen, weil dieser nämlich einen Unterschied anerkannt habe zwischen dem Gebrauch von giftigen und zerstörerischen Gasen gegen menschliche Wesen und dem Einsatz von Chemikalien, um Eigentum zu zerstören wie natürliche Vegetation oder angebaute Feldfrüchte oder dergleichen. Unter Bezugnahme auf weitere Äußerungen von Kramer und Buzhardt wiederholt das Gericht seine Feststellung, daß es keine allgemein anerkannte Norm des Völkerrechts gebe, die den Herbizid-Einsatz verbiete.

Ebenso weist das Gericht den Bezug der Kläger auf die Nürnberger Prozesse zurück: Die dort wegen der Lieferung von Zyklon B Giftgas an Konzentrationslager verurteilten Personen hätten gewußt, daß das Gas dazu bestimmt gewesen sei, Menschen zu töten. Da Agent Orange nicht als Mittel zum direkten Einsatz gegen feindliche Truppen benutzt worden sei, falle es nicht unter das Verbot des Art. 23 der Haager Konvention des kalkulierten Einsatzes tödlicher Substanzen gegen Menschen.

Nachfolgend stellt das Gericht anhand zahlreicher Äußerungen US-amerikanischer Politiker während des Vietnamkrieges dar, daß die herrschenden politischen Kräfte den Einsatz von Agent Orange für rechtlich unbedenklich hielten.

Aus allen diesen "Argumenten" schließt das Gericht, daß nach den strengen Anforderungen des Supreme Court in der Sosa-Entscheidung die Voraussetzungen nicht erfüllt seien, unter denen von einem universell anerkannten Verbot des Einsatzes von Agent Orange die Rede sein könne. Mit ermüdender Beharrlichkeit wiederholt es seinen Standpunkt, der Einsatz habe lediglich dazu gedient, Pflanzen zu zerstören und "das Leben von Amerikanern und unseren Verbündeten zu retten", nicht aber dazu, die menschliche Bevölkerung zu schädigen.

Wörtlich: "Die Kläger haben bestenfalls eine in diesem Verfahren anwendbare Norm des Völkergewohnheitsrechts dargelegt, die den absichtlichen Gebrauch von Gift als Waffe gegen menschliche Wesen verbietet. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß die Behauptung der Kläger, die Beklagten hätten Herbizide hergestellt und geliefert, die mit Gift versetzt waren und als Entlaubungsmittel benutzt wurden, nicht die Voraussetzungen erfüllen, die der Supreme Court in der Sosa-Entscheidung festgelegt hat, um einen Schaden als in Verletzung des Völkerrechts verursacht anzuerkennen und damit als feststellbar nach dem ATS."

Abschließend bestätigt das Berufungsgericht noch die erstinstanzliche Entscheidung zu mehreren prozeßrechtlichen Fragen, die aber für den grundsätzlichen Ausgang des Verfahrens nebensächlich sind.

Meine zusammenfassende Einschätzung sieht so aus, daß bei der derzeitigen Zusammensetzung des Supreme Court die Chancen der Kläger auf eine für sie günstigere Entscheidung gleich Null sind.

Anmerkung:
1 In dem Sosa-Fall ging es um einen mexikanischen Staatsangehörigen, der im Zusammenhang mit einem angeblichen Mord an einem Mitarbeiter der US-DEA (Drug Enforcement Agency) unter Mitwirkung des Agenten Sosa in die USA entführt, dort kurzfristig inhaftiert und schließlich von der Anklage freigesprochen wurde. Seine Klage gegen Sosa auf Schadensersatz scheiterte letztlich vor dem Supreme Court, der die Auffassung vertrat, trotz der Rechtswidrigkeit des Vorgehens sei ein Verstoß gegen Normen des Völkerrechts im Sinne des ATS nicht festzustellen.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2008

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