Agent Orange vor Gericht

US-Richter lehnt Klage der Opfer ab

Karl-Rainer Fabig

"Es gibt keine Basis für irgendeine der Klagen der Kläger, weder vor einem Gericht einer Nation oder eines Staates oder Landes noch im Sinne der Internationalen Rechts." Mit dieser Begründung wurde die Zivilklage vietnamesischer Agent Orange (AO) -Opfer und ihres Verbandes gegen die US-Hersteller der chemischen Kampfstoffe von einem US-Gericht in Brooklyn (New York) abgewiesen. Die Klage war am 30. 01. 2003 von einem Konsortium von US-Anwälten eingereicht worden (siehe Vietnam-Kurier 1-2003). Richter Jack B. Weinstein verkündete das Urteil am 10. 03. 2005: Die Begründung ist 233 Seiten lang, der gesamte Text und andere Dokumente sind vom Fund for Reconciliation and Development im Internet veröffentlicht worden. In unserer Berichterstattung über den Stand der Dinge beziehen wir uns auf dieses Urteil und informieren über wissenschaftliche und juristisch-politische Aspekte des Verfahrens.

Zum Charakter des Prozesses

In der Anklageschrift vom 30.01.03 werden als Kläger genannt:
- Die Organisation der vietnamesischen AO-Opfer (The Vietnam Association for Victims of Agent Orange/Dioxin - VAVA),
- und die Opfer Nguyen Van Quy, Duong Quynh Hoa und Huynh Trung Son.

Angeklagt sind 26 Chemie- und Pharmakonzerne.

Wer die üblichen Schadensersatzprozesse vor US-Gerichten verfolgt, bei denen es oft um horrende Geld-Streitwerte - vor allem bei vermeintlichen oder tatsächlichen medizinischen Fehlern - geht, könnte bei Betrachtung dieser Zivil- oder Schadensersatzklage einem Trugschluß erliegen. Es geht hier nicht um so etwas wie einen "Agent Orange-Kunstfehlerprozess", sondern konkret um zwei Dinge:
1) Die Verurteilung der Unrechtmäßigkeit von Lieferungen für eine chemische Kriegsführung und
2) die Entschädigung von Kriegsopfern aus dem rechtmäßig siegreichen Staat.

Man könnte den Eindruck haben, daß sich mit dieser Klage die Tragödie des Krieges fortsetzen soll, in der sich der vietnamesische David gegen den US-Goliath erwehren mußte und siegte. Will David nun nach dem Militärwesen auch noch das Justizwesen des Goliath bloßstellen? Richtig ist, daß die klagenden Opfer nicht Rache nehmen oder in erster Linie viel Geld erstreiten wollen. Auch der vietnamesische Staat und seine Regierung haben keinerlei Absichten, hier verspätet noch einen Sieg zu erringen. Vielmehr geht es dem Land und den Opfern um die nachträglich Ächtung des chemischen Krieges auch in den USA ebenso, wie um einen Beitrag zur Überwindung der immer noch weiter wirkenden Folgen eines Handelns, das sowohl vom menschlichen, als auch vom völkerrechtlichen Standpunkt aus verbrecherisch war. Denn es wurde hier erstmalig in der menschlichen Geschichte ein Krieg bewußt so geführt, daß seine Zerstörungen und Folgen nicht auf die durch sie betroffene Generation beschränkt blieben. Das Kriegshandeln der USA kalkulierte bewußt zukünftige und unabsehbare Folgen mit ein oder nahm sie ohne Skrupel in Kauf. Die Anklageschrift der vietnamesischen Opfer nimmt deshalb ausführlich Bezug auf die Historie, Motivation und Begründung dieses folgenreichen Einsatzes durch diejenigen, die ihn befahlen und ausführten, inkl. der Hersteller und Lieferanten des Giftes. Hier Auszüge (übersetzt und zusammengefaßt):

Punkt 5: Am 30.11.1961 bat US-Präsident J.F. Kennedy das "Department of State" und das "Department of Defense" (Außen- und Verteidigungsministerium) um Stellungnahmen, ob das Herbizid-Kriegsprogramm in Vietnam mit juristischer Absicherung durchgeführt werden könne. Beide Ministerien sprachen sich für das "Entlaubungs"-Programm aus, wobei sie sich offenbar dessen bewußt waren, daß bereits die Zerstörung der Ernte des Feindes eine klare Verletzung des internationalen Rechts und ein Kriegsverbrechen darstellen würde.
Punkt 55: Gegen Ende 1964 eskalierte der Krieg. Die Sprüheinsätze wurden ausgedehnt, Kontrollen und Einschränkungen locker gehandhabt. Die Besprühung des Ho Chi Minh-Pfads begann.
Punkt 56: 1965 war das Ziel von 45% aller Sprühaktionen nicht die Beseitigung der "Deckung" des Feindes, sondern ausdrücklich die Zerstörung von Früchten und Ernten.
Punkt 57: Zwischen 1961 und 1971 flog die US-Airforce mindesten 19.905 Sprüheinsätze, durchschnittlich 10,7 am Tag. Die schlimmsten Jahre waren 1968 und 1969 im Rahmen der Operation Ranch Hand. Insgesamt wurden nach den Regierungsunterlagen 76 Mio. Liter Herbizide versprüht.
Punkt 63: Gegen das Sprühprogramm sprachen sich nicht nur eine Reihe von US-Wissenschaftlern aus, sondern auch einflußreiche Personen aus dem State Department, namentlich Roger Hilsman and W. Averell Harriman.
Punkt 64: 1963 schrieb der Journalist Richard Dudmana eine Artikelserie im St. Louis Post-Dispatch und anderen Zeitungen, in der er den Herbizid-Einsatz als "schmutzigen Krieg" bezeichnete. Die Artikel bewirkten, daß der Kongreßabgeordnete Robert W. Kastenmeier (Wisconsin) einen Protestbrief an Präsident Kennedy schrieb, in dem er die Herbizide als "chemische Waffen" bezeichnete.
Punkt 65: 1964 berichtete die Washington Post über einen Sprayunfall mit "irrtümlicher" Vernichtung von Reis und Ananas. In einem "Editorial" sprach sich die Zeitung für das Ende der Besprühungen aus, die ein "Risiko für die Zivilbevölkerung" seien.
Punkt 66: Schon 1964 hatte die "Föderation Amerikanischer Wissenschaftler" ihre Opposition gegen die Herbizide im Vietnamkrieg ausgedrückt und deren Einsatz als "Experiment eines biologischen und chemischen Krieges" bezeichnet.
Punkt 67: Im Januar 1966 hatte eine Gruppe von etwa 30 Bostoner Wissenschaftler Protest gegen die Erntevernichtung geäußert und diese als "barbarische und ziellose Attacke gegen Kombattanten und Nicht-Kombattanten gleichzeitig" bezeichnet.
Punkt 68: 1967 unterzeichneten mehr als 5000 Wissenschaftler, darunter 17 Nobelpreisträger and 129 Mitglieder der National Academy of Sciences eine Petition, in der Präsident Johnson ersucht wurde, Antipersonen- und Erntevernichtungs-Chemikalien in Vietnam nicht weiter zuzulassen.
Punkt 69: 1967 verfaßte die regierungsnahe Denkfabrik RAND Corporation zwei Reports, in denen der Herbizid-Krieg kritisiert wurde, weil dieser "den Bauern die Nahrungsgrundlage wegnimmt".
Punkt 70: 1967 forderte die American Association for the Advancement of Science das US-Verteidigungsministerium auf, die ökologischen Langzeitfolgen des Herbizid-Krieges zu untersuchen, "da die bisherigen Forschungsergebnisse keine sicheren Schlußfolgerungen zulassen".
Punkt 71: 1965 beauftragte das National Cancer Institute das Bionetics Research Laboratory, die Toxizität gewisser Herbizide und Pestizide zu erforschen. Schon im ersten Report (1966) wurde festgestellt, daß die Herbizide 2,4,5-T und 2,4-D Fehlbildungen und Totgeburten (bei Mäusen) verursachen können.
Punkt 72: 1966 gingen verschiedene Resolutionen bei der UNO ein, in denen die USA der Verletzung des Genfer Protokolls von 1925 beschuldigt wurden, in dem der Gebrauch von erstikkenden, verletzenden Gasen und bakteriologische Methoden der Kriegsführung geächtet wurde.
Punkt 73: 1969 verabschiedete die Generalversammlung der UNO die Resolution Nr. 2603-A, mit der das Genfer Protokoll von 1925 bekräftigt wird, in dem chemische oder biologische Kampfstoffe - ob gasförmig, flüssig oder fest - wegen ihrer toxischen Effekte auf Menschen, Tiere oder Pflanzen geächtet werden. Die Vereinigten Staaten akzeptierten diese Interpretation nicht und stimmten gegen die Resolution. Diese wurde aber mit 80 Für- und 3 Neinstimmen (bei 36 Enthaltungen) angenommen.
Punkt 74: Am 15. April 1970 verfügte ein zuständiges US-Sekretariat (Health, Education and Welfare, Agriculture and the Interior) den Stop des häuslichen Gebrauchs von Herbiziden, wenn diese 2,4,5-T enthielten. Am gleichen Tag verfügte das Verteidigungsministerium den Stop des militärischen Gebrauchs von 2,4,5-T, einschließlich des Agent Orange. Die letzte Ranch Hand-Mission fand allerdings noch im Januar 1971 statt.
Die Punkte 80 bis 106 der Anklageschrift befassen sich ausführlich mit dem Wissen der angeklagten Produzenten und Lieferanten der Herbizide um ihre lebensgefährlichen Wirkungen und genetischen Langzeitfolgen.
Die Punkte 156 bis 160 beziehen sich auf neuere Erkenntnisse nach Verabschiedung des Agent Orange Act of 1991. Es handelt sich dabei um Studien, die sich ausdrücklich auf Vietnam beziehen.

Die erste wurde dabei vom "Institute of Medicine" (IOM) bzw. der "National Academy of Sciences" (NAS) veran-laßt und von der Zeitschrift Nature am 15. 04. 2003 veröffentlicht (Stellman JM et al.(2003) The extent and patterns of usage of Agent Orange and other herbicides in Vietnam. Nature 422: 681-687). Die sehr sorgfältige und vorsichtige Studie (mittlerweile "Stellman-Studie" genannt) kommt - wahrscheinlich nicht im Sinne der Auftraggeber - zu Ergebnissen über das Ausmaß und die Modalitäten des US-Herbizidkrieges, die überwiegend mit den vietnamesischen Angaben übereinstimmen (siehe auch "Betr. Dioxin - eine neue Rechnung" in VNK 2-2003).

Die zweite Studie (Dwernychuk LW, Cau HD, Hatfield CT, Boivin TG, Hung TM, Dung PT, Thai ND (2002) Dioxin reservoirs in southern Viet Nam - a legacy of Agent Orange. Chemosphere 47(2):117-37) wurde von Wayne Dwernychuk, einem Wissenschaftler aus Kanada u.a. verfaßt und 2002 in dem Journal Chemosphere veröffentlicht. Berichtet wird über die anhaltende Dioxinbelastung im Tal von A Luoi in Zentral-Vietnam, das besonders heftig besprüht wurde.

Eine dritte zitierte Studie wurde von Arnold Schecter, einem Professor der Umweltwissenschaften an der Universität von Texas, im August 2003 veröffentlicht (Schecter A, Quynh HT, Pavuk M, Papke O, Malisch R, Constable JD (2003) Food as a source of dioxin exposure in the residents of Bien Hoa City, Vietnam. Journal of Occupational and Environmental Medicine 45(8):781-8). Eine ausgesprochen hohe Dioxinbelastung in Umwelt und Nahrungskette wurde in dem "hot spot" Bien Hoa, einer ehemaligen US-Garnisonsstadt im Süden Vietnams gefunden. Schecter u.a. zeigten, daß die in der Nahrungskette weitergereichten Dioxine die Bewohner der Stadt auch dann noch vergiften, wenn die Besprühungen schon Jahrzehnte zurück liegen.

Anklage gegen Global Player

Einer der aufschlußreichsten Aspekte dieses Verfahrens ist, daß die Liste der Angeklagten sich wie ein Who is Who der gegenwärtigen Weltwirtschaftsakteure liest. Außer ihrer globalen Prominenz zeichnet sie aber auch die Tatsache aus, daß sie alle an der Herstellung der Giftstoffe für Vietnam sehr viel verdient haben. Der erste Hauptangeklagte, DOW Chemical, behauptet auf seiner Homepage (http://www.dow.com/) unter dem Titel "Ethik und Visionen" zwar von sich, den "Respekt für die Menschen" als oberstes Ziel seines Handelns zu sehen. Diese Priorität verliert sich allerdings, wenn dann weiter von der "ökonomischen, sozialen und umweltpolitischen Verantwortung im Business und in der Gesellschaft" die Rede ist - in dieser Reihenfolge.

Dem 2. Hauptangeklagten, Monsanto, den nicht nur die Umweltschutzorganisation Greenpeace als "Gentechnik-Giganten" bezeichnet, kann durchaus unterstellt werden, er wolle die globale "Landwirtschaft - vom Acker bis zum Lebensmittel - kontrollieren". Gegen ihn wird die Anklage erhoben, er habe der US-Regierung ab 1961 für den Einsatz im Vietnamkrieg das hochtoxische Herbizid 2,4,5-T und das darin enthaltene noch toxischere 2,3,7,8-TCDD verkauft und damit Körperverletzungen in großer Zahl in Kauf genommen - und dabei nicht schlecht Profitm gemacht. Auf der Monsanto-Homepage (http://www.monsanto.de) findet man die Eintragung "1962 - Der Umsatz von Monsanto steigt auf über 1 Milliarde Dollar". Die Umsatzsteigerung von Monsanto im Jahre 1962 ergab sich im Wesentlichen aus dem Vietnam-Kriegsgeschäft.

Es geht nicht nur um Geld

Prof. Nguyen Trong Nhan, der die Außenbeziehungen der Vietnam-Association for Victims of Agent Orange (Abkürzung VAVA) organisiert, sagte unmißverständlich: "Es geht nicht nur um Geld" (siehe Interview in VNK 2-2004). Dies wissen auch die Verantwortlichen im "Weißen Haus", und dessen war sich auch Richter Weinstein bewußt. Wegen der politischen Brisanz des Urteils sicherte sich dieser bei der US-Regierung ab. Er erbat von dort eine Stellungnahme. Dazu ist er nicht verpflichtet. Das Justizministerium übermittelte dem Gericht daraufhin ein auf den 12. 01. 2005 datiertes 62 Seiten langes "Statement of Interest of the United States". Nicht unerwartet enthält diese Stellungnahme am Ende die Aufforderung: Das Gericht solle die Klage der Opfer zurückweisen.

Die beiden einleitenden Kapitel dieses aufschlußreichen Dokuments enthalten im Wesentlichen folgende Behauptungen:
1. Die Vereinigten Staaten haben stets konsequent den Standpunkt vertreten, daß keine Vorschrift des Internationalen Rechts dem Einsatz der Herbizide entgegen steht, und
2. Die Vereinigten Staaten haben stets konsequent den Standpunkt vertreten, daß keine Vorschrift des Internationalen Rechts der Zerstörung von Ernten bei den in Vietnam unternommenen Operationen entgegen steht.

Diese beiden Behauptungen werden als "background" bezeichnet und sollen damit den Eindruck erwecken, es seien historische und juristische Tatsachen ausgesprochen. Dann werden dazu einige "Argumente" nachgereicht. Der wirkliche "background" dieser Angelegenheit wird jedoch von historischen Fakten bestimmt, auch wenn derzeitige oder ehemalige Machthaber diese nachträglich umzudeuten versuchen.

Das "Vietnam-Trauma" und die globalen Implikationen

Der 10. 08. 1961 war der Tag, an dem die US-Truppen mit ihren Entlaubungen und Erntevernichtungen in Vietnam begannen. Nach über 43 Jahren - mittlerweile mit Agent Orange-Opfern in der dritten Generation - stellte nun ein US-Richter in einem Urteil fest, "den Vietnamesen sei kein Unrecht geschehen". Wut und Zorn auf diesen Spruch waren weltweit zu vernehmen, erfolgte doch diese Rechtsverweigerung zeitlich in der Nähe des 30. Jahrestags eines weltweit überwiegend als Befreiung empfundenen Kriegsendes in Vietnams. Aus den zahlreichen Pressemeldungen sei die der in Deutschland täglich herausgegebenen Ärzte-Zeitung vom 28. 04. 05 exemplarisch zitiert. Im Anschluß an die dort von der Presseagentur dpa übernommenen Meldung heißt es: "Vietnam-Wunden noch nicht verheilt - auch 30 Jahre nach Kriegs-Ende leiden US-Soldaten und Vietnamesen an den Folgen". Weiter wird berichtet:

"Nach Angaben des Roten Kreuzes leiden 100.000 Vietnamesen an Spätfolgen wie Krebs, Mißbildungen und Erbgutschäden. Auch US-Veteranenverbände setzen sich für Tausende von Soldaten mit Spätschäden ein. Die zweite Problemgruppe sind jene 300.000 US-Kriegsveteranen, die obdachlos sind. Nach Angaben der "Nationalen Koalition für obdachlose Veteranen" hat jeder vierte Obdachlose in den USA "dem Land gedient".

Das Gedenken an die Gefallenen im Vietnamkrieg ist auch in den USA bis heute lebendig. Täglich pilgern Scharen von Angehörigen und Touristen an jener Denkmal-Mauer in Washington vorbei, in der die Namen von 58 245 gefallenen oder vermißten US-Soldaten eingraviert sind. Auf dem Boden liegen Briefe der Hinterbliebenen und Blumen.

Das Denkmal erinnert nicht nur an die Gefallenen, sondern damit auch an den Preis, den die USA für diesen Krieg bezahlt haben. 1969 waren etwa 534.000 US-Soldaten in Vietnam im Einsatz. Viele haben das Trauma nie überwunden.

Weniger beachtet von der internationalen Öffentlichkeit gibt es neben dem politischen Vietnam-Trauma auch noch ein medizinisches Vietnam-Trauma, an das einschlägige US-Studien immer wieder erinnern, in denen von bei US-Vietnamkriegs-Veteranen überhäufig festgestellten psychosozialen Störungen die Rede ist. Aber man scheut sich, dabei auch darüber nachzudenken und nachzuforschen, inwiefern diese Krankheiten möglicherweise von den toxischen Folgen des Agent Orange im Zentralnervensystem überlagert, beeinflußt oder gar verursacht sind.

Diese Überlappungen der Post-Traumatische Stress-Disorder (PTSD) genannten Krankheit durch die (dioxinbedingte) toxische Enzephalopathie (die in Deutschland als Berufskrankheit Nr. 1317 anzuerkennen ist) wurden von US-Wissenschaftlern nie erforscht. Auch die Vietnamesen haben Hirnschädigungen durch Agent Orange wegen mangelnder Forschungsmittel und -ausrüstungen sowie medizintechnischer Schwierigkeiten noch nicht geltend machen können, wie es wohl berechtigt wäre. Dabei ist jedem Arzt geläufig, daß Agent Orange wie ein Lösungsmittel oder Pestizid spezifisch neurotoxisch wirken kann.

Man muß wohl annehmen, daß bei einer den Herbizid-Besprühungen ausgesetzten Mehrheit der Vietnamesen jene "milden" neurotoxischen Effekte auch vorliegen, die sich als psychische Störungen äußern. Da solche Schädigungen auch in der Umweltmedizin der entwickelten Länder eine zunehmende Rolle spielen, kann davon ausgegangen werden, daß es nicht nur darum gehen kann, ob und wie weit das damalige Wissen der Beklagten (über die Schädlichkeit der Herbizide) ging, sondern auch um gegenwärtige Erkenntnisse und Wissenslücken auf diesem Gebiet. Es werden in diesem Sinne "globale Anliegen" zur Sprache oder zum Spruch kommen. In dieser Perspektive wirft der Prozeß wichtige und grundlegende Fragen über ethische Folgen der industriellen Produktion und globalen Verbreitung auf:
- Welche Regeln oder Kriterien gab es und gibt es für die Verantwortung von Produzenten hinsichtlich der zivilen oder kriegerischen Produktverwendung von Herbiziden und anderen körpergängigen Gefahrstoffen und welchen Gesetzen unterliegt die jeweilige Produkthaftung?
- Können und dürfen die damals und heute die US-Weltmacht mitgestaltenden angeklagten Konzerne weiterhin ungestraft darüber bestimmen, was "Wissenschaft" sei und welche Themen und Gebiete erforscht oder auch nicht erforscht werden sollten?

Insofern haben die in den Verhandlungen dieser Klage ausgetauschten Argumente und hat der Ausgang dieses Prozesses auch eine Bedeutung für Natur- und Verbraucherschützer sowie wissenschafts- und globalisierungskritische Bewegungen und Organisationen in aller Welt.

Für Forscher, Wissenschaftler und Beschäftigte in den Umwelt- und Gesundheitswissenschaften, in Ökologie und Sozialwesen ist der Ausgang dieses Prozesses besonders interessant, geht es doch auch um die Art und Weise der Rezeption, Verbindlichkeit und Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse (nicht nur von verbotenen und Gefahren-Stoffen).

Bei so zahlreichen weltweit exemplarisch wichtigen Gesichtspunkten könnte angenommen werden, daß US- und andere Wissenschaftler das Verdienstvolle besonders motiviert anpacken, nämlich endlich "den einzigartigen Herbizid-Feldversuch in Vietnam und seine Folgen" mit den Mitteln der modernsten Wissenschaft zu erforschen. Doch es kam anders.

Agent Orange-Feldforschungsprojekt gestoppt

Am 24. 02. 2005 stellten die USA offiziell die mit Vietnam vereinbarte wissenschaftliche Zusammenarbeit über Agent Orange-Folgen in Vietnam ohne Begründung ein. Die Entscheidung zur Geldsperre für dieses Projekt war bereits am 01. 01. 2005 gefallen, nachdem außer Vorplanungen noch gar nichts begonnen hatte. Dabei hatten die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts in dieser Sache durchaus hoffnungsvoll begonnen. Während der frühere Präsident G. W. Bush Senior in der "Agent Orange Act of 1991" AO-Studien ausschließlich auf US-Veteranen begrenzte, kam es im August 2000 anläßlich des jährlichen "Internationalen Dioxin-Symposiums" in Monterey (Kalifornien) zu einem "Meeting", das vom "Nationalen Institut für Umwelt- und Gesundheit" der USA (NIEHS) einberufen wurde. Dort wurde auf AO-Forschung in Vietnam hingewiesen. Das Thema hieß "Entwicklung einer Strategie zur Erforschung der Gesundheits- und Umweltaspekte der Exposition von Dioxin und ähnlichen Stoffe in Vietnam".

Am 10. 03. 2002 fand in Hanoi ein mehrtägiger Workshop von Wissenschaftlern aus den USA und Vietnam statt. Zum Abschluß wurde ein Memorandum of Understanding (http://usembassy.state.gov/vietnam) über die Ergebnisse dieses "Meeting of the Vietnamese and United States Delegations in Follow-Up to the Joint Vietnam-US Scientific Conference on Human Health and Environmental Effects of Agent Orange/Dioxin" verabschiedet. In diesem Memorandum wurden die für Vietnam dringendsten Forschungsdesiderata über den Einfluß von Agent Orange auf "Gesundheit und Umwelt" festgehalten. Zum Abschluß dieser kritischen und hoffnungsvollen Konferenz unterzeichneten für das NIEHS Dr. Anne Sassaman und für die Nationale Umweltbehörde Vietnams Dr. Nguyen Ngoc Sinh feierlich den Vertrag.

Dieses von einigen engagierten NIEHS-Mitarbeitern für überfällig gehaltene "multimilliondollar research project" (New Scientist, 20.03.2005) wurde auf Weisung von ganz oben jetzt beerdigt. Projektleiter David Carpenter (Direktor des NIEHS) mußte öffentlich Vietnam die Schuld am Scheitern geben. Er behauptete - und formulierte damit nur die offizielle Schuldzuschreibung der Regierung: "Es fehlte an der notwendigen Kooperation durch die Vietnamesische Regierung". Gleichzeitig gab er selbst die wirkliche Ursache zu Protokoll: Der laufende Prozeß gegen die Agent Orange-Produzenten "inkl. Monsanto und Dow Chemical steigert die Zurückhaltung der US-Regierung, dieses Projekt zu finanzieren" (New Scientist, 10.03.2005).

Damit hatten diejenigen, die schon immer gegen dieses Projekt gewesen sind (und die nicht nur in Washington sitzen), endlich den geeigneten Vorwand gefunden. Professor Kenneth J. Herrmann Jr., Direktor des "SUNY Brockport Vietnam Programms" nennt die Hintergründe. Sein Kommentar mit dem Titel: Eine Serie von Lügen, Enttäuschungn und Erpessung wurde von der vietnamesischen Zeitschrift Toui Tre am 22.03.05 veröffentlicht. Dort heißt es, Frau Dr. Sassaman habe "von Anfang an" Gründe gesucht, um die Kooperation mit den vietnamesischen Forschern zu verhindern. Schon bei der Unterzeichnung des Forschungsabkommens 2002 habe sie sich skeptisch über das Projekt geäußert, voller Mißtrauen gegenüber den beteiligten Wissenschaftlern und der vietnamesischen Regierung. Schon bei der Nominierung der Mitglieder habe die Klage der Opfer eine Rolle gespielt.

So wurde von den USA moniert, daß die von vietnamesischer Seite nominierte AO-Expertin und Anklagevertreterin Frau Dr. Phan Thi Phi am Ausgang des New Yorker AO-Prozesses persönlich interessiert und daher "befangen" sei. Die Vietnamesen haben es dagegen bisher hingenommen, daß auf US-Seite Frau Dr. Marie Sweeney zu dem Forscherteam gehören sollte, obwohl diese sich als Gesundheitsattaché der US-Botschaft in Hanoi in einem "conflict of interest" befinden mußte. Auch Dr. Joel Michalek wurde als Mitglied akzeptiert, obwohl er seit langem als Angestellter des US-Verteidigungsministeriums Studien über Vietnam-Veteranen anfertigt.

Prof. Herrmann schildert, daß Frau Dr. Sassaman nicht nur die Projektplanung mit Vietnam stoppte, sondern auch mehreren - und nicht nur den in die AO-Forschung involvierten - Universitäten in persönlichen Gesprächen mitteilte, daß zukünftige Forschungsprojekte nicht von NIEHS unterstützt werden könnten, wenn diese "nicht mit der Vietnam-Entscheidung des NIEHS einverstanden wären".

In seinem Artikel kritisiert Prof. Herrmann, daß "Amerika fortfährt, Entschädigungs- und Kompensationszahlungen an behinderte amerikanische Kriegsveteranen zu leisten, die während des Krieges nur kurzzeitig exponiert waren", während "Millionen von Vietnamesen, die mit 20 Mio. Gallonen toxischer Chemikalien übergossen wurden, (…) mit den gleichen oder ähnlichen Behinderungen allein gelassen werden".

Um die Ehrenrettung des NIEHS bemühte sich der Psychiater Mark Rapoport (Universität Toronto). In seiner "Antwort auf den 'Kritizismus' von Ken Herrmann" betonte er erneut den "conflict of interest" (der Frau Dr. Phi), ohne freilich das die Objektivität des Studieninteresses evtl. Behindernde nennen zu können. Hinter der Rhetorik vorgetäuschter oder tatsächlicher Vorwürfe wird deutlich, daß die amerikanische Seite Anweisungen von ganz oben hatte, eine Zusammenarbeit einzustellen, die von manchen Mitgliedern des Forscherteams aber auch von Anfang an nicht erwünscht gewesen war.

Zusammenfassung

Das Thema "Agent Orange vor Gericht" hat außergewöhnlich viele Aspekte, wobei nicht alle justiziabel erscheinen. Die in der Anklageschrift aufgeführten Punkte könnten und sollten in den nächsten Instanzen erweitert werden. Da es auch um das - für die Angeklagten damals verfügbare - Wissen geht, sollten weitere Fakten und Dokumente in Erinnerung gerufen werden, von denen im Folgenden - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einige genannt werden:

1968, in der Januarausgabe von Scientific American taucht - mit Blick auf Vietnam - zum ersten Mal in der Sprache der Begriff "Ökologischer Krieg" (ecological warfare) auf.

1969, am 14.Oktober, hält General Westmoreland, eine Rede über die "militärisch-akademisch-wissenschaftliche Kooperation".

1970, im Februar, gebraucht der US-Biologe Prof. Galston, der 1943 als erster Wissenschaftler zum Thema Herbizide habilitiert wurde, mit Blick auf Vietnam den Begriff "Ökozid" (ecocide) (New York Times, 26.02.1970).

1970 berichten die Wissenschaftler Gordon H. Orians und E.W. Pfeiffer - nach eigener Anschauung der vietnamesischen Schlachtfelder im Vorjahr - in der Zeitschrift Science (Band 168 vom 1. Mai 1970, Ss. 553-554), daß sie "die ökologischen Folgen der Entlaubung als schwer" einschätzen. Selbst amerikanische Offizielle und (süd-) vietnamesische Wissenschaftler hätten "keine Kenntnisse über die chemische Zusammensetzung der Herbizide erhalten, obwohl sie jeweils bei ihren Regierungen nachgefragt hätten". Sie stellen fest: "Das gegenwärtige Ausmaß des Entlaubungsprogramms wird nicht bestimmt von militärischem Nutzen oder von irgendwelchen Überlegungen über die Erhaltung der Umwelt. Es wird allein bestimmt von der Ausrüstung und dem Personal..".

1970 erscheint der Aufsatz über "Corporate Responsibility for War Crimes" (in der New York Review of Books, 02. 07. 1970, hier zit, nach Berry Weisberg (Hrsg.): Ecocide in Indochina, San Francisco 1970) von George Wald. Darin vertritt er die Ansicht, "daß Firmen wie Dow Chemical in gewissem Sinn für Kriegsverbrechen ebenso schuldig sind wie das Militär selbst".

Neben der historischen Dokumentation sollte eine fundierte Wissenschaftskritik an der in den USA üblichen Dioxinforschung und an der Verflechtung und Abhängigkeit der Mehrheit der US-Forscher von Industrie und Militär stattfinden.

Auch von Fremdfinanzierung unabhängige Forscher neigen dazu, nur solche Probleme zu bearbeiten, die kurzfristig gelöst werden können, die leichte Zusammenhänge ergeben und schnelle Publikation versprechen. Die Mehrheit der (Dioxin-) Forscher geht von dem aus, was bereits erforscht wurde. In Vietnam gibt es - wie auch in anderen Populationen und Ethnien - andere als die US-typischen Verteilungen der für die Fremdstoffentgiftung essentiellen Enzyme (z.B. CYP1A1, CYP1A2, NAT2, GSTM1, GSTT1 und andere). Allein für diese Erforschung müßten in Vietnam teure diagnostische Labors - gerade auch solche für die spezifische Molekulargenetik - aufgebaut werden.

In den USA und in Europa ist eine gegenüber Vietnam andere Verteilung der Krankheiten nach Herbiziden ziemlich sicher. Ein Beispiel: Chlorakne gilt hierzulande als typische Folge nach 2,3,7,8-TCDD-Expositon. Im Süden Vietnams, auch in den "hot spots" gibt es dagegen nur selten Fälle von Chlorakne.

Einige US-Wissenschaftler reagieren (wieder einmal) "beleidigt", daß "die" Vietnamesen - diesmal toxikologisch - nicht so sind, wie sich das der US-Bürger so vorstellt. Sie stoppen lieber das ganze Agent Orange-Programm, anstatt es zu überdenken.

Und auch daran sollte erinnert werden: Juristen haben - zumindest hierzulande - eine "andere Logik" als Naturwissenschaftler. Ein Gericht braucht nicht unbedingt den naturwissenschaftlichen Vollbeweis eines Zusammenhangs der Dioxinexposition mit den Gesundheitsschäden der Kläger. Es genügt eine richtige Einordnung des zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Einsatz und dem Nachwirken der Herbizide und der Entwicklung der Krankheiten, um zu einem gerechten Urteil zu kommen.

Das wichtigste Buch zum Thema ist immer noch: Westing AH (ed) (1984) Herbicides in War. The long-term Ecological and Human Consequences. Taylor & Francis, London Philadelphia

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2005

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