Des Vietnamkriegs gedenken

Ein Kommentar von Günter Giesenfeld

Eigentlich ist die Rede vom "Vietnamkrieg" unkorrekt: Es war ja nicht ein Krieg, es fanden mehrere Kriege in Folge statt. Und auch die Bezeichnung "dreißigjähriger Krieg", in Anspielung auf den europäischen Krieg 1618 bis 1648, stimmt nicht. Denn wenn dabei die beiden Jahreszahlen 1945 und 1975 als Anfang und Ende genannt werden, ist zumindest zu 1945 zu sagen, daß hier auch ein Krieg, der gegen die französische Kolonialmacht, zu Ende gegangen ist, und nicht nur einer angefangen hat. Und waren beide nicht im Grunde Stationen einer zusammenhängenden historischen Auseinandersetzung, bestehend aus den geschichtlichen Epochen der Kolonialisierung, Befreiung, US-Intervention, die so gesehen fast hundert Jahre gedauert hat? Die ganze Periode weist so etwas wie einen Zirkelcharakter auf, bei dem die jeweiligen "Eckdaten" 1945, 1954 und 1975 vergleichbare Situationen kennzeichnen: Jedesmal wurde die Hoffnung des Landes und seines Volkes auf einen durch Sieg errungenen Frieden enttäuscht. Nach 1945 hat Frankreich unter Bruch der Versprechungen De Gaulles aus dem Exil sofort versucht, seine Kolonie wieder zu erobern. Nach 1954 haben dann die USA, unter Bruch internationaler Vereinbarungen, interveniert, und auch nach 1975 wurde Ähnliches versucht: durch ein Handelsembargo, durch die Förderung imperialistischer Pekiinger Interessen in Südostasien, für die Pol Pot, vom Westen unterstützt, das effektive Werkzeug war. Nur: Diesmal ist kein neuer Krieg entstanden, und ein langandauernder Normalisierungsprozeß wurde möglich.

Der jetzt zum Gedenken mahnende doppelte Jahrestag (30 Jahre und 60 Jahre) hat in unseren Medien sehr wohl Erwähnung gefunden. Die Artikel und Sendungen haben, mit wenigen Variationen, wieder die stereotypen Formulierungen verwendet, die von der historischen Forschung längst widerlegt sind: "Bürgerkrieg", "Sieg des Nordens über den Süden", "Kommunistische Diktatur", und immer wieder die zynische Rede von einem Vietnam, das "den Krieg gewann und den Frieden verlor". Sie stammen aus der damaligen Kriegspropaganda des Westens, die seither in Spielfilmen zum Thema "Trauma Vietnam" schon seit Jahrzehnten dazu dient, die Niederlage in einen Sieg zu fiktionalisieren. Heute haben sie eine neue Funktion: Sie setzen jenen Prozeß in Gang, mit dem Kriege, je mehr sie in der Vergangenheit versinken, zu kaum mehr erklärungsbedürftigen "Katastrophen" stilisiert werden, welche die Menschheit überfallen. Und bald erübrigen sich die naheliegenden Fragen, die man an einen Krieg stellen muß: wer hat ihn angefangen, wer hat ihn warum gewonnen und wer hat ihn warum verloren? Wer diese Fragen nicht mehr stellt, oder besser, wenn diese Fragen nicht mehr öffentlich gestellt und beantwortet werden, dann hört auch das Nachdenken darüber auf, ob dieser oder jener Krieg "gerechtfertigt", vielleicht, als aufgezwungener Verteidigungskampf, ja ein "guter" war, und Kriege sind ja allesamt so grausam!

Wenn das Kriegserinnern, wie hierzulande anläßlich des 60. Jahrestags des "Endes" des 2. Weltkriegs, immer offener der Opfer "beider Seiten" zu gedenken versucht (alliierte Soldaten und Waffen-SS, Flüchtlinge in dieser und jener Richtung), wenn in der Lokalpresse meiner Stadt vor allem hervorgehoben wird, sie habe sich den Amerikanern "ohne Widerstand" ergeben und dies wie ein Widerstandsakt gegen die Naziherrschaft anmuten soll, dann hat dieser Prozeß bereits unser Gedächtnis kolonisiert, und zwar in bezug auf Ereignisse, die hierzulande stattfanden. Was Wunder, daß dies noch viel leichter passiert, wenn es sich um ein fernes kleines Land handelt, dessen Name als Symbol zwar irgendwann eine gewisse Rolle auch in der Innenpolitik "Deutschlands" gespielt hat, heute jedoch zu den geistigen Kinderkrankheiten einer Generation (der 68er) gezählt wird, die jetzt schon in Rente ist.

Wie aber verhält es sich in Vietnam selbst? Dort gilt das Erinnern, das Gedenken nicht einer Niederlage, sondern einem Sieg, der die "Geburt einer Nation" vollendete. In Vietnam finden also große Feiern statt, Paraden, Feste, Staatsakte, und es ist, trotz des Willens zur Eingliederung in die "neue globalisierte Welt", vom "Sieg" die Rede, und in Veteranentreffen auch vom "Heldentum", mit dem dieser ungleiche Kampf geführt und gewonnen wurde. Aber Fakt ist auch, daß ca. 80 % der Bevölkerung Vietnams keine persönlichen Erinnerungen mehr an diesen Krieg haben. Außerdem kann die Nachkriegszeit in Vietnam charakterisiert werden als eine Periode voller Enttäuschungen, in der den Menschen in diesem Land der Frieden und das Genießen der Früchte ihres Siegs nicht in dem Maß erlaubt wurde, wie sie sich dies erhofft hatten. Dies begann gleich nach 1975, als es den USA und dem Westen gelang, das Land komplett zu isolieren und in die Abhängigkeit von den sozialistischen Staaten zu treiben. Dann kamen die Aggressionen der Roten Khmer, die Vertreibung der Völkermörder und die "Bestrafung" dafür durch die Invasion chinesischer Truppen im Norden. Eine Zeitlang konnte man den Enthusiasmus und die Opferbereitschaft des Volkes aus dem Befreiungskampf noch in die Aufbauphase herüberretten, aber der Boykott und eigene Fehler verhinderten, daß es in Vietnam ein Aufbau-Wunder gab wie in der BRD nach 1950.

Aus der Heldenrolle mit weltgeschichtlicher Bedeutung fiel Vietnam zurück in die Situation eines rückständigen Entwicklungslandes, das zudem extrem schlimme Kriegsfolgen zu beseitigen hatte. Und das, was häufig übersehen wird, in dieser Kriegszeit nicht die ökonomische Entwicklung nehmen konnte, die seine Nachbarstaaten längst durchlaufen hatten. Dann brach das sozialistische System zusammen und die von dort fließende solidarische Hilfe blieb aus. Errungenschaften der "Revolution", die auf dieser Hilfe beruhten (z.B. das kostenlose Gesundheits- und Erziehungssystem), mußten aufgegeben werden. Der Anschluß an den Westen und die Integration in ein globales kapitalistisches Wirtschaftssystem waren jetzt ohne Alternative. Die aus dieser Einsicht konzipierte "Öffnungs"-Politik, 1986 initiiert, spülte zugleich westliches Konsum- und Konkurrenzdenken ins Land. Alte Traditionen und kulturelle Werte, die mit zum Sieg beigetragen hatten, wurden verdrängt, und neu entstehende, vor allem materielle Bedürfnisse konnten wegen des ausbleibenden Aufschwungs nicht befriedigt werden.

In der jüngeren Generation entstand ein Lebensgefühl, in dem sich Anspruchsdenken und Rückzug in die individuelle Sphäre mischten. Bei manchen, vor allem jungen Intellektuellen und Schriftstellern, äußerte sich das in einer zuweilen zynischen Ablehnung der revolutionären Tradition, in der Weigerung, die heroische Vergangenheit als ihre eigene zu betrachten. Damit provozierten sie nicht nur den erbitterten Widerstand der Älteren, die plötzlich ihre Verdienste in Frage gestellt sahen. Die Opfer, die das Leben der meisten von ihnen so sehr geprägt hatten, daß es für sie danach keine Perspektive mehr gab, sollten jetzt plötzlich nichts mehr gelten. Diese "jungen Wilden" brachten darüber hinaus sogar die existentielle Frage in die öffentliche Diskussion ein, ob dieser Krieg überhaupt sinnvoll war, ob die Opfer "etwas gebracht" haben, womit ein Tabu gebrochen wurde, das für das nationale Selbstverständnis der Vietnamesen immer noch von existentieller Bedeutung ist.

Diese Auseinandersetzungen, die wie ein Generationenkonflikt erscheinen, aber eigentlich ein grundsätzlicher Disput über nationale Identität sind, zeigen sich einem fremden Besucher in Vietnam nicht unmittelbar im Alltagsleben. Und sie werden auch in den Reden zum Jubiläum nicht auftauchen. Die Oberfläche, die sich derzeit einem Besucher (in den Städten) bietet, ist geprägt von einem Umbruch, der sich vor allem ökonomisch zeigt: Konsum- und Warenwerbung, Freizeitindustrie, unpolitisches Karrieredenken. Regierung und Partei tun sich schwer, angesichts noch immer verbreiteter Armut, angesichts von Analphabetismus, von Mängeln in der Bildungs- und Gesundheitsversorgung oder im Kampf gegen AIDS an die Solidarität der Menschen zu appellieren. Aber das Schisma ist noch nicht so stark, daß es die soziale Einheit und Ordnung ernsthaft gefährden würde. Und vor allem ist es nicht so strukturiert, wie es eine westliche Presse naiv behauptet bzw. gerne sähe: Hier kann nicht die Rede sein von einer Opposition der Bevölkerung gegen das Regime, sondern die Bruchstellen sind innerhalb von Partei und Regierungsapparat ebenso präsent wie in bestimmten Gruppen, Klassen und Institutionen. Dazu kommt, daß die offizielle Rhetorik, der öffentliche Disput noch immer geprägt sind vom hohen Ideal der nationalen Einheit, das auf der einen Seite eine manchmal zweifelhafte Behandlung bestimmter Konflikte in den Minderheiten-Regionen oder im kulturellen Bereich legitimieren muß. Auf der anderen Seite ist dieses Ideal aber immer noch für die Mehrheit der Bevölkerung die Basis ihres Selbstverständnisses als Volk und als Nation, hat infolgedessen immer noch das Potential, den Sinn für soziale Harmonie, der in einer langen kulturellen Tradition wurzelt, zu erhalten.

Denn zu lange haben die Kriege in Vietnam gedauert, zu sehr sind sie durch den Kampf ums Überleben sowohl des Einzelnen als auch des Landes zum identifikatorischen Bezugspunkt geworden, als daß diese Erfahrungen, auch als nicht mehr erlebte, sondern nur überlieferte, so schnell ihre Wirkungskraft verlieren könnten. Die Anstrengungen des Staates, das oft beschämende Schicksal der Veteranen zu mildern, aber auch die Privilegien, die aktive Kriegsteilnehmer genießen, all dies wird nicht in Frage gestellt, auch von denen nicht, die eine heroisierende Behandlung des Krieges in "offiziellen" historischen und künstlerischen Darstellungen ablehnen, sich gegen eine Kunst stellen, die alle Widersprüche verdrängt, sowohl das elende Verkommen im Dreck vieler Soldaten und Zivilisten, als auch die Schattenseiten eines abstrakten, übermenschlichen und damit tendenziell unmenschlichen "Heldentums".

Das Gedenken an diesen Krieg sollte für uns darin bestehen, daß wir die nivellierende Verharmlosung verhindern, und das ist nur durch genaues Erinnern möglich, aber nicht als Rehabilitation "soldatischer Tugenden", wie es bei uns geschah und geschieht. Das Gedenken an diesen Krieg, an Kriege überhaupt, muß stets ein entmystifizierendes sein, verbunden mit der Neugier auf die geschichtlichen Fakten, von denen mit dem zeitlichen Abstand immer mehr sich der Erkenntnis und dem Lernen aus der Geschichte darbieten, einem Lernen, das Stellung bezieht und einen Sieg der "richtigen Sache" auch nach 30 Jahren noch als einen solchen anerkennt.

Bild: Frühling Sommer 1975 von Quang Ho, Öl, 1975

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3/2003

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