Gedanken zum Erziehungswesen in Vietnam.
Für eine „intellektuelle Revolution”

Vo Nguyen Giap

In den vergangenen Jahren gab es durchaus Fortschritte auf dem Gebiet der Schulbildung und Berufsausbildung: Erhöhung der Mittel des Staates für die Bildung, Verbesserung der Infrastruktur in materieller und technischer Hinsicht. All dies sind notwendige Maßnahmen, um das Bildungsniveau der Bevölkerung zu heben.

Es bleiben allerdings noch viele Probleme zu lösen: Die Qualität des Unterrichts, sowohl in der Allgemeinbildung als auch in der universitären Ausbildung, läßt immer noch sehr zu wünschen übrig; Die Curricula sind überfrachtet, die Schulbücher veraltet; die Unterrichtsmethoden begünstigen eine passive Haltung bei Schülern und Studenten; Es werden weder ihre praktischen Fähigkeiten noch ihre Kreativität gefördert. Vor allem dabei wird nicht das Niveau erreicht, das unser Land in seiner aktuellen Entwicklungsphase braucht. Die Betrügereien bei den Examina sind allgemein üblich und man fördert eher formale Erfolge und nicht so sehr die Ernsthaftigkeit und Kontinuität des Lernens. Erst kürzlich hat die Aktion „Null Null”, welche das Ministerium für Bildung und Ausbildung propagiert hat, die Schwachpunkte ans Licht gebracht und auf drei Aspekte aufmerksam gemacht, in denen besondere Anstrengungen erforderlich sind: Verbesserung des allgemeinen Bildungsniveaus der gesamten Bevölkerung, Verbesserung der Berufsausbildung und eine bessere Förderung der besten Schüler und Studenten.

Allgemein gesehen ist unser Bildungs- und Ausbildungssystem zurückgeblieben im Vergleich mit denen anderer Länder, seien es solche der Region oder darüber hinaus.1 Obwohl Partei und Regierung sich bemühen, Lösungen für diese Probleme zu finden, sind die Meinungen darüber, welches die richtigen Maßnahmen sind, äußerst geteilt. Auf jeden Fall haben die Schwächen des Bildungssystems einen verheerenden Einfluß auf die wirtschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklung des Landes.

Und so ist Vietnam, zwanzig Jahre nach Einführung der Erneuerungspolitik und trotz einer Entwicklung von historischen Ausmaßen immer noch ein unterentwickeltes Land.2

Das Land braucht eine intellektuelle Revolution, wenn es den Herausforderungen gerecht werden will, welche die Globalisierung und die internationale Integration stellen. Vietnam ist das 150. Mitglied in der WTO und muß sich innerhalb dieser Organisation dem Wettkampf mit allen Ländern der Erde stellen. Die Schwäche und Rückständigkeit von Bildung und Ausbildung bremsen in gefährlichem Ausmaß eine nachhaltige Entwicklung.

Wir müssen die Erfahrungen des Auslandes genau untersuchen, daraus Lehren ziehen, diese auf die besondere Situation unseres Landes anwenden und aus ihnen konkrete Maßnahmen zur Reform ableiten.

Die Partei hat auf ihrem 10. Parteitag (2006 Red.) ihre Entschlossenheit erklärt, das Land aus der Unterentwicklung herauszuführen, Industrialisierung und Modernisierung voranzutreiben, die intellektuellen und kreativen Aktivitäten zu fördern und so dazu beizutragen, daß das Land im 21. Jahrhundert das Niveau der am meisten entwickelten Staaten erreicht. Um ein solches Ziel zu erreichen, muß das Land eine unabhängige und kreative Kraft entwickeln. Dazu braucht es ein Erziehungswesen, das genau auf die Bedürfnisse des Landes zugeschnitten ist und seinen Schülern und Studenten ein hohes wissenschaftliches und technisches Niveau vermittelt, was nur möglich ist, wenn deren Unabhängigkeit und intellektuelle Kreativität gefördert wird.

Damit in unserem Land ein Erziehungswesen aufgebaut werden kann, das nachhaltig qualitativ hochstehende Ergebnisse erzielt, muß es total und radikal reformiert werden. Zu diesem Ziel sollten talentierte Spezialisten hinzugezogen werden, die imstande sind, der Regierung zu helfen bei der ergebnisoffenen und objektiven Evaluierung der aktuellen Situation, unter genauer Bestimmung und Identifikation der Schwachpunkte. Nur so kann ein Programm zur Reform des nationalen Erziehungswesens erstellt werden. Dabei muß vor allem eine neue Art und Weise entwickelt werden, wie man an die Probleme herangeht, es muß ein neuer Blickwinkel eingenommen und ein neuer Geist entwickelt werden, um die Ziele, die Methoden, die Programme, die Verwaltungsreformen und die politischen Maßnahmen zu erarbeiten, die nötig sind, den Erfordernissen der Entwicklung und Modernisierung unseres Landes gerecht zu werden.

Um den Erfolg einer solchen Reform zu sichern, müssen ab sofort folgende Maßnahmen ergriffen werden:

1)
Die Kommission für nationale Bildung, welche die Aufgabe hat, die Regierung bei ihrer Politik und Strategie zu beraten, muß umgebildet und mit mehr Befugnissen versehen werden. Ihre Mitglieder, Wissenschaftler und Lehrkräfte, müssen im Hinblick auf ihre Erfahrung und ihre moralische Haltung ausgewählt werden. Die Regeln ihrer Arbeit müssen genau festgelegt werden und die freie Meinungsäußerung und den Respekt vor abweichenden Meinungen garantieren. Ihr Vorsitzender muß ein renommierter Forscher sein.

2)
In allen Disziplinen und Fächern müssen die Programme neu erarbeitet werden, sowohl für die allgemeine Schulbildung als auch für die höheren Ausbildungsstufen. Dazu müssen die Schulbücher und die universitären Kursunterlagen aktualisiert oder, wenn nötig, neu geschrieben werden.

3)
Das nationale Erziehungssystem muß neu strukturiert werden, unter Anwendung sinnvoller und realistischer Maßnahmen, mit dem Ziel, die Qualität der höheren Bildung zu verbessern. Ab 2020 müssen einige Universitäten von internationalem Niveau eingerichtet werden, das Netz der weiterbildenden Schulen erweitert werden und es muß dafür gesorgt werden, daß vietnamesische Hochschulabschlüsse international anerkannt werden.
Es darf dabei nie vergessen werden, daß Theorie und Praxis aufeinander abgestimmt werden müssen. Die Universitäten müssen enge Kontakte mit der Industrie aufbauen sowie mit der Wirtschaft und der außeruniversitären Forschung. Die Berufsausbildung ist Sache der Schulen: Diese müssen die Schüler dabei unterstützten, die Berufe zu wählen, die ihren Talenten und den Erfordernissen der Nation und den Realitäten des täglichen Lebens entsprechen.

4)
Es muß ein wirksames Programm entwickelt werden zur Anwerbung und Ausbildung von Lehrern, das allen Studenten je nach Talent offen steht und ihren Kenntnissen und ihrem Willen, sich der Bildungsarbeit zuzuwenden, entspricht. Die Erziehungsreform beruht auch darauf, daß Professoren und Lehrer von internationalem Niveau zur Verfügung stehen. Die Rektoren der Fachschulen und Universitäten müssen sich zuallererst dieser Aufgabe zuwenden und dabei, wenn es nötig ist, Lehrkräfte im Ruhestand hinzuziehen, wenn deren Niveau entsprechend hoch und ihre Gesundheit noch gut genug ist, oder Auslandsvietnamesen, Forscher und Lehrkräfte mit entsprechenden Talenten, die bereit wären, ins Land zurückzukehren, wenn man sie ruft.

5)
Es müssen die für die Bildung zur Verfügung stehenden Mittel erhöht und es muß ihre wirksame Anwendung kontrolliert werden. Die in diese Aufgabe investierten Mittel sind, auch wenn sie in den letzten Jahren erheblich angestiegen sind, immer noch sehr niedrig im Vergleich mit anderen Ländern der Region oder weltweit.3 Die Reform muß bis zum Jahr 2020 erfolgt sein, sie umfaßt große Veränderungen sowohl qualitativer als auch quantitativer Art. Es muß eine realistische Politik der Mobilisierung aller wirtschaftlichen und sozialen Organismen ausgearbeitet werden, für die die auszubildenden jungen Menschen bestimmt sind. Die investierten Mittel müssen effizient genutzt werden, vor allem zur Modernisierung der grundlegenden Infrastrukturen, etwa zur Einführung der Informatik in das Bildungswesen. Es muß auch generell eingeführt und verbessert werden das Lernen der englischen Sprache und der Informatik, die beide unverzichtbare Werkzeuge geworden sind überall in Forschung, Industrie und Wirtschaft.4

6)
Die Bildung muß allgemein verständlich sein, auf das Volk gerichtet und vom Volk ausgehend. Demokratie und Chancengleichheit sind wesentliche Kennzeichen des Sozialismus. Ein allgemeines Bildungs- und Gesundheitssystem müssen seine Symbole sein. Sie formen Körper und Geist unserer Landsleute. Deshalb müßten eigentlich die Studiengebühren in allen Institutionen der Grundausbildung, der weiterführenden Schulen und der Universitäten abgeschafft werden.5

Wenn man die jungen Menschen dazu ermutigen will, gut zu lernen, so bedeutet dies nicht, daß man das öffentliche Bildungssystem privatisieren, und auch nicht, daß man die Schule als einen kommerziellen Betrieb betrachten muß, etwa unter dem falschen Schlagwort der „Sozialisierung der Bildung”. Vom Kindergarten an muß vermieden werden, daß eine Erziehung „mit zwei Geschwindigkeiten” entsteht, eine für die Reichen und eine für die Armen.

***

Um zusammenzufassen: Eine komplette und totale Reform des nationalen Erziehungssystems – der allgemeinbildenden Schulen, der Universitäten und der Berufsschulen – ist unabdingbar für den Fortschritt des Landes auf dem Weg zur Modernisierung und internationalen Integration im neuen Jahrhundert, welches das der Informatik und der Globalisierung ist.

Anmerkungen:
1 Ein Bericht der Weltbank aus dem Jahre 2006 zeigt, daß nur 1,67 % der Vietnamesen nach dem Abitur weiter studieren, ein deutlich kleinerer Anteil als der, welcher in den Nachbarstaaten erreicht wird, ganz zu schweigen von den entwickelten Ländern. Unter der Bevölkerung im Alter von 20 bis 24 Jahren studieren in Vietnam nur 10 %, in China dagegen 15 %, in Thailand 41 % und in Südkorea 89 %, womit Vietnam das Schlußlicht darstellt unter den asiatischen Ländern.
2 Die UNO definiert als unterentwickelt Länder, deren jährliches BIP (Bruttoinlandsprodukt) pro Einwohner kleiner ist als 750 US-$. Die OECD legt diese Grenze bei 1000 US-$ fest. In Vietnam beträgt es bei etwa 600 US-$.
3 Aktuell betragen die in das Bildungswesen investierten Mittel, bezogen auf die Einwohner, in Vietnam nur ein Achtel der Mittel, die in Thailand für diesen Zweck eingesetzt werden, und weltweit nur ein Zwanzigstel.
4 Heutzutage stehen im Internet etwa 90 % aller wissenschaftlichen und technischen Informationen nur in englischer Sprache zu Verfügung.
5 Der Anteil an den Gebühren, der von der Bevölkerung aufgebracht werden muß, zu dem, den der Staat übernimmt, ist in Vietnam 50 %. In den Vereinigten Staaten sind es 20 %, in Frankreich 7 % und in China 12 %.

Quelle: Etudes vietnamiennes 2/2010 (176).
Giaps Aufsatz wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitung Sai Gon Giai Phong am 9. September 2009
Übersetzung Günter Giesenfeld

Wer sich wundert, daß der General Vo Nguyen Giap sich zu diesem Thema äußert, der sei daran erinnert, daß Giap ursprünglich Lehrer gewesen ist, ehe er im Jahre 1946 von Ho Chi Minh mit der Führung der neu gegründeten vietnamesischen Befreiungsarmee beauftragt wurde. Nach dem Krieg war er in veschiedenen Funkionen offiziell für die Regierung tätig, so ab 1988 Beauftragter der Partei für das Erziehungsesen. (Vgl. VNK 2/2004 und 3-4/2013). Nicht auf dem Gebiet der Erziehung, sondern vielmehr im Militärwesen war Giap ein „Dilettant”, was beweist, wie weit Amateure kommen können. Red.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2010

zurück zurückVNK Home