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Kinder wollen spielen!

Eltern sollen von ihren Kindern nicht
mehr Leistung um jeden Preis verlangen

Phuc Dien, Hoang Huong und Hoang Mai

Kinder, vor allem in den großen Städten, werden zum Lernen angehalten, für die Schule, für private Nachhilfekurse, und für Hausaufgaben. Keine Zeit für Spiele, vor allem für Spiele draußen in der frischen Luft. Bei vielen Eltern gilt immer noch das Ideal: Lernen und nichts sonst. Dagegen regt sich jetzt Widerstand.

"Laßt doch die Kinder sich frei vergnügen!" Das ist der provokative Titel einer Untersuchung, die Anfang 2007 von zwei Wissenschaftlern, Jérôme Singer und Dorothy G. Singer von der amerikanischen Universität Yale, in 11 Ländern durchgeführt wurde: USA, Argentinien, Brasilien, England, Frankreich, Türkei, Indien, Thailand, China, Südafrika und Vietnam.

Für die vietnamesische Erhebung wurde in Direktgesprächen von 1.650 Müttern mit Kindern unter 12 Jahren erkundet, welche Bedeutung für sie die "Freiheit zum Vergnügen" hat. Die meisten von ihnen (91 %) haben eine kaum überraschende Antwort gegeben: daß nämlich ihre Kinder den größten Teil ihrer Freizeit vor dem Fernseher verbringen. Dies trifft weltweit für 71 % aller Kinder dieses Alters zu. Nur 5 % der befragten Mütter sagten aus, daß ihre Kinder draußen im Freien spielen, Sport treiben oder die Umgebung erkunden.

Wünsche und Hindernisse

Die Realität zeigt, daß vietnamesische Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren starkem Druck seitens ihrer Eltern ausgesetzt sind, gut zu lernen. Zwei Drittel der Mütter gaben an, daß die wichtigste tägliche Aktivität ihrer Kinder das Lernen ist, und zwar nicht nur für die Schule in Form von Hausaufgaben. Die meisten Eltern schicken ihre Kinder darüber hinaus noch zu Privatkursen. Sieben von zehn Müttern gaben an, daß die eigene Kindheit, die sie erlebt haben mit Fangenspielen, Versteckspielen etc. verschwunden sei. Heutzutage ermuntern viele Eltern ihre Kinder, die neuen elektronischen Spiele zu benutzen, oder zumindest dazu, im Haus zu bleiben. Sie verhindern damit, daß die Kinder wirkliche Lebenserfahrungen machen, und sei es nur im Zusammensein mit Spielkameraden.

Die Untersuchung hat auch noch weitere interessante Ergebnisse zutage gebracht über die Mentalität und die Vorstellungen, die Eltern von der Kindheit ihrer Sprößlinge haben. Mehr als 80 % erkennen sehr wohl, daß ihre Kinder ohne frühe Kontakte mit anderen Menschen später in ihren sozialen Beziehungen Schwierigkeiten haben werden. Mehr als 70 % teilen auch die Auffassung, daß die ganz kleinen Kinder mit einem solchen Lebensrhythmus nicht glücklich und fröhlich sein können, ohne freies Spielen und ohne draußen herumzutoben. Sie wissen auch, daß dies alles ihnen hilft, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, ihren Geist zu trainieren, Gefühle zu lernen und körperliches Wohlbefinden zu erleben. Die meisten (97 %) äußern sich so: "Als Eltern müssen wir die Kindheit unserer Kinder schützen."

Indessen stoßen solche schönen Absichten oft auf den Widerstand der Kinder selbst. Auf die Frage: "Welches sind die Haupthindernisse gegen das freie Vergnügen der Kinder?" antworten drei Viertel: der Mangel an Sicherheit, die Hälfte sagt: Krankheiten. Außerdem sorgt sich ein Drittel der Mütter auch wegen der Verschmutzung von Luft und Straßen. Sehr tiefgreifende Widersprüche ergeben sich also, welche die Entscheidungen der Eltern in bezug auf die Vergnügungen ihrer Kinder beeinflussen.

Debatte über die Freiheit der Kinder

"Laßt doch die Kinder sich frei vergnügen!", das war auch das Thema eines Kolloquiums, das im August in Ho Chi Minh-Stadt stattfand. Zu der Konferenz kamen Experten aus den Sektoren Erziehung, Psychologie, aber auch Abgeordnete und Repräsentanten der Kinderorganisation Die Pioniere. Dabei stellte sich heraus, daß die Verringerung des Drucks der Schule auf die Kinder, die Entschärfung der harten Erziehungsregeln der Eltern und die Frage des freien Spielens ein brennendes Thema sind, dem sich die Gesellschaft zu stellen hat.

"Für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren hängt eine gute Entwicklung ab von einer angemessenen Ernährung, körperlicher Bewegung und der Möglichkeit zum Spielen", stellte Tran Dinh Tuan, Experte der Abteilung für Grunderziehung beim Ministerium für Erziehung und Ausbildung, in seinem auf der Konferenz vorgetragenen Bericht fest.

Der Vorsitzende der Vereinigung der Psychologen von Ho Chi Minh-Stadt erklärte lakonisch, daß "die Eltern im Umgang mit ihren Kindern egoistisch sind. Sie zwingen ihre Kinder, Schulen nach ihrer eigenen subjektiven Vorstellung zu besuchen, und nicht nach denen der Jugendlichen". Und er betonte die Bedeutung der Freizeit, denn "das Herumtoben und Spielen sind ein wichtiges Element im Leben von Kindern, sie sind die Kindheit selbst. Spielen und lernen, lernen und spielen, das ist die beste Form der Entwicklung."

Diese Ansicht teilte auch der Abgeordnete und Agronom Nguyen Lan Dung: "Unsere Kindheit haben wir während des Widerstandskrieges erlebt, mit großen Entbehrungen und unzähligen Schwierigkeiten", erklärte er, "neben den Studien haben wir uns vergnügt, die Natur entdeckt, im Freien gespielt. Unsere Lebenserfahrung haben wir uns in Lektionen des Vergnügens angeeignet, was viel zu unseren Leistungen heute beigetragen hat."

Um das Gleichgewicht zwischen Lernen und Freizeit herzustellen, soll die Abteilung für Grunderziehung in den Schulen selbst Zentren für die Erholungspausen schaffen. Viele Teilnehmer haben dieser Idee zugestimmt.

Im aktuellen Schuljahr bereits sind die Grundschulen, nach einer Aussage von Le Ngoc Diep vom Schulamt von Ho Chi Minh-Stadt, dazu ermuntert worden, solche Erholungszonen zu schaffen, Sportplätze zu bauen und Grünflächen anzulegen, damit die Schüler mit der Natur in Kontakt kommen können.

Es müssen aber auch die außerschulischen Möglichkeiten, Ausrüstungen und Infrastrukturen, geschaffen werden, was die finanziellen Ressourcen des Ministeriums für Erziehung übersteigen dürfte. Nach der einhelligen Auffassung der Tagungsteilnehmer müssen auch die Eltern, und ganz allgemein die Gesellschaft sich dafür einsetzen, daß möglichst umfassende und differenzierte Möglichkeiten der Freizeitgestaltung geschaffen werden.

Außer für die dazu nötigen Räume und Flächen sowie das Material durch die Gesellschaft müssen die Schulen, vor allem die Grundschulen, dafür sorgen, daß Zeit für sportliche und Freizeitaktivitäten zur Verfügung steht, um körperliche Aktivitäten zu ermöglichen. "Derzeit haben die Kinder im ersten Schuljahr nur eine Stunde Sport pro Woche", stellt Tran Dinh Thuan fest und weist darauf hin, daß es an den Schulen einen Mangel an Sportlehrern gibt und überhaupt keine Animateure für außerschulische Aktivitäten zur Verfügung stehen. Aber die Anstrengungen der Abteilung für Grunderziehung werden allein nicht ausreichen, die jungen Menschen freier zu machen, ist die allgemeine Ansicht. Es müssen auch bei den Eltern bestimmte Vorstellungen (Komplexe) über Sicherheit, Krankheitsgefahren oder Sauberkeit beseitigt werden - damit die Kinder sich frei vergnügen können.

Wie sieht die Wirklichkeit aus?

Der Schulhof der Grundschule Dong Da, im Stadteil Binh Thanh von Ho Chi Minh-Stadt gelegen, ist nur 250 m2 groß. Und doch wird er in jeder Pause von 380 Schülern erstürmt. Zusammengedrängt wie Sardinen in der Büchse, müssen sich die Schüler mit Spielen begnügen, die wenig Raum brauchen. "Manchmal müssen wir im Klassenzimmer spielen", beklagt sich Nguyen Thi Thu Huyen, Schülerin aus der zweiten Klasse.

Der Direktor der Schule, Doan Kim Dong, teilt die Klagen seiner Schüler. "Der Pausenhof ist zu klein, die Schüler können keine Spiele spielen, die mit viel Rennen und Bewegung verbunden sind. Oft sehe ich, wie viele Kinder herumstehen und warten müssen, bis eine Gruppe mit Seilspringen aufhört, damit sie selbst dann spielen können. Jedesmal, wenn es zur Pause klingelt, geht der Wettlauf los, wer zuerst spielen darf. Die armen Kinder.. Der Mangel an Sportunterricht ist ein großes Handicap für unsere Schüler und ein ständiger Anlaß für Konflikte, und die Lehrer müssen schlichten."

Das ganze Jahr über gibt es zahlreiche Gelegenheiten, außerschulische Aktivitäten zu organisieren: den Anfang des Schuljahres, das Mitteaugust-Fest, den Tag des Kindes … Aber mit ihren beschränkten Möglichkeiten kann die Dong Da-Schule nur sehr begrenzte Aktivitäten entwickeln, bei denen nur die Hälfte der Schüler jeder Klasse teilnehmen können. Also entsendet jede Klasse 15 Kinder zu diesem Fest, die anderen dürfen dann am nächsten Fest teilnehmen. "Der viel zu kleine Hof hat starke Beschränkungen zur Folge. Wir können es uns nicht erlauben, Sportclubs einzurichten oder Künstlergruppen zu schaffen, weil wir dafür keine Plätze oder Räume haben. Die Schule würde gern solche Angebote machen, aber es dürfen nur solche sein, die nicht viel Raum oder Aktivität entwickeln, also gibt es Kurse in Englisch oder Informatik. Kunst- oder Sportgruppen finden nicht statt."

Diese Situation trifft nicht nur auf die Dong Da-Schule zu, sondern ist weit verbreitet in der Metropole Ho Chi Minh-Stadt. In der Tran Quang Trai-Grundschule im 1. Stadtbezirk teilen sich 400 Schüler und 40 Lehrer einen Pausenhof von etwa 100 m2, ebenso geht es den Grundschulen in Cay Bang (4. Stadtbezirk) oder Huynh Man Dat (5. Stadtbezirk). Der Mangel an Raum im Freien macht in vielen Schulen einen Sportunterricht unmöglich. Als die Abteilung für Grunderziehung beim Ministerium für Erziehung und Ausbildung einen Dokumentarfilm drehen wollte, suchte sie nach einer Schule, in der die Maße des Hofs den gesetzlichen Vorgaben entsprechen (außer der Größe ist auch vorgeschrieben, daß der Hof mindesten 15 m vom Schulgebäude entfernt sein muß). In zwei Stadtbezirken des Zentrums gab es keine einzige Schule mit einem vorschriftsmäßigen Pausenhof.

Und zu Hause: Computer oder TV

Es gibt also kaum körperliche Aktivitäten in der Schule, und zu Hause auch nicht. Die meiste Freizeit wird am Computer oder vor dem Fernseher verbracht. Pham Thu Cuc, Mutter eines Schülers von 10 Jahren, wohnhaft im 4. Stadtbezirk, beklagt sich oft im Kreise ihrer Kolleginnen: "Mein 10jähriger Sohn ist dabei, ganz träge zu werden. Den ganzen Tag liest er Comics und seine Brille wird immer dicker!" wenn man sie aber fragt, ob sie ihm erlaube, nach draußen zu gehen, sagt sie: "Ja! Einmal pro Monat geht er mit mir zum Supermarkt. Mein Mann ist oft beruflich unterwegs, und ich muß allein mit den beiden Kleinen zurechtkommen, also habe ich nicht viel Zeit, mit ihnen hinauszugehen. Und auch im Supermarkt interessiert er sich nur für die Computerspiele."

Aber das "träge" Kind gibt eine andere Version zu Protokoll: "Meine Mutter erlaubt mir nicht, einfach so zum Spielen hinauszugehen. Jedesmal, wenn ich es doch tue, schimpft sie mit mir und fragt mich aus. Ich möchte raus, um mit Murmeln zu spielen oder Fußball, aber das verbietet sie mir…" Da er nun brav sein soll und will, bleibt der Junge in seinem Zimmer und liest Comics. "Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll", erklärt er. Als wir die Mutter mit diesen Aussagen konfrontieren, sagt sie sofort: "Mein Gott! Aber ich kann ihn doch nicht einfach rauslassen. Da ist es so gefährlich! Und ich habe auch Angst vor den anderen Eltern in der Nachbarschaft: wenn es Streit zwischen den Kindern gibt, kommen sie zu mir und machen mir Vorwürfe." Für sie steht fest: "Im Haus bleiben und dort spielen ist besser!"

Und geht es den Kindern in der Umgebung besser? Nguyen Duc Thiet, Vater einer 9jährigen Tochter, wohnt im Stadtteil Thu Duc und wartet vor der Schule auf seine Tochter: "Meine Tochter ist den ganzen Tag in der Schule. Sie kann dort lang genug spielen. Zu Hause macht sie ihre Hausaufgaben, schaut sich Comicfilme an oder spielt mit ihrer zweijährigen Schwester." Ob er ihr erlaube, nach draußen auf die Straße zu gehen? "Nein, das verbiete ich ihr! Meine Tochter ist raffiniert. Sie klettert auf Bäume wie ein Junge. In unserer Nachbarschaft wohnt ein Mädchen, das in ihre Klasse geht und dessen Eltern einen Garten mit einem Teich haben. Wenn sie dorthin geht, klettert sie überall herum und ist dauernd in Gefahr, herunterzufallen. Ich bin ihr Vater, wissen Sie, und da ist es doch nicht verwunderlich, daß ich auf sie aufpasse."

Was spielen gut versorgte Kinde in ihrer Freizeit? Vor dem Eingangstor der Grundschule von Dong Da stellen wir die Frage an Tran Nguyen Tan Phuc und Huynh Anh Tien aus Klasse 3C und an Dang Hoa Quan und Nguyen Thanh Phuong aus der Klasse 3B: "Was macht ihr zu Hause?"

Phuc, Quan und Phuong antworten einstimmig: "Ich spiele Computerspiele, wenn ich freie Zeit habe." Nur Tien sagt: "Ich helfe meiner Großmutter, die Kaffee verkauft". So ist zu resümieren: Die elektronischen Spiele, die Comics und das Fernsehen sind zu den wichtigsten Freizeitbeschäftigungen der Kinder geworden. Eine traurige Realität in allen großen Städten des Landes.

Quelle Courrier du Vietnam, 30. September 2007, Übersetzung Günter Giesenfeld

veröffentlicht im Vietnam Kurier 3-4/2007

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