Realpolitik in Sachen Agent Orange

Geoffrey Cain und Joshua Kurlantzick (Auszüge)

Jahrzehnte nach den verheerenden Sprühaktionen der US-Army in Vietnam ist das Gift immer noch eine Gefahr für die Bevölkerung. Während die US-Regierung darauf besteht, daß es nicht genügend Beweise für einen direkten Zusammenhang zwischen den Entlaubungsaktionen und irgendwelchen Krankheiten in Vietnam gebe, schätzt die Regierung in Hanoi, daß bis zu 400.000 Vietnamesen damals an der Wirkung des Dioxins gestorben sind und daß etwa 500.000 Kinder heute noch mit Behinderungen geboren werden, durch Übertragung mit dem Erbgut, durch die Präsenz des Giftes in Wasser und Erdböden.

Bis vor kurzem waren die anhaltenden Wirkungen von Agent Orange nichts, worüber die vietnamesische Regierung allzu oft redete. Nach der Normalisierung der Beziehungen mit Washington im Jahre 1995 waren günstige Handelsvereinbarungen mit den USA und die Mitgliedschaft in globalen Körperschaften wie der WTO Hanois alles überragende Ziele. Unerfreuliche Probleme wie Agent Orange zur Sprache zu bringen war kontraproduktiv für diese Strategie. Aber als diese Ziele wenige Jahre später erreicht waren, ist die Regierung nun offensiver in ihren Ansprüchen. „Vietnam fühlt sich sicherer in Bezug auf den Stand der Beziehungen mit den USA, und kann nunmehr auf einige der mit dem Krieg verbundene Probleme zurückkommen.” sagt Edmund Malesky, ein Vietnamexperte der Universität von Kalifornien, San Diego. Und bei jährlichen Treffen von Vertretern der beiden Regierungen in einer Agent Orange-Arbeitsgruppe im letzten September erklärte der vietnamesische Minister für natürliche Ressourcen und Umwelt, Nguyen Xuan Cuong, die US-amerikanische Hilfe in Sachen Agent Orange sei „weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben”.

Trotz dieses Drucks aus Vietnam hat die US-Regierung unverändert jegliche Verantwortung zurückgewiesen. Die zum Teil deswegen, weil es für sie keinerlei gesetzliche Grundlage gibt für eine Verpflichtung zur Entschädigung. Versuche von Klägern, Schadensersatz vor amerikanischen Gerichten zu erstreiten, sind wiederholt gescheitert; zudem sind internationale Verträge, die Schäden an der Umwelt und Gesundheit betreffen, schwach und weitgehend nicht durchsetzbar. Und obwohl es immer mehr medizinische Beweise gibt, die den Kontakt mit Dioxin im Zusammenhang mit einer immer größer werdenden Zahl von Krankheiten erscheinen lassen, ist der Beweis bei Einzelfällen in Vietnam nahezu unmöglich. Aber der wichtigste Grund, warum die USA es ablehnen, die Verantwortung für die Folgen von Agent Orange in Vietnam anzuerkennen, ist, daß dies einen Präzedenzfall schaffen würde: Wenn wir das tun, so sagen Verteidigungsexperten immer wieder, dann würde Washington sofort zum Ziel von Forderungen aus Korea, den Philippinen, dem Irak und allen anderen Ländern, die von Aktionen der Streitkräfte der USA betroffen sind oder waren.

Aber trotz aller dieser Schwierigkeiten sollte Washington finanzielle Hilfe leisten für den Schaden, der durch Agent Orange in Vietnam entstanden ist, denn in diesem Falle stimmen unsere moralischen Verpflichtungen mit unseren strategischen Interessen überein. Während viele Amerikaner Vietnam immer noch durch die Brille des Krieges sehen, wie in unendlich vielen Büchern und Filmen, sind die einfachen vietnamesischen Bürger schon weiter. „Die Vergangenheit ist vorbei”, sagt Tien Nam Tran, Professor für internationale Beziehungen an der vietnamesischen Nationaluniversität. „Vietnamesen sehen die Amerikaner nicht mehr als Gegner des letzten Krieges.” Mehr noch: Vietnam ist zum pro-amerikanischsten Land geworden in Asien. Mit seiner Nähe zu und seiner historischen Feindschaft gegenüber China bietet es die Voraussetzungen, zu einem Schlüsselverbündeten in einer der gefährlichsten Gegenden der Welt zu werden. Denn während China in ganz Asien immer mehr Verbündete für sich gewinnt, fehlen den USA solche Freunde dringend. Das ist ein Argument, das auch die härtesten Falken im Bereich der nationalen Sicherheit bedenken sollten.

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Jahrelang galt der Zusammenhang zwischen Agent Orange und bestimmten Krankheiten als nicht schlüssig. Aber in den letzten Jahrzehnten haben medizinische Forschungen, von denen die mei­sten an amerikanischen Veteranen des Vietnamkriegs durchgeführt wurden, gezeigt, daß das Dioxin ein Risikofaktor ist bei einer immer größeren Zahl von Krankheiten. Die Liste umfaßt Parkinson, die Hodgkinsche Krankheit1, Herzdurchblutungsstörungen, Leukämie, Prostatakrebs und (bei den Kindern der Betroffenen) Geburtsfehler wie spina bifida2, Klumpfuß. Und es gibt auch kaum Zwiuefel daran, daß viele Vietnamesen gefährliche Mengen von Gift in ihren Körpern tragen. Eine Untersuchung bei mehr als 3.000 Vietnamesen, die in dem American Journal of Public Health veröffentlicht wurde, ergab weit höhere Belastungen durch Dioxin im Blut als bei Menschen, die in nicht besprühten Zonen lebten.

Aber genau herauszufinden wer in Vietnam einer wie großen Belastung durch Dioxin ausgesetzt war, ist extrem schwierig. Obwohl es dazu einige Aufzeichnungen gibt, die die Armee besitzt, weiß niemand genau, wieviel Agent Orange in der verschiedenen Landesteilen versprüht wurde. Und in einer umfassenden Studie des wissenschaftlichen Dienstes des Kongresses heißt es: „Weder die südvietnamesischen noch die nordvietnamesischen Regierungen haben Aufzeichnungen über Truppenbewegungen geführt.”, was es sehr schwer macht, zu beweisen, wer in den besprühten Gebieten gekämpft hat.

Sogar offizielle Vertreter des vietnamesischen Gesundheitswesens geben zu, daß sie nicht mit letzter Gewißheit sagen können, welche Behinderungen genau von dem Dioxin herrühren. „Wir haben nur sehr beschränkte Mittel, und wir können nicht sicher sein, wer ein Opfer ist und wer nicht”, sagt Phan Thanh Tien, der für die Sektion Da Nang der VAVA arbeitet. „Wenn eine Familie mit einem behinderten Kind zu uns kommt, dann müssen wir fragen: ‚Wo habt ihr gelebt?’ Wenn sie in einem Gebiet gelebt haben, das intensiv besprüht wurde, oder wo das Wasser kontaminiert war, dann gehen wir davon aus, daß sie Agent Orange-Opfer sind.” In der Tat haben nur wenige Organisationen in Vietnam das Geld, einen sicheren Text auf Dioxin zu machen. (Es kostet rund 1.000 US-$, um die Dioxinbelastung bei einer Person zu messen, und das Pro-Kopf-Einkommen in Vietnam beträgt nur 2.600 US-$ jährlich). Auch innenpolitische Aspekte spielen eine Rolle. Wie Phan Thanh Tien eingestehen muß, erhalten Familien von Veteranen, die auf der Seite Nordvietnams im Krieg gekämpft haben, eine höhere Entschädigung für durch Agent Orange verursachte Krankheiten als andere.

Selbst wenn Vietnam genau bestimmen könnte, wer nachweislich von Agent Orange betroffen ist, so würde das Pentagon immer noch beanstanden, daß eine Anerkennung der Verantwortung und die Zahlung von Hilfe an Opfer einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde. Die US-Regierung würde sich der Forderung gegenübersehen, ähnliche Zahlungen an alle zu leisten, die Schadensersatz fordern für Gesundheitsschäden aus unseren Kriegsaktivitäten – vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – überall von der koreanischen Halbinsel bis in Afghanistan. Kein Wunder, daß unter der Clinton-Administration, in der Zeit, in der die Beziehungen zu Vietnam wieder hergestellt wurden, der Unterstaatssekretär für Verteidigung, Gary West, bei einem Besuch in Vietnam seinen Gastgebern klar machte, daß die USA keinerlei Verantwortung für die Konsequenzen der Sprühaktionen übernehmen könnten. Während der Bush-Administration brachten Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und der Sekretär der Veterans Affairs Jim Nicholson dieselbe Nachricht nach Hanoi.

Die Position der Regierung ist verständlich, aber trotzdem von eklatanter Widersprüchlichkeit. Auf der einen Seite beharrt Washington darauf, daß es keine Entschädigung bezahlen könne, weil es nur ungenügende Beweise dafür gebe, daß die Krankheiten, unter denen die Vietnamesen leiden, durch Agent Orange verursacht seien. Auf der anderen Seite ist gesetzlich festgelegt, daß jeder amerikanische Veteran, der im Krieg den Fuß auf vietnamesischen Boden gesetzt hat und der – oder dessen Nachkommen – an einer von vielen Krankheiten leidet, davon auszugehen ist, daß dies durch Agent Orange verursacht ist, und daß er infolgedessen ein Recht auf kostenlose Behandlung und andere Privilegien hat. Da kann man die Vietnamesen verstehen, wenn sie die US-Regierung nicht ernst nehmen und davon ausgehen, daß deren strikte Weigerung, die Verantwortung zu übernehmen, kaum wissenschaftlich begründet ist.

(Es folgt eine ausführliche Darstellung der neuesten Tendenzen im Verhältnis USA-Vietnam: die Entwicklung „freundschaftlicher” Beziehungen aus strategischem Interesse - China.)

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Es fällt schwer, sich vorzustellen, daß diese neuen vorteilhaften Beziehungen voll zum Tragen kommen können, ohne daß die USA mehr tun müssen in Sachen Agent Orange-Erbe.

Washington hat bereits Anstalten getroffen, die Grundlagen einer potentiellen Agent Orange-Lösung zu entwerfen. Im Nachbarland Laos, das im Vietnamkrieg heftig bombardiert worden ist, haben die USA bereits einen bescheidenen finanziellen Beitrag geleistet, der zur Entfernung von Blindgängern dienen soll – ein Projekt, bei dem eine Übernahme von Verantwortung für amerikanische Aktionen sorgfältig vermieden wird. Aber auch dies hat bereits dazu beigetragen, das Bild der Vereinigten Staaten in diesem Land wieder neu aufzubauen. Und in Vietnam hat bereits die George W. Bush-Administration einen ersten Schritt unternommen in Richtung einer Agent Orange-Vereinbarung, indem sie einen Anfangsbetrag von 3 Mio, US-$ bereitstellte zur Entfernung verschütteten Dioxins in früheren US-Militärbasen in Vietnam sowie als Hilfe für die in deren Nähe wohnende Bevölkerung.

Der nächste Schritt wird sein, die aktuellen Opfer der Agent Orange-Versprühungen zu unterstützen, Washington wird diese Hilfe nicht selbst leisten wollen. Begründet wird das mit den Erfahrungen der Japaner, als sie die Lagerstätten von chemischen Waffen in China säubern helfen wollten und sich in lokale politische Streitigkeiten und Korruption verstrickt hatten. Vor allem wegen der unweigerlichen Schwierigkeit zu bestimmen, wer ein Opfer von Agent Orange ist und wer nicht, würden die USA eine solche direkte Hilfe auf keinen Fall zu leisten versuchen. Dagegen erscheint es sinnvoller, eine jährliche Hilfeleistung in Form einer bestimmten Summe, genannt vielleicht humanitäre Hilfe – in Vermeidung jeglicher Anspielung auf Agent Orange – ausgezahlt direkt an Hanoi, wo dann entschieden werden soll, in welcher Weise diese Hilfe den Agent Orange-Opfer zukommen soll.

Japaner bergen eine Granate, die chemische Gifte enthält. Die abziehenden japanischen Truppen hinterließen am Ende des 2. Weltkriegs Millionen von chemischen Waffen in Nordostchina. Um zu verhindern, daß sie den Alliierten in die Hände fallen, wurden sie in Feldern, Seen und Flüssen vergraben. Die Folge war eine lang andauernde Gesundheitskatastrophe, der mindestens 2.000 Menschen zum Opfer fielen. Erst 1997 kam es zu einer Einigung zwischen Japan und China. Tokio versprach, mit einer Milliarden kostenden Säuberungsaktion "eine tiefe Wunde in unseren Herzen zu heilen".

Eine solche Lösung wird manchen Kreisen in der vietnamesischen Regierung nicht gefallen, in der die Meinungen darüber geteilt sind, wie aggressiv man das Thema angehen soll. Sprecher des Außenministeriums, das damit befaßt ist, die strategisch Partnerschaft aufzubauen, äußern sich privat sehr skeptisch darüber, das Agent Orange-Problem in diesen Prozeß einzubringen. Vertreter landwirtschaftlicher Interessen gehen sogar soweit, zu warnen, daß ein zu starkes Betonen der Dioxingefahr eine Gefahr für den Ruf vietnamesischer landwirtschaftlicher Produkte mit sich bringen könnte. Inzwischen scheinen, nach Aussagen verschiedener Spezialisten, konservative Kreise in der Kommunistischen Partei, die zu den Kritikern der neuen freundschaftlichen Beziehungen zu den USA gehören, in der Agent Orange-Frage den größtmöglichen Druck machen zu wollen. Diese werden sich einem Kompromiß widersetzen, in dem die US-Regierung nicht ein Schuldgeständnis ablegt. Trotzdem wird Hanoi, pragmatisch wie es immer war und in dem Bemühen, den Krieg zu überwinden, eine solche Vereinbarung wohl akzeptieren.

Die größeren Probleme dabei dürften in den USA selbst liegen. Jeder Versuch der Obama-Administration, den Agent Orange-Opfern in Vietnam zu helfen, wird mit großer Sicherheit von den Gegnern des Präsidenten ausgeschlachtet werden, um alte, aus der Kriegsära stammende politische und kulturelle Ressentiments wieder aufleben zu lassen, die, im Gegensatz zu Vietnam, in den USA immer noch sehr verbreitet sind. Aber Obama wird erfahren, daß er in dieser Frage auf der anderen Seite des politischen Spektrums Verbündete hat, die seinen strategischen Einsatz verstehen. Einer von ihnen könnte John McCain sein, der inzwischen zum Schlüssel-Architekten der Versöhnung mit Vietnam geworden ist. „Wir müssen weiterhin dieses Problem [Agent Orange] ansprechen, sowohl die Entschädigung der Opfer als auch die Säuberung der Gebiete, die unzweifelhaft kontaminiert sind”, erklärte der Senator aus Arizona bei einem Besuch in Vietnam im April 2008.

In diesem Herbst wird Obama wahrscheinlich selbst Vietnam besuchen, um am ASEAN-Gipfel teilzunehmen. Wenn seine vietnamesischen Gastgeber ihn – was fast sicher ist – auf Agent Orange ansprechen, werden sie genau hinhören, was er antworten wird. Er hat die Wahl: Er kann weiterhin die gegenwärtige Politik vertreten und es dabei bewenden lassen. Er kann aber auch die Gelegenheit ergreifen und humanitäre Hilfe für die Opfer von Agent Orange anbieten – dies würde eine scharfe Umkehr bedeuten, eine bittere Erbschaft zur Sprache bringen, genau in dem Moment, in dem eine lebendige strategische Allianz für die Zukunft geschmiedet wird.

Quelle: Agent of Influence. The realpolitik case for compensating Vietnam.
In: Washington Monthly, Januar-Februar 2010,
übersetzt von Günter Giesenfeld

Dieser Artikel ist Teil eines „Special Reports” dieser Zeitschrift mit dem Titel: „The Agent Orange Boomerang. A dark legacy of the Vietnam War is creating a whole new set of problems.” Red.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2010

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