Immer noch unsere Sache.

Rede zum Jubiläum der Freundschaftsgesellschaft

Günter Giesenfeld

Die Vietnamesen hatten es bemerkt, wir nicht: 2006 war die Freundschaftsgesellschaft 31 Jahre alt geworden, der Viet Nam Kurier erschien im 30. Jahrgang. Aber es macht Sinn, vor allem den letzteren der beiden Jahrestage zu feiern.

Denn der Viet Nam Kurier ist nicht nur die wichtigste Aktivität der Freundschaftsgesellschaft und ihr Aushängeschild, sondern er kennzeichnet auch den besonderen Charakter unserer Arbeit, den ich mal mit als tendenziell wissenschaftlich kennzeichnen will. Darunter verstehen wir eigentlich etwas Selbstverständliches: Die solidarische und kritische Berichterstattung über die aktuellen Entwicklungen in Vietnam. Dazu gehört (und das ist der "wissenschaftliche" Charakter) die Einbeziehung der Geschichte, ohne deren Verständnis und immer wieder neue Erörterung die Gegenwart nicht erfaßt werden kann sowie die differenzierte Formulierung und Belegung der Argumente.

In der letzten Zeit hat diese Sicht sogar noch an Aktualität gewonnen. Allenthalben werden Versuche gemacht, die Geschichte Vietnams neu zu interpretieren, was ja an sich nützlich und notwendig ist. Aber dabei haben bestimmte Kreise in den USA und Europa (und vielleicht auch in Vietnam) nicht die Absicht, die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit besser zu verstehen, sondern sie wollen sie umdeuten, und zwar in einem Sinn, der die historischen Tatsachen leugnen oder verfälschen will. Mit anderen Worten: Der Vietnamkrieg soll zwar nicht in einen Sieg der USA umgedeutet werden (obwohl auch solche Versuche zu verzeichnen sind, nicht nur in Action-Filmen), aber die Bedeutung des Sieges über die Kolonialmacht und die Invasion der US-amerikanischen Truppen wird systematisch kleingeredet. Dies ist dann vielleicht sinnvoll, wenn einem allzu naiven Bild des heldenhaften Kämpfers oder einer unkritischen Heroisierung des Befreiungskrieges entgegengetreten werden soll. Aber eindeutig die Grenze zur Diffamierung überschreiten Versuche, den Befreiungskampf als Ausfluß einer besonderen, den Vietnamesen als Nationaltugend zugeschriebenen Kriegslüsternheit zu diffamieren. Ich nenne als Beispiel nur den Titel einer (sonst durchaus seriösen) Biographie von Vo Nguyen Giap, die schon 1999 in den USA erschienen ist: "Victory at any cost" (von Cecil B. Currey, Dallas/Virginia 1999) - das "um jeden Preis" wird neuerdings (vielleicht ohne daß dieser spezielle Autor sich dessen bewußt war) verstanden und interpretiert als "um den Preis massenhafter Verluste an Menschenleben, die bewußt geopfert werden". Die Vorstellung, einst der chinesischen Revolution unterstellt, man schicke die Soldaten zu Zehntausenden in den sicheren Tod, um eines natürlich als fragwürdig unterstellten Sieges des "Kommunismus" willen, wird inzwischen mehr oder weniger deutlich evoziert, ganz so als habe das vietnamesische Volk diesen Krieg überhaupt vermeiden können. Denn jene von den antikommunistischen Geschichtsklitterern unterstellte Alternative hätte die schlichte Unterwerfung unter die amerikanische Besatzung bedeutet, was bekannte Dissidenten in den USA auch offen so formulieren.

Da hierzulande in den herrschenden Medien, vieler inzwischen auch in den USA erschienener wissenschaftlicher Studien zum Trotz, immer noch die alten Klischees wiedergekäut werden, sehen wir uns gezwungen, solchen oberflächlichen Berichten entgegenzutreten, wie sie von Reportern wie Robert Hetkämper in der ARD immer noch verbreitet werden - obwohl wir nicht beanspruchen können und wollen, ein wissenschaftliches Forschungsinstitut zu sein. Wir übernehmen damit notgedrungen die Aufgabe, Fragen nachzugehen, die sich die öffentlichen bestehenden Institutionen (mit ganz wenigen Ausnahmen) nicht stellen.

"Vietnam bleibt unsere Sache"

Bei meiner Vorbereitung für diese kleine Würdigung unserer Arbeit anläßlich des Jubiläums bin ich auf die Rede gestoßen, die ich am 09. 06. 2001 anläßlich des 25. Jahrestages unserer Gründung gehalten habe. Sie erscheint mir heute als ein Versuch, diese im Prinzip wissenschaftliche, aber von Sympathie und Solidarität getragene Sicht sowohl auf Vietnam, den Bezugspunkt unserer Arbeit, als auch auf unsere eigene Entwicklung und die Grundmotive unseres Handelns anzuwenden. Der Ausgangspunkt war unser alter Slogan "Vietnam bleibt unsere Sache", der mir schon damals etwas überholt erschienen war, ich hatte ihn "hausbacken" genannt und darüber laut nachgedacht, warum er uns anachronistisch erscheint.

Dafür kann es eigentlich nur zwei Gründe geben: "Entweder ist damit ein wirklicher Anachronismus gemeint, eine veraltete und überholte Denkweise oder Perspektive, oder es haben sich nur die Koordinaten verändert, d. h. das geistige, politische und kulturelle Umfeld hat sich derart gewandelt, die Maßstäbe für die Richtigkeit solcher politischer Aktivitäten haben sich so verschoben, daß sie nicht mehr ‚zeitgemäß' sind.

Und da gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder man hält die erwähnten Veränderungen der politischen Stimmungslage für richtig und angemessen, dann hat das Festhalten am Alten tatsächlich wenig Berechtigung. Oder aber man empfindet - und ich verhehle nicht, daß dies meine Position ist - diese Veränderungen des Zeitgeistes als eher negativ, als einen ‚Fortschritt' in die falsche Richtung. Dann ist die Verteidigung des aus dieser Sicht nach wie vor Richtigen sinnvoll und notwendig."

Wenn ich heute über diese eigentlich klar klingenden Worte nachdenke, so erscheinen sie mir doch ein wenig zu "moralisch", zu wenig analytisch. Deswegen muß ich sie ein wenig ergänzen:

    1. Es gibt keine "natürliche" Legitimation dafür, sich in jedem Fall und immer gegen den Zeitgeist zu stellen.

    2. In diesem Zeitgeist oder "Perspektivwechsel", wie man heute sagt, diesem Stimmungswechsel, dieser Veränderung von wirtschaftlichen, politischen, philosophischen, kurz geistigen Koordinaten können sich Erkenntnisse artikulieren, unangenehme Erkenntnisse, die zu berücksichtigen für die Analyse notwendig ist.

An zwei Beispielen kann man solche Veränderungen im Überbau - dessen Substrat in der Basis hier nicht nachgegangen werden kann - deutlich machen: An der Revaluierung, um nicht zu sagen Rehabilitierung des Kolonialismus in Frankreich (Streit um Schulbücher, die die französische Kolonialmacht kritisch darstellen) und an Untersuchungen neueren Datums (etwa das Buch von Walden Bello2), in denen die Politik der USA im Vietnamkrieg aus neu erschlossenen Quellen radikal in Frage gestellt wird. Da kann man etwa lesen, daß sich die Regierungen des Westens seit Mitte der 1980er Jahre "das politische Ziel gesetzt hatten, die Länder des Südens in den ökonomischen Bankrott zu treiben, als Rache dafür, daß sie in den 70er Jahren ihre Ansprüche auf Souveränität und Unabhängigkeit durch die Befreiungsbewegungen artikuliert haben."

Der Autor präzisiert dies historisch: In der Zeit des Kampfs gegen den Kommunismus sei es noch unerwünscht gewesen, das Risiko von sozialen Explosionen in der Dritten Welt einzugehen1, weswegen man den Kampf gegen den Hunger bis zu einem gewissen Grad unterstützt habe durch die Gewährung von Krediten und wirtschaftlichen Begünstigungsklauseln. Aber mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan sei die Dritte Welt nicht mehr als Partner betrachtet worden, den man an sich binden will, sondern als Feind, den es zu unterwerfen gilt.

Ich kann heute noch ein weiteres Beispiel anführen, ein Buch, das zwar schon 1981 erschienen ist, aber jetzt erst mit einer Neuauflage die Beachtung erfährt, die es verdient, mit dem sprechenden Titel Self-Destruction3. Das Buch ist vor allem deshalb interessant, weil es schon vor mehr als 25 Jahren auf grundsätzliche Fehler in der US-amerikanischen Militärführung hinwies, die heute, angesichts des Desasters im Irak, ganz aktuell klingen. "Cincinnatus" war ein Insider, deshalb das Pseudonym. Seine Kritik ist ganz intern: Obwohl er schon im Vorwort darauf hinweist: "Der Vietnamkonflikt war, wie alle Kriege, natürlich ein politischer Krieg", stellt er die politischen Prämissen des Vietnamkriegs nicht in Frage. Seine Kritik gilt der unglaublichen Ignoranz, mit der er von der US-amerikanischen Führung unternommen wurde. Darin sieht er den Grund für die Niederlage, und nicht, wie immer behauptet wurde und wird, darin, daß die Regierungen die Militärs durch politische Vorgaben am Siegen gehindert hätten.

Diese Meinung wird noch heute von General Westmoreland vertreten, der geschrieben hat: "Es ist beklagenswert, daß so viele Leute so viel unternommen haben, um eine Politik zu unterlaufen, die von sechs Präsidenten der USA vertreten und von neun Kongreßlegislaturperioden unterstützt wurde." - Das sei, so Cincinnatus, "die berühmte Dolchstoßlegende", die in volkstümlichen Medienberichten zu Jahrestagen immer wieder neu gesponnen wird. Das Gegenteil sei richtig: "Trotz einer grenzenlosen Versorgung der Army mit Flugzeugen und Artillerie, Napalm und Nachtsichtgeräten, jeglichen technischen Neuerungen, kurz unbegrenzten finanziellen Mitteln, die alle Verteidigungshaushalte immer mehr aufblähten, war die reichste Nation der Welt nicht imstande, eine militärische Lösung zu erzwingen bei einem Partner, der zu den ärmsten Ländern der Welt zählt. Die Kriegspläne, ausgearbeitet von den höchsten Militärstellen, folgten in immer kürzeren Zeitabständen aufeinander, aber das Militär war in jedem Fall unfähig, sie auszuführen. Insgesamt gesehen deckte der Vietnamkrieg ein schockierend niedriges Niveau, eine unglaubliche Ignoranz und Unfähigkeit der militärischen Führung auf."

Der Fall ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung geschichtlicher Analyse. Die Möglichkeit, die immer besteht und immer genutzt wird, Geschichte umzudeuten aus gegenwärtigen Interessen heraus, ruft die Verpflichtung hervor, ihren wirklichen Ablauf zu rekonstruieren, und dabei helfen ältere und viele neuere Veröffentlichungen, die von den Entscheidungsträgern im Pentagon offenbar nie zur Kenntnis genommen wurden. Wer sich die Geschichte und die Deutungshoheit der Geschichte aus der Hand nehmen läßt, verliert die geistige Kontrolle über die Gegenwart.

Wo stehen wir heute?

Schon damals, vor fünf Jahren, haben wir versucht, unsere Arbeit, ihre Legitimation und ihre Notwendigkeit, also ihren Nutzen in den gegenwärtigen Trends und Tendenzen zu lokalisieren: "Aus dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder ist eine interdependente, auf der Basis von Marktgesetzen beruhende Welt hervorgegangen, in der Verhaltensweisen eines mittelalterlich anmutenden Raubritter-Kapitalismus immer üblicher werden. Am Ende seiner Präsidentschaft konnte Reagan mit der ihm eigenen Naivität und einem Zynismus, zu dem sein individueller Geist gar nicht fähig war, feststellen: ‚Wir wollten eine Nation verändern und nun haben wir die Welt verändert'. Es war damit eine Veränderung gemeint, die Serge Halimi (in Le Monde diplomatique) als "Rekolonisierung der Welt" bezeichnet, und die seither nicht ohne Auswirkungen auch auf die Länder des Nordens bleibt: Eindämmung der Gewerkschaftsbewegung, Abbau der sozialen Systeme und vor allem die "Abschottung" gegenüber einem armen Süden, der für sich einen Anteil am verschwenderischen Reichtum einfordert.

Ein solches Bild charakterisiert die allgemeine Situation als Hintergrundschema und muß durch die Feststellung relativiert werden, daß es weder einen wie hier beschriebenen einheitlich handelnden Norden noch einen ähnlich einheitlich leidenden Süden gibt. Aber das Modell verweist auf Grundgesetze politischer Handlungsmotivationen, die sonst nur unzulänglich mit moralischen Kriterien erfaßt werden könnten.

In diesem Koordinatensystem bewegen sich sowohl der derzeitige Rückblick auf den Krieg als auch die Parameter eines veröffentlichten Diskurses über das neue Vietnam. Sie sind gekennzeichnet durch Klischees, die ein adäquates, unvoreingenommenes Verständnis erschweren, was sie wohl auch sollen:

Im Zentrum steht das Klischee von Vietnams vorgeblichem Weg in den Kapitalismus. Wie alle Klischees hat es einen Kern von Wahrheit, oder besser: scheint einen äußeren Schein zutreffend zu bezeichnen, und enthält doch zugleich schon einen parteilichen Kommentar. Es ist deshalb unproduktiv für ein reales Verständnis (im Sinne sowohl von verstehen, als auch von Verständnis haben), weil es den Blick auf die tatsächlichen Schwierigkeiten und Fehler sozusagen "kurzschließt" mit einer eingängigen Interpretation, die weiteres Nachdenken als überflüssig erscheinen läßt. Damit hat das Klischee natürlich spürbare konkrete politische Konsequenzen und seine Setzung ist in jedem Fall ein meist bewußter Akt.

Ein zweites Klischee scheint mir eine - in diesem Fall vom Westen und der vietnamesischen Führung gemeinsam empfundene oder propagierte - Euphorie zu sein, was den wirtschaftlichen Aufschwung in Vietnam betrifft. Keinen Zweifel kann es daran geben, daß dieser Aufschwung tatsächlich stattfindet, aber er scheint mir von beiden Seiten auf eine Weise hochgejubelt zu werden, die wiederum eine kritische Sicht eher erschwert. Westliche Handelspartner und ihre politischen Lautsprecher loben Vietnam wegen der Aussicht auf Geschäfte, Märkte und Ausbeutungsmöglichkeiten, die vietnamesische Presse ist voll von Erfolgsberichten (in guter alter sozialistischer Tradition) und hat, trotz aller Einsicht in die "Risiken und Nebenwirkungen", den Prozeß des Beitritts zur WTO forciert und auch bei der eigenen Bevölkerung durchgesetzt. Mit solchen Tendenzen der politischen Führung Vietnams wird dann auch argumentiert, wenn man dem Land einen unwiderstehlichen Drang unterstellen will, endlich den Kapitalismus einzuführen. Damit ist aber nur ein Teil des politischen Motivgeflechts erfaßt, sind wesentliche Teile der grundsätzlichen Diskussionen, die in Vietnam über die Zukunft des Landes geführt werden. in gängigen Klischees verschwunden. Das betrifft etwa Fragen nach den Gegensätzen zwischen Tradition und Moderne, zwischen normierten oder liberalen Lebensformen, nach Gemeinnutz und Eigennutz, die Koexistenz von rückwärtsgewandten, am Kriegsheroismus orientierten Haltungen mit einem modernen, auf die Zukunft gerichtetenb Pragmatismus, unbekümmert, ichbezogen und im weltweiten Trend liegend.4

Ein widersprüchliches Bild

So ist das Bild Vietnams in unserer Öffentlichkeit durch Widersprüche geprägt, die eigentlich unvereinbar sind. Diese Unvereinbarkeit verschwindet jedoch hinter einer chronischen Oberflächlichkeit und Klischeehaftigkeit der Darstellungen, handle es sich dabei um Fernsehfeatures oder Kurzmeldungen in Zeitungen. Ein Beispiel: In der Reisebeilage einer Tageszeitung wird Vietnam als Reiseziel so beschrieben, wie der Tourist es erwarten mag. Dann gibt es einen Kasten mit allgemeinen Informationen, und da steht unter der Rubrick "Staatsform" das Wort "kommunistisch". Es gibt, wie jeder weiß, den Kommunismus nicht als "Staatsform" im juristischen Sinn, es muß korrekt heißen "sozialistisch" ("Sozialistische Republik Vietnam"). Die Gedankenlosigkeit transportiert aber das negative Klischee auf jeden Fall, ob sich der Autor nun darüber Gedanken gemacht hat oder nicht. In den Tagen, in denen ich diese Rede vor der Mitgliederversammlung niederschreibe (aus den Notizen rekonstruiere), ist unser Bundespräsident gerade auf Stippvisite in Vietnam. Was die Tagesschau darüber berichtet, ist sozusagen eine aufs Äußerste reduzierte Artikulation der hier gemeinten Unvereinbarkeit: Gelobt habe Herr Köhler die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern, angemahnt habe er die Einhaltung der Menschenrechte.

Wir müssen sowohl die Widersprüchlichkeiten und Oberflächlichkeiten solcher Klischees reflektieren und korrigieren, aber wir müssen auch mit ihrer Existenz in unserer Gesellschaft leben und sie mit einkalkulieren als Voraussetzungen und Bedingungen unserer Arbeit. Bei der Aufklärung über die Chancen und Risiken jenes vielgelobten wirtschaftlichen Aufschwungs in Vietnam können wir auf viele Argumente und Tatsachen zurückgreifen, die in der vietnamesischen Presse zu lesen sind und die uns gute Freunde vermitteln. Da ist die Diskussion in Vietnam ebenso kontrovers wie das Thema selbst. Die Vorstellung einer von Regierung und Partei bewußt gewollten Einführung des Kapitalismus ist objektiv falsch, aber trotzdem ein Teil des Bildes, das sich einer oberflächlichen Betrachtung bietet. Darin äußert sich eine tiefere Widersprüchlichkeit, die Hinweise auf das Wesen der Existenzbedingungen eines Landes geben kann, das seine Geschichte autonom in die Zukunft weiterschreiben will.

Die andere Seite jener beschriebenen oberflächlichen Widersprüchlichkeit ist von noch komplexerer Natur. Die heftige, von Exilvietnamesen äußerst polemisch geführte und bei offiziellen Staatsbesuchen in die Watte diplomatischer Pflichtübungen verpackte Kritik an sogenannten Menschenrechtsverletzungen verweist auf Handlungsweisen der vietnamesischen Führung, die nach im Westen oft dogmatisierten, aber zurecht als zivilisatorische Errungenschaften der ganzen Menschheit geltenden Überzeugungen zu kritisieren sind. Maßnahmen gegen "Dissidenten" (ein Ausdruck, der seltsamerweise nur im Zusammenhang mit so genannten "kommunistischen" Staaten benutzt, nicht aber auf Oppositionelle in kapitalistischen Gesellschaften angewandt wird), die wirklich gegen diese Prinzipien und die Traditionen der Aufklärung verstoßen, sind eindeutig als unannehmbar zu betrachten, egal wer sie unternimmt.

In Vietnam sind solche Verstöße in der Vergangenheit immer wieder auch in großem Umfang passiert. Man denke an die Verfolgungen im Zusammenhang mit der Landreform der 1950er Jahre. Und keine revolutionäre Vergangenheit oder Tradition bietet von sich aus die Garantie, daß so etwas nicht immer wieder passiert. Gerade deshalb sind wir in besonderer Weise verpflichtet, solche Vorkommnisse aufzugreifen. Allerdings weder in der Absicht, eine nicht vorhandene weiße Weste unserer vietnamesischen Freunde vor Flecken zu bewahren, aber auch nicht in der Weise, wie es in unserer Presse (aller Schattierungen) geschieht: mit pauschalen eingängig-oberflächlichen Kurzschlüssen, die manchmal (siehe den Artikel über "Cyberdissidenten" in diesem Heft5) äußerst peinliche Blüten hervorbringen.

Wir haben auch hier den Anspruch, uns vorher selbst zu informieren und dann Fehler, wenn sie unserer Meinung nach gemacht worden sind, offen zu benennen. Leider sind die vietnamesischen Medien bei solcher Spurensuche (also nach Hinweisen darauf, daß die Dissidenten, die hier ausschließlich als Opfer dargestellt werden, auch Täter sind) wenig hilfreich. In einer den westlichen Verkürzungen fast vergleichbaren Reduktion der komplizierten Sachverhalte auf einfache Formeln berichtet die vietnamesische Presse über solche Vorgänge, indem sie die Vergehen so bezeichnet, daß ihre Strafwürdigkeit nicht ohne weiteres einleuchtet. Das ist leider auf demselben Niveau wie die hiesigen Berichte, diese Dissidenten würden angeblich nur wegen ihrer Berufstätigkeit (als Pfarrer etwa oder Rechtsanwalt) oder ihres Eintretens "für Demokratie" abgeurteilt.

Da jeder einzelne Fall aber komplizierter ist, uns Recherchen in Vietnam kaum möglich sind und die uns zugängliche Presse kaum Hinweise gibt, müssen wir versuchen, uns auf anderen Wegen Klarheit zu verschaffen und darüber, wenn wir uns ein einigermaßen zutreffendes Bild machen konnten, auch berichten - so wie wir es in Sachen "Aufstände in den Bergen" schon mehrfach getan haben und wie wir es auch in diesem Heft anläßlich der Prozesse gegen die "Cyberdissidenten" wieder tun.

Es gibt, und das ist die Form, in der der Antikommunismus immer noch viele Federn oder Mäuse führt, in bezug auf diese "Menschenrechts"fragen in der veröffentlichten Meinung hierzulande so etwas wie einen politisch-moralischen Fundamentalismus, den wir nicht mitmachen, und nicht nur deshalb, weil es sich um Kritik an Vietnam handelt. Die ist sehr nötig (z. B. in bezug auf die Korruption, aber auch an einem nicht sehr souveränen Umgang mit einer politischen Opposition, die ihre Stimme vor allem ins Ausland erschallen läßt), darf aber gerade wegen der Komplexität der Situation, in der sich das Land befindet, nicht mit stromlinienförmigen Klischees arbeiten. Zu verstehen suchen heißt nicht, nach Entschuldigungen zu suchen, ist aber unumgänglich, bevor man Schuldzuweisungen vornimmt.

Kritische Solidarität

Dieses Stichwort stammt von unserem Gründungsvorsitzenden und Ehrenmitglied des Vorstands Erich Wulff, und wir haben die beiden Worte stets als gleichgewichtig verstanden, wobei sie unser Selbstverständnis nur dann adäquat wiedergeben, wenn man ihre enge Zusammengehörigkeit ernst nimmt: Solidarität ohne Kritik würde unserem wissenschaftlichen Anspruch widersprechen, Kritik ohne Solidarität unserer Vergangenheit, unserer Verbundenheit, würde unserem Namen (Freundschaftsgesellschaft) nicht gerecht.

Denn Vietnam ist für uns immer noch nicht nur irgendein Land, von dem man sich vielleicht seiner touristischen Reize, seiner Kunst, seiner exotischen Kultur wegen angezogen fühlt. Die Beschäftigung mit gerade diesem Land hat für uns sehr viel mit dem Befreiungskampf zu tun, mit Fehlern und Verbrechen, die von Ländern des Westens im Namen einer Kultur begangen wurden, der wir uns verbunden fühlen, schließlich mit dem Versuch, den dieses Land seit 30 Jahren unternimmt, sich in einer alles andere als gemütlichen globalisierten Welt eine selbstbestimmte Zukunft zu erarbeiten, zu erkämpfen.

Walden Bello war in seinem erwähnten Buch zu dem Schluß gekommen, daß die Hoffnungen auf eine internationale Solidarität, wie sie unsere Freundschaftsgesellschaft seit ihrer Gründung als Voraussetzung ihrer Arbeit sieht, nicht unberechtigt oder fehlgeschlagen sind, sondern vielleicht nur verfrüht waren. In der neuen Weltordnung ist Vietnam eines der Länder, die sich querstellen, obwohl sie zu immer neuen und tiefergehenden Kompromissen gezwungen werden durch die unipolare Struktur des Weltkapitalismus. Was uns an der täglichen und längerfristigen Politik der vietnamesischen Führung besonders und als Präzedenzfall interessiert, ist, daß man sich dort, um ein letztes Mal die Rede von vor fünf Jahren zu zitieren: "sehr genau überlegt, welche Folgen im einen Fall die Ablehnung (von außen herangetragener Forderungen) für die eigene Bevölkerung hat und ob nicht vielleicht ein Zurückweichen im anderen Fall Gefahr und Not von ihr abwenden könnte." Daß dies ein idealisiertes Bild ist, das konkrete Fehler, individuelles und kollektives Unvermögen und die Tatsache erst einmal ausblendet, daß auch dort Menschen am Werk sind, die Versuchungen ausgesetzt sind und ihnen verfallen können, ist klar. Aber uns scheint der Bezug auf ein in Vietnam konzipiertes Idealbild beim Vergleich mit der Realität sinnvoller zu sein als auf von außen herangetragene, meist fremden Interessen verpflichteten Forderungen.

Wir sind nicht unempfindlich dem Gefühl gegenüber, daß eine solche Haltung als anachronistisch erscheinen kann, aber wir hoffen, daß es ein vorübergehender Anachronismus ist.

Düsseldorf, am 11. Februar 2007

Anmerkungen:
1 weil die Dritte Welt die Alternative der Sozialistischen Staaten sonst vorziehen könnte.
2 Walden Bello: Dark Victory, New York 1994
3 Cincinnatus [Pseudonym für Cecil. B. Currey]: Self-Destruction. The Disintegration and Decay of the United States Army during the Vietnam Era, New York und London 1981
4 Was den Beitritt zur WTO betrifft, kann hier nicht näher auf die Tatsache eingegangen werden, daß es für Vietnam wohl kaum eine Alternative gab und gibt. Vgl. Vietnam Kurier 2/2006.
5 Vietnam Kurier 1/2007

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2007

zurück zurückVNK Home