Illegal Streikende
sollen Schadenersatz leisten

Umstrittenes Vorgehen gegen gewerkschaftliche Basisbewegungen

Van Anh

In Vietnam haben in der letzten Zeit sogenannte „wilde“ oder „illegale Streiks“ stattgefunden und vor allem im Ausland Aufsehen erregt (vgl. VNK 2/2006), weil sie nicht von den staatlichen Gewerkschaften organisiert worden waren. Der Versuch, in teilweise ungeregelten Arbeitsbeziehungen „Ordnung“ und Legalität zu schaffen, führt zu grundsätzlichen und kontroversen Diskussionen.

Durch Regierungsdekret Nr.11/2008/­ND-CP vom 30.1.2008 wurde bestimmt, daß Arbeiter, die an illegalen Streiks im Sinne des § 179 Arbeitsgesetzbuch1 teilnehmen, ihren Arbeitgebern den daraus entstandenen Schaden ersetzen müssen. Die gleiche Verpflichtung trifft auch die Gewerkschaft, die den illegalen Streik organisiert hat. Über die Frage, wann ein Streik illegal ist, entscheidet das Volksgericht. Der Schadensersatz kann in Geld (bis zu 3 Monatslöhnen, jedoch soll er nicht mehr als 30 % des Monatslohns betragen), Gütern oder Arbeit abgegolten werden. Das Dekret soll nach Angaben des Arbeitsministeriums die zunehmenden „wilden“ Streiks eindämmen und sicherstellen, daß sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer bei allen Arbeitskämpfen die Gesetze einhalten. Es sollen mit diesem Artikel besonders die Rechte der Arbeitgeber bei einem wilden Streik geschützt werden.

Ausdrücklich bekräftigt wird das Recht beider Parteien, ihre Auseinandersetzungen – im Rahmen der Gesetze – und im gegenseitigen Interesse selbst zu regeln. „Arbeitnehmer sollen streiken dürfen, wenn sie Meinungsverschiedenheiten haben mit ihren Arbeitgebern, aber alle Beteiligte müssen sich an die Regeln und Verfahrensweisen halten, und Arbeitnehmer müssen die Entscheidung des Gerichts abwarten, bevor sie den Streik organisieren.“, sagt Dang Duc San vom Ministerium.

Das neue Dekret, dessen Entwurf vorher schon öffentlich diskutiert worden war, soll durch Presse und Medien einer breiten Öffentlichkeit bekanntgegeben werden.

Der Hintergrund und der nähere Inhalt des Dekrets 11/2008 sind wie folgt zu charakterisieren: Nach Statistiken des vietnamesischen Gewerkschaftsbundes fanden zwischen 1995 und 2006 landesweit 1.290 Streiks statt, die zumeist spontan und nicht durch gewerkschaftliche Organisationen geführt waren und bei Geltung des neuen Dekrets illegal gewesen wären. Im Jahr 2007 gab es allein im 1. Vierteljahr 103 Streiks mit insgesamt 62.700 Beschäftigten in 14 Provinzen und Städten, davon 79 (d.h. 76,7 %) in Unternehmen mit ausländischer Beteiligung, 23 (22,3 %) in inländischen Privatunternehmen und 1 in einem Staatsunternehmen. 59 der Streiks fanden in Unternehmen der Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie statt und 98 hatten ihre Ursache in wirtschaftlichen Auseinandersetzungen. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2008 gab es wieder eine Serie ungesetzlicher Streiks: An einem einzigen Tag, dem 8. Januar, allein 3 in der Exportförderzone von Tan Thuan. Einige Streiks beruhten auch darauf, daß Arbeitgeber ihre Verpflichtungen nicht eingehalten hatten, die sie bei der Schlichtung nach einem früheren Streik eingegangen waren. Manche hatten auch ihren Grund in Meinungsverschiedenheiten über Prämienauszahlungen anläßlich des Tet-Festes.

Gemäß dem Dekret Nr. 11/2008 können nun die Arbeitgeber in einem solchen Fall von den gewerkschaftlichen Gruppen und den Streikenden Schadensersatz verlangen, wenn ein Gericht den Streik für illegal erklärt hat. Dieser Schadensersatz beziffert sich nach dem Schaden an Eigentum, der durch die Arbeitsniederlegung entstanden ist, und geschäftlichen Nachteilen, die durch sie verursacht wurden. Innerhalb von zehn Tagen nach Erhalt der Schadensersatzforderung können Vertreter der Basisgewerkschaften2 oder von Arbeitnehmern von den Arbeitgebern Verhandlungen über den Schadensersatz verlangen. Diese Verhandlungen müssen schriftlich über den Dienstweg beantragt werden, mit Datum und Fragenkatalog. Binnen drei Tagen nach Erhalt muß eine Besprechung zwischen Arbeitgebern und der gewerkschaftlichen Gruppe oder den Arbeitervertretern stattfinden. Beide Seiten können örtliche Vertreter von Staatsbehörden, die mit Arbeitsproblemen befaßt sind, oder Gewerkschaftsführer dazu einladen.

Das Dekret Nr. 11 soll durch die Androhung einer Schadensersatzpflicht der Teilnehmer und Organisatoren von illegalen Streiks die Zahl solcher Streiks vermindern und so die wirtschaftliche und politische Situation in Industrieparks stabilisieren und die Interessen der Unternehmen schützen. Indessen bleibt die Durchsetzbarkeit dieser Vorschrift fraglich.

Die Lösung von Arbeitskonflikten soll vorrangig unter Einhaltung der dafür vorgesehenen detaillierten Vorschriften des Arbeitsgesetzbuchs gesucht werden. Dadurch sollen drohende Streiks vermieden werden, dieser „letzten und unerwünschten Form“ eines Arbeitsauseinandersetzung.

Die drohende Schadensersatzpflicht orientiert sich vorrangig an den Möglichkeiten der Arbeitnehmer, diese auch aufbringen zu können, auch wenn die bezahlte Entschädigung nicht ausreicht, die entstandenen und von den Arbeitgebern geforderten Schäden voll abzudecken.

Der stellvertretende Vorsitzende des Vietnamesischen Allgemeinen Gewerkschaftsbundes Mai Duc Chinh sieht dies anders. Für ihn bedeutet die neue Regelung, daß die Beschäftigten legitimer Rechte beraubt werden könnten, wenn sie nicht mehr bei gegebenem Anlaß jederzeit streiken könnten, sondern die jetzt geltenden Vorschriften über die notwendigen Verfahrensschritte vor Beginn eines Streiks einhalten müßten. Viele der berechtigten Streiks in den vergangenen beiden Jahren wären unter den neuen Gesetzen illegal gewesen. Da die Arbeitnehmer oft nur geringe Kenntnisse des Arbeitsrechts hätten, könne von ihnen nicht erwartet werden, daß sie alle Verfahrensvorschriften strikt beachten, so daß es für ein Gericht allzu leicht sei, nachträglich einen Streik für illegal zu erklären. Dies bedeute eine Rechtsunsicherheit, die zu Lasten der Arbeitnehmer gehe.

In der Vergangenheit habe sich gezeigt, daß in konkreten Konfliktsituationen, die oftmals durch fehlendes Einschreiten des Staates gegen Arbeitsvertragsverletzungen seitens der Arbeitgeber entstünden, spontane, unangemeldete Arbeitsniederlegungen manchmal das einzige Mittel seien, um schwere Benachteiligungen der Arbeitnehmern zu verhindern.

Freie Gewerkschaften in einem Betrieb oder inoffizielle Arbeitervertretungen würden durch die neue Regelung extrem benachteiligt. Z. B. würde von ihnen verlangt, 51 % der Arbeitnehmer in einem Betrieb, die gewerkschaftlich organisiert sind, dazu zu bringen, für einen Streik zu stimmen. Dies ist unmögloch, denn diese Vertreter, die selbst Angestellte sind, können nicht ihre Arbeit im Stich lassen und herumgehen und um Unterstützung für den Streik werben, ohne daß sie in Gefahr geraten, sofort entlassen zu werden. Denn verständlicherweise haben viele Angestellte kein Vertrauen zu den offiziellen Gewerkschaftsführern. Insofern warnt der Vizepräsident des allgemeinen Gewerkschaftsbundes Mai Duc Chinh vor der Einführung dieses Dekrets.

Unhandliche Regelungen, die legale Streiks erschweren, sind auch die zeitlichen Vorgaben, die bereits in den jetzigen Regelungen enthalten sind. So braucht man, wenn man alle Fristen einhalten will, 20 Tage, um einen legalen Streik zu organisieren. In dieser Zeit können die Differenzen eskalieren, zumal eine unfähige staatliche Leitung Lücken und Unzulänglichkeiten, bis hin zu Ungerechtigkeiten bei der Umsetzung von Regelungen in den Betrieben durchgehen läßt. So kann ein eigentlich leicht zu lösender Konflikt schnell zu einer Streikbereitschaft führen.

Auch andere Vorschriften, die mit ihm in Kraft treten sollen, stellen eine objektive Beeinträchtigung des Streikrechts dar. Das Dekret 12/2008 sieht vor, daß Streiks verschoben oder verboten werden können, wenn sie die nationale Wirtschaft und öffentliche Interessen gefährden, z. B. Streiks an Nationalfeiertagen, in der Zeit wichtiger, vom Staat organisierter internationaler Treffen oder während eines Notstands. Die Entscheidung darüber trifft der Ministerpräsident.

Vor der Einführung dieses Dekrets hatten bereits Arbeitgeber gelegentlich Klage gegen ihre Angestellten erhoben, wenn diese illegal in Streik getreten waren, die alle ohne Urteil abgebrochen werden mußten. Denn es gab keine Gewerkschaftsvertreter oder Arbeitervertreter, die vor Gericht erschienen, weshalb die beklagten Arbeitnehmer nicht vertreten waren. Es war nicht möglich, alle vor Gericht zu zitieren, die am Streik teilgenommen hatten.

Kommentar:
Die hier referierten Artikel erwähnen nicht den politischen Hintergrund, der mit dieser Frage auch verbunden ist. Solche „wilden“ Streiks wurden in der Vergangenheit oft von ausländischen Dissidentengruppen zum Anlaß genommen, die vietnamesische Regierung scharf zu kritisieren. Sie beriefen sich dabei oft auf so genannte „freie“ oder „demokratische“ Gewerkschaftsgruppen, die sich unabhängig von den staatlichen Gewerkschaft und gegen sie gegründet haben. Diese Gruppierungen, die weniger gewerkschaftliche als politische Ziele verfolgen und die tatsächlichen Konflikte für Propaganda ausschlachten, sind nicht zu verwechseln mit sich immer wieder bildenden Betriebsgruppen, die mit der Politik oder der Unbeweglichkeit der staatlichen Gewerkschaften unzufrieden sind und lokal oder betriebsbezogen die Interessen der Arbeitnehmer vertreten. Bei der ganzen Diskussion ist das Bestreben der Regierung spürbar, diese Gruppen ernst zu nehmen und nicht zu diskriminieren. Das neue Dekret und die Kritik daran sind auch Dokumente dieser Diskussion. (Red.)

Anmerkungen:
1 Dieser Passus trat am 1. Juli 2007 in Kraft. Er war eine direkte Reaktion auf die Streiks dieser Zeit. Jetzt soll er ausgeweitet und ergänzt werden durch Vorschriften über die Höhe und Zahlungsbedingungen der Ersatzleistungen.
2 was sowohl örtliche Gewerkschaftsgruppe, als auch freie Gewerkschaftsgruppe heißen kann.

Quellen: VNS 1. 02. und 26.03. 2008
Übersetzung und Zusammenfassung: Jürgen Adam
Van Anh ist Mitglied des Vietnam Law & Legal Forums

veröffentlicht im Vietnam Kurier 2/2008

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