Beratungsstelle No. 8
Kurzgeschichte von Nguyen Huong

„Offen gestanden, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll,” sagte die Anruferin zögernd, „Sie halten es vielleicht für lächerlich, dass eine 40jährige Frau wie ich immer noch so unbeholfen ist,” fügte sie hinzu.

„Keine Sorge, Schwester1”, antwortete ich, während ich begann, nach dem, was ich vom anderen Ende der Leitung hörte, ihr Portrait zu zeichnen. Mit Pastellkreide skizzierte ich den Umriss ihrer Augen, groß und rund, mit geschwungenen Lidern.

Vom anderen Ende der Leitung war lediglich ein tiefer Seufzer zu vernehmen. Einige Momente verstrichen, dann erklang die gleiche Stimme wieder, die Anruferin erzählte ihre Geschichte:

„Ich lebe in der Gemeinde Cu Kin. Sie wundern sich vielleicht, woher ich in meiner abgelegenen Gegend Ihr Beratungsbüro kenne; Ich verdanke das meiner Leidenschaft für das Lesen. Als ich für das Bezirks-Kulturamt arbeitete, genoss ich es, alle Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, eine nach der anderen, Seite um Seite, einschließlich der Anzeigen. Aufgrund dieser eifrigen Lektüre bin ich in der Lage, Wahrheit und Lüge zu erkennen“, fuhr sie weitschweifig fort.

Ich fügte ihrem Bild langes Haar hinzu, das ihr in Locken über die Schultern reichte.

„Warum haben Sie Ihre Stellung aufgegeben?”, fragte ich sie.

„Das ist einfach: Ich arbeitete im Kulturamt, während mein Mann an einer Gemeindeschule unterrichtete. Unsere Arbeitsplätze lagen weit voneinander entfernt. Als meine Tochter das Vorschulalter erreichte, wechselte ich und begann, für die Frauenunion der Gemeinde zu arbeiten. Dort hatte ich nur viel zu tun, wenn eine Kampagne anstand, so dass ich viel freie Zeit hatte fürs Lesen”, antwortete sie.

"Wer ist Ihr Lieblings-Autor”, fragte ich sie.

„Das ist eine schwierige Frage”, antwortete sie nach einiger Überlegung. „Als ich jung war, liebte ich einen Autor sofort, wenn mir seine Geschichte oder sein Roman gefiel. Jetzt, mit 40, hat sich mein Geschmack deutlich geändert. Aber im großen und ganzen bin ich immer noch verrückt nach Literatur. Immer wenn ich einen Roman oder eine Geschichte in Händen halte, lese ich bis tief in die Nacht. Und wenn ich die Veranstaltungen mit meinen Lieblings-Schriftstellern nicht besuchen kann, bin ich sehr ungehalten”, gestand sie.

Ich unterbrach meine Arbeit an dem Portrait und griff zu den Zeitungen und Zeitschriften im Regal. Einige von ihnen kündigten eine Veranstaltung mit einem bekannten Autor an. Ich wies sie darauf hin, und sie schien schnell eine Wochenzeitung durchzublättern.

„Im Jugendmagazin ist eine interessante Meldung – möchten Sie die Einzelheiten erfahren?”, fragte sie mich.

„Natürlich will ich das. Mir geht es wie Ihnen: Immer wenn ich auf einen guten Roman stoße, bleibe ich bis Mitternacht wach und lese. Dabei fühle ich mich am nächsten Morgen überraschend wohl. Mein Mann zieht mich oft damit auf, er sagt, ich liebe Bücher mehr als unsere Kinder”, gestand ich.

Ich begann, ihren Wangen zwei Grübchen hinzuzufügen. Ich sagte mir, sie müsse zu ihrer Zeit eine Schönheit gewesen sein; Ich ersetzte die Locken in ihrem Portrait durch eine lange Welle, die ihr über die Schulter floss.

„Haben Sie das neueste Literatur-Magazin gelesen“, fragte ich sie.

„Noch nicht, gibts da was interessantes?”

„Vielleicht. Hören Sie mal”, sagte ich, öffnete die Seiten und las ihr vor: „Sie sind eingeladen, am Sonntag teilzunehmen an einem kulturellen Austausch mit der Autorin Minh Thuy und den Redakteuren des Literaturmagazins. Danach wird sie Fragen beantworten.”

Der Artikel befasste sich auch mit ihrem Werdegang, ihren Abenteuern in fremden Ländern, die ihre Leser so sehr mochten, dass ein bekanntes Reisemagazin sich entschloss, ihre Reisen zu finanzieren, wenn sie es mit Geschichten über Land und Leute versorgte. Sie lehnte dieses Angebot aber ab, da sie nach eigener Lust und Laune reisen wollte. Ich wartete und wartete auf eine Reaktion vom anderen Ende der Leitung, aber lange Zeit war nichts zu hören.

Stillschweigen!

„Hallo, sind Sie noch dran?”, fragte ich sie beunruhigt.

„Einen Augenblick noch, bitte! Glauben Sie an Telepathie?”

„In gewisser Weise schon, warum fragen Sie?”

„Ich möchte Ihnen etwas erzählen über diese Minh Thuy”, erwiderte sie mit hörbarer Abneigung. „Letzten Monat informierte mich unser Gemeindevorstand, dass wir das Vergnügen hätten, sie bei uns begrüßen zu dürfen”, sagte sie.

„Kurze Zeit davor hatte ein in Hanoi geborener und aufgewachsener Musiker unsere Provinz Dak Lak2 bereist,” fuhr sie fort. „Dadurch inspiriert komponierte er ein Lied, das unsere Heimatstadt im ganzen Land berühmt machte. Nach diesem Erfolg hofften wir, der Vorsitzende der Gemeinde Cu Kin und ich, dass ein Artikel von Minh Thuy unserer Provinz noch mehr Ruhm einbringen würde. Darüber hinaus ließ uns die Vereinigung für Literatur und Kunst der Provinz wissen, dass die Autorin zwei Wochen bleiben würde. Das bedeutete, dass wir für ihre Unterkunft, Verpflegung und Reisekosten aufzukommen hatten. Für uns bot das die goldene Gelegenheit, sie in meinem Haus zu bewirten, da es in der ganzen Gemeinde kein einziges Gästehaus gab. Als Vorsitzende der Frauenunion der Gemeinde schlug ich vor, mich persönlich um sie zu kümmern und ihr die lokalen Sehenswürdigkeiten zu zeigen. ,Als Städterin wird sie die Natur hier, die eindrucksvolle Landschaft schät­zen,’ dachte ich. Und dabei würde sie auch noch die seltene Gelegenheit haben, einige Dörfer ethnischer Minderheiten zu besuchen, sie in ihren traditionellen Kostümen zu sehen und ihre kulinarischen Spezialitäten zu kosten.

Mein Mann, der ebenfalls Schriftsteller und Künstler schätzt, ließ sich von meiner Vorfreude anstecken. Wir würden ihr unser Schlafzimmer überlassen und selbst bei den Kindern übernachten. Wir würden einen großen Hausputz veranstalten und das Bett für sie herrichten. Wir wollten einer so bedeutende Figur in der Sphäre der Literatur und Kunst unseren tief empfundenen Respekt, unsere Bewunderung erweisen,” sagte sie.

„Ich würde genau das gleiche tun, Schwester”, erklärte ich an meinem Ende der Leitung und fügte hinzu: „Außerdem würde ich mich hübsch anziehen, um einen guten Eindruck zu machen.”

„Ich kaufte für sie ein brandneues Moskitonetz, ein mit Blumen besticktes Kissen, und für mich ein neues Paar Schuhe und zwei modische Röcke. Natürlich sind Röcke in der Stadt ganz normal, aber die Leute hier auf dem Land finden sie merkwürdig”, stellte sie klar.

„Ja, ich verstehe, ich verstehe.”

„Das, was Minh Thuy schreibt, ist genau das, was ich am liebsten lese,” betonte die Anruferin mittleren Alters. „Es ist keineswegs einfach, über wahre Begebenheiten zu schreiben, es ist nicht so wie mit einem romantischem Stoff. In einer ihrer Geschichten geht es zum Beispiel um eine Frau, die in einem Meeting ihren früheren Geliebten sieht, der nun ein hohes Tier ist. Sie ist ziemlich verlegen und weiß nicht, wie sie sich angemessen verhalten soll. Sie hofft, ihn während der Mittagspause sprechen zu können, um ihm ihre Gefühle darzulegen. Aber – die Arme! – er verschwindet sofort nach der Sitzung ohne jede Spur.”

Die Kreide in meiner Hand stoppte abrupt. Ich wusste nicht, was ich ihrem netten Gesicht noch hinzufügen sollte. Mir kam es vor, als sei es mir nicht gelungen, ihre wesentlichen Gesichtszüge zu erfassen. Dadurch ähnelte das Bild einer gewissen „erneuerten” Künstlerin. Ich versuchte das Dilemma dadurch zu lösen, dass ich über die lilienweiße Haut ihres Dekolletés eine V-förmige Kette zeichnete.

„Wo war ich stehengeblieben?”, fragte sie. „Also, es gab eine Willkommensparty zu ihren Ehren in einem prächtigen Restaurant. Minh Thuy kam dorthin in einem 12sitzigen Minibus, den die Vereinigung für Literatur und Kunst der Provinz für sie gemietet hatte. ,Prost!’ Alle erhoben ihr Glas in der Erwartung, dass das Werk dieser Autorin durch den Aufenthalt bei uns inspiriert werden würde. Als Komplizin des Vorsitzenden der Gemeinde versuchte ich aus meiner Ecke heraus einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie sah noch schöner aus als auf dem Foto in der Zeitschrift. ,Sie ist hochintelligent und beredsam’, flüsterte ich mir selbst zu. Während ich eine Gelegenheit suchte, sie anzusprechen, wurde sie aufgefordert, erneut ihr Glas zu erheben, so dass alle Anwesenden, einer nach dem anderen, sie zu ihrem Erfolg beglückwünschen konnten. So hatte ich ebenfalls das Glück, ihr beim Anstoßen mit dem guten Wein zu begegnen. Dann nutzte ich aber das Zuprosten rundum, um meinen Wein gegen ein Glas kaltes Wasser einzutauschen, denn mir war klar, dass ich nicht so viel vertragen konnte wie die anwesenden Männer.”

„Hallo, sind Sie noch am Apparat?”, brachte mich die Anruferin plötzlich wieder in die Gegenwart.

„Natürlich, ich bin hier, ich höre Ihnen zu.”

„Ich erzähle das alles so ausführlich, damit Sie über die Hintergründe Bescheid wissen.”

„Ich verstehe, Schwester, das ist in Ordnung.”

„Was denken Sie, wie es weiterging?”

„Darf ich raten?”

„Bitte sehr!”

„Ihre Hochschätzung dieser literarischen Ikone fiel zusammen, weil ihr im Gespräch ein peinlicher Schnitzer unterlief.”

„Oh nein, ganz und gar nicht!”, sagte sie, „ich habe Ihnen doch vorhin schon berichtet, dass sie eine Meisterin der Redekunst war. Bei dem Empfang war sie sehr höflich. Das Problem lag bei uns zu Hause: All unsere sorgfältigen Vorbereitungen für sie, das neu gekaufte Bettlaken, Kissen und Moskitonetz waren unnütze Mühe.”

„Wieso denn?”

„Sie blieb eine Nacht in unserem Haus,” sagte die Anruferin. „Am nächsten Morgen bat sie mich, zur Gemeindeverwaltung zu gehen und für sie eine Bescheinigung über einen zweiwöchigen Aufenthalt in unserer Gegend zu besorgen. Ich kam gegen Mittag zurück und übergab ihr das Dokument. Zu meiner großen Überraschung verabschiedete sie sich mit Dank von uns und bat mich, sogleich ihre Rückkehr in die Hauptstadt zu organisieren.”

„Normalerweise hätte ich mich mit so einer Geschichte nicht an Sie gewandt, denn unter Journalisten und ähnlichen Leuten ist es durchaus üblich, den Verdienst durch frisierte Spesenabrechnungen aufzustocken. Aber in diesem Fall, bei meiner Ikone, war das etwas anderes. Heute Morgen ging ich ins Internet und stieß im Magazin Kunst und Literatur auf einen Essay von Minh Thuy mit dem Titel 'Die Gemeinde Cu Kin – Wer hier herkommt, wird sie lieben’. Verstehen Sie, sie kam bei uns spät am Abend an und verließ uns früh am nächsten Morgen. Da kann man sich schon fragen, was sie denn da sehen konnte, wen sie denn da sprechen konnte. Alles, was sie geschrieben hat, stammt komplett aus Wikipedia. Das ist alles.”

Ich nickte mit dem Kopf, wobei ich völlig vergaß, dass sie es am anderen Ende der Leitung ja nicht sehen konnte.

Ich legte auf, nahm mein Notebook und war mit ein paar Mausklicks bei dem Essay.

Ich las die ersten Zeilen: „Nebel, Wildnis, geheimnisvoller, undurchdringlicher Dschungel! Und, last but not least, der magische Zauber, der einen den Weg nach Hause vergessen lässt!”.

Quelle: VNS 04.09.2016
übersetzt von Marianne Ngo
nach der englischen Fassung von Van Minh

Anmerkungen:
1 Allgemein übliche Anrede zwischen Frauen etwa desselben Alters, die sich noch nicht kennen.
2 Die Provinz Dak Lak liegt im Hochland Zentralvietnams.

veröffentlicht im Viet Nam Kurier 2/2016

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