Im Sog der Vergangenheit

Kurzgeschichte von Nguyen Ngoc Tu

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eute Morgen ist meine Mutter wieder zum Markt Drei-Sieben-Neun gegangen, wo sie stehenblieb und unschlüssig umherschaute, ehe sie das kleine Bootsmädchen bittet, den schwimmenden Markt entlangzurudern. Die Verkäufer loben schreiend ihre Früchte und ihr Gemüse, ein ganzes Stück Fluss ist voller Bewegung. Meine Mutter lässt jeden Kahn ansteuern, betrachtet die Gesichter der Leute, die sich darauf befinden, und dreht wieder ab. Das Bootsmädchen ist offenbar eine erfahrene Vermittlerin, sie weiß, wohin die alte Frau will und warum; deshalb rät sie ihr: „Wenn Sie nicht fragen, finden sie auch nichts, Großmutter.“

Meine Mutter ist bedrückt. Aber ja, sie fragt doch überall herum!

„Hallo Onkel, hallo Tante, ich suche eine Bekannte von mir. Ihren Namen? Was sie auf ihrem Boot verkauft? Sie heißt Hai Giang und verkauft Früchte und Gemüse.“

„Ach je! In dieser Gegend gibt es Millionen von Kähnen, auf denen Früchte und Gemüse verkauft werden und wer weiß wie viele Leute, die Giang heißen! Sagen Sie mir wenigstens wie die Person, die Sie suchen, aussieht.“

„Wie sie heute aussieht, weiß ich nicht, ich habe sie einmal getroffen, das ist 16 Jahre her! Ich kann sie Ihnen nach meiner Erinnerung beschreiben: Eine Frau, jetzt etwa sechzig Jahre – in meinem Alter – lange Haare, braune Haut, weder hübsch noch hässlich. Zuerst war sie mit ihrem Mann zusammen. Dann hat ihr Mann sie im Stich gelassen, weil sie zu unglücklich waren. Damals waren sie jung, hatten eine Tochter, ihr erstes Kind, und die fiel, als sie gerade sieben Monate alt war, in den Fluss und ertrank.“

„Na ja, da bleiben immer noch viele übrig, auf die das passen kann! Unter den Leuten, die auf diesem Markt leben, haben mindestens fünf von zehn Ähnliches erlebt: das sind die Drei-Sieben-Neun-Einwohner – drei Mal gekentert, sieben Mal wieder aufgetaucht, neun Mal von den Wellen hin- und hergerissen: Haben Sie das noch nicht gehört?“

Meine Mutter ist bestürzt: „Ach so, wirklich?“

„Aber ja doch. Diese Person, was bedeutet sie Ihnen, dass Sie so eifrig nach ihr suchen?“

„Was sie mir bedeutet? Ach, was soll ich sagen? Das ist sehr kompliziert: Sie war die Frau meines Mannes.“

Das ist wirklich kompliziert, diese Liebesgeschichten zu dritt; Wenn das im Kino läuft, gibt es x Fortsetzungen, und im erneuerten Theater1 unzählige Tränen.

Meine Mutter hat auch sehr viel geweint.

Sie hat es mir immer wieder erzählt: 38 Jahre Ehe, in denen sie in der Familie ihres Mannes wohnten, voller Leiden und Freuden, ja, beides gab es da. Niemals war mein Großvater seiner Schwiegertochter gegenüber streng, kleinlich oder mürrisch gewesen, und doch hegte meine Mutter einen Groll gegen ihn bis zu seinem Tod. Wenn ich sie fragte, was dieses seltsame Verhalten bedeute, zog sie ihr Taschentuch heraus und rieb sich die Augen: „Gab es denn keine anderen Frauen? Warum musste dein Großvater mich mit diesem Mann verheiraten?“ – Sie zeigte mit der Hand Richtung Ufer – „Jetzt ist mein Leben bald zu Ende und ich habe kein Glück gekannt.“

Gerade da stieg „dieser Mann“, also mein Vater, gestützt auf einen Stock, schwankend zum Ufer hinab. Er blieb bei den alten Bäumen stehen, streichelte jedes Blatt und jede Blüte, betrachtete sie hingerissen, wie jemand, der einen Freund nach langen Jahren der Trennung wiederfindet. Dann ging er weiter bis zur Anlegestelle und stand unter den Mangrovenbäumen, die er einst in Reihe gepflanzt hatte, um das Ufer vor Erosion zu schützen. Ohne auf die goldenen Blüten zu achten, die fast seine kurz geschnittenen, silberweißen Haare berührten, starrte er intensiv auf den Fluss. Das war alles. Nach einigen Momenten kletterte er mit unsicheren Schritten das Ufer hinauf, den linken Fuß fest an den Stock gepresst, der bei jedem Schritt tief im Boden versank und ein rundes Loch hinterließ.

Die Szene war nicht neu, denn jeden Tag ging mein Vater zum Fluss hinunter; Die ganze Familie versammelte sich dann und sah ihm schweigend zu, und alle fühlten einen brennenden Schmerz, als würde eine Klinge aus Bambus ihnen das Herz zerschneiden. Denn diese Momente waren Zeiten, zu denen man sich hier versammelte – aber es fehlte immer einer. Und der ging gerade da hinten entlang, in der untergehenden Sonne.

Nach seinem ersten Schlaganfall war die linke Körperhälfte meines Vater sehr geschwächt. Man hoffte, dass es dabei bliebe; aber nach einem zweiten Schlaganfall begann sein Gedächtnis zu schwinden. Er redete kaum mehr und verhielt sich seltsam. Aber er lebte noch, er konnte noch allein stehen und gehen, da hatte er großes Glück gehabt, so sagte man sich jedenfalls. Wir wohnten damals nahe am Markt. Seine Depression wurde immer stärker, oft ging er weg mit seinem Stock. Mehrere Male musste die ganze Familie in Aufregung die Schneiderei verlassen und ihn suchen. Später habe ich das übernommen. Wenn ich ihn nicht mehr sah, nahm ich mein Fahrrad und musste nur den Weg zu unserem alten Garten einschlagen, um ihn zu finden. Wenn er mich sah, blieb er stehen, sagte nichts, sah mich aber mit flehenden Augen an; ich tat, als würde ich nichts bemerken, nahm seinen Stock, half ihm, hinter mir aufs Rad zu steigen und brachte ihn nach Hause zurück.

Einmal weinte er heftig, bittere Tränen, Rotz und Wasser liefen ihm aus Augen und Nase. Nach diesem Vorfall beschloss die Familie, ihn zum Garten meines Großvaters zu bringen. Die Familie hatte den Garten seit langem aufgegeben, aber Tante Ba, die nebenan wohnte, pflegte ihn noch und konnte nach dem Rechten sehen. Deshalb brauchten wir nur ein kleines Häuschen dort aufzubauen, in dem er wohnen konnte. Das Problem, jemanden zu finden, der mit ihm dorthin ging, stellte sich nicht: meine Mutter konnte ihn schließlich nicht allein lassen!

„Was immer geschieht, Mama muss da sein, um auf Papa aufzupassen.“ sagte ich im Scherz.

Meine Mutter machte eine abwehrende Handbewegung:

„Bisher passierte ihm nie etwas, wohin er auch ging; früher waren wir ständig in Sorge, ihn zu verlieren, aber” – ihre Stimme wurde plötzlich bitter – „er hat sich wohl niemals wirklich zu mir gehörig gefühlt: Also muss ich auch nicht auf ihn aufpassen.“

Mein Vater war ein Mann vom Fluss. Nicht die Nostalgie zu dem alten Garten trieb ihn immer wieder mit seinem Stock hierher, sondern die Sehnsucht nach dem Fluss. Drei oder vier Mal pro Tag ging er allein bis zum Landungssteg mit seinem Stock, den Blick intensiv wer-weiß-wohin gerichtet: Vor ihm lag nur die Weite des Flusses. Verlassen, einsam stand er da. Es war, als stünde er zwar hier, seine Seele, sein Herz aber hatten sich schon seit langem in der Strömung aufgelöst.

Und genau wie meine Mutter hat er nicht viele glückliche Tage gehabt in seinem Leben, wirklich glückliche Tage – im vollen Sinn des Wortes. In meiner Kinderzeit, als wir noch mit der Großmutter väterlicherseits zusammenlebten, saß er jede Nacht rauchend auf der Bank vor dem Haus. Er hob den Bambusvorhang hoch und schaute zum Fluss, ein Bein auf der Bank, das andere gebeugt als Stütze für seine Hand, die die Zigarette hielt. In dieser Pose bliebt er lange regungslos, Nacht für Nacht. Um Mitternacht schlüpfte meine Mutter leise unter das Moskitonetz; ich wachte auf und sah draußen nur den Feuerpunkt, der blinkte, bald in glänzendem Rot leuchtend, bald in traurigem Schwarz verschwindend. Meine Mutter saß still unter dem Moskitonetz und betrachtete meinen Vater, und mein Vater blickte zum Fluss.

Der Fluss war von unserem Haus durch einen langen Landungssteg getrennt, der ein Wäldchen von Wasserkokospalmen durchquerte. Wenn da die Stechpalmen, die mit dichtem Gezweig wuchsen, wenn das Gestrüpp aus Farnkräutern und Kampfergras nicht den Blick verdeckten, hätte man den Fluss erkennen können, der sich bis zum Horizont erstreckte.

In Vollmondnächten konnte man vom Haus aus die Fluten sehen, die sich in fröhlichen Wellen ergossen, in Licht getränkt. In der Nacht schlief der Fluss vor unserem Haus nicht; er blieb wach im Rhythmus des Geräuschs der Motorboote, die vorbeifuhren, des regelmäßigen Schlags der Ruder auf das Wasser. Von der Abzweigung von Vam bis hier ist der Fluss ruhig, vom Wind geschützt; die Kähne, die nachts verkehrten, pflegten hier anzuhalten, um eine Pause zu machen. Manchmal ankerte ein Sampan, der Früchte und Gemüse verkaufte, an der Landungsbrücke vor unserem Haus, ein Nachtlicht wurde an einem Mangrovenbaum befestigt, und an jedem seiner wild durcheinander wachsenden Zweige hingen Ananas und Kürbisse, die durch Regengüsse und Sonne bereits runzlig geworden waren. Nie sah man auch nur den Schatten eines menschlichen Wesens, man hörte nur das Kratzen der Kelle, mit der das ins Boot eingedrungene Wasser herausgeschöpft wurde. Wenn man bei Tagesanbruch zum Fluss hinunterlief, war der Sampan schon weitergefahren.

In solchen Nächten rauchte mein Vater ohne Pause, den Blick starr auf den roten Schein der bescheidenen Lampe gerichtet, die dort draußen traurig und schwach leuchtete. Er seufzte. Meine Mutter seufzte auch, ging in das Zimmer nebenan und weinte, zusammen mit der Großmutter. Ich verstand nicht, was sie redeten, ich konnte nur einige Satzstücke aufschnappen:

„Was habe ich nur falsch gemacht“, klagte meine Großmutter, und meine Mutter fiel verzweifelt ein: „Wie kann er so jemals vergessen, was damals passiert ist?“

Damals hatte mein Vater eine Frau geliebt. Er hatte sie selber gefunden. Mein Großvater lehnte sie kategorisch ab (Er hatte unzählige Gründe dafür, aber der wichtigste war, dass sie schon einmal verheiratet gewesen war), und mein Vater verließ das elterliche Haus, um zusammen mit ihr ein unstetes Leben zu führen. Sie erlebten viel Leid, mussten sich als Erntehelfer verdingen, zum Unkraut jäten, zum Ausbessern von Dämmen ... Schließlich konnten sie ein wenig Geld sparen; Mein Vater kaufte einen Kohler-Motor, baute ihn in einen Sampan ein und fuhr an den Ufern entlang, um Früchte und Gemüse zu verkaufen. Sie lebten sehr ärmlich. Jedesmal, wenn der Sampan am Elternhaus vorbeikam, blickte er voller Sorge zu ihm hoch, voller Heimweh, voller Reue über den Streit mit seinem Vater. Dann bekamen sie eine Tochter, aber zu allem Unglück ertrank sie. Auf dem Höhepunkt seiner Trauer kehrte er zu seiner Familie zurück. Er wurde aufgenommen vorbehaltlich einiger Bedingungen meines Großvaters, so musste er er seine Frau verlassen, er ließ sie einsam zurück, verloren zwischen Flussarmen und Kanälen. Ich habe nur einige Dinge erfahren, was ich erzählen kann, füllt lediglich diese paar Zeilen. Und ich musste erst fünfzehn Jahre alt werden, bevor meine Familie mich einweihte. Mich hat das fast umgehauen. Diese Sache war zwar schon lange her, aber die Frau auf dem Sampan erinnerte sich noch und legte weiterhin an der Landungsbrücke meines Vaters an. Konnte man da von ihm verlangen, dass er das alles so mir nichts dir nichts vergaß?

Und gerade weil mein Vater nicht vergessen konnte, fühlte sich meine Mutter ihm verbunden. Später, als ich schon erwachsen war und die Liebe kennengelernt hatte, verstand ich: Wenn ein menschliches Wesen (vor allem ein Mann) jemand liebt, sich dann aber eines Tages aus irgendeinem Grund von dem anderen Wesen abwendet und es komplett vergisst, dann erweist er sich als herzlos und verdient es auf keinen Fall, dass man ihm vertraut.

Was mich angeht, so hatte die Frage, ob mein Vater vergessen konnte oder nicht, wenig Bedeutung, denn er hat stets meine ganze Familie mit großer Güte behandelt. Er war – bis zum Exzess – nachgiebig mit allen Menschen; seine Liebe galt sogar den Abwesenden. Er redete wenig, zeigte sich meiner Mutter gegenüber freundlich und konziliant; Wenn sie krank war, ruderte er in einem Zug mehr als zehn Kilometer weit, um sie zur Krankenstation zu bringen, ohne sich zu beklagen, ohne seine Ermüdung zu zeigen, nur seiner Aufgabe gewidmet. Er nannte sie immer „Liebste“, die Nachbarinnen fühlten sich im Vergleich dazu unglücklich und weinten sogar deswegen! Und dann brach meine Mutter in Tränen aus und weinte ihretwegen. So ist der Mensch, jeder steht auf seinem Berg und blickt hoffnungsvoll auf den Berg gegenüber.2

Jeder fühlte in seinem Inneren so etwas wie eine nicht definierbare Schuld; die ganze Familie empfand keine Freude, auch wenn sie Glücksmomente erlebte (zwei Begriffe, die aus irgendeinem Grund nicht zusammenpassen). Niemand erhob Forderungen, aber die Schuld war da – sie trieb sich in der Küche herum, in dem Rauch, der in ihr aufstieg, in den Betten, in denen man ein kleines bisschen schlief, bei den beiden Mahlzeiten, die man täglich einnahm. Wir waren alle versammelt, aber in unseren Herzen fühlte jeder, dass irgendwo ein vereinsamtes, verlorenes Wesen herumirrte. Und der unglücklichste von uns allen war mein Großvater. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger des erneuerten Theaters; jedes Mal, wenn das Fernsehen ein Stück übertrug, in dem die böse Schwiegermutter die Braut von ihrem Bräutigam zu trennen versuchte, hat ihn das in eine tiefe Betrübnis versetzt. Und ich glaube, dass ihn bis zu seinem Tode die Frage gequält hat: „Ist es möglich, dass ich diesen alten Megären in diesen Stücken wirklich ähnlich bin?“

Mit Rücksicht auf die Sorgen, die meinen Großvater umtrieben, äußerte meine Mutter ihren Kummer gegen Ende seines Lebens nicht mehr, damit er sich beruhigen konnte. Aber sobald er gestorben war, beschloss meine Mutter, ihre Rivalin aufzusuchen, wenigstens ein einziges Mal! Nur ein Mal, ohne dass sie wusste, was sie dann tun sollte, aber sie war sich sicher, dass sie sie auffordern würde, meinen Vater freizugeben! Was für Hoffnungen konnte sie noch hegen, wenn sie ihren Anker warf und vor unserem Haus wartete?

Mehrere Nächte lang lag sie auf der Lauer. Schließlich tauchte der kleine Sampan mit der roten Lampe auf und legte genau unserem Haus gegenüber an, so wie sie es sich vorgestellt hatte. An diesem Abend kündigte sie meinem Vater an, dass sie die Schaluppe nehmen würde, um die Nacht bei ihren Eltern zu verbringen. Beim ersten Hahnenschrei kam sie zurück, das Boot beladen mit unterschiedlichen Gemüsen, und tat so, als führe sie zum Markt, um in aller Frühe mit dem Verkauf zu beginnen.

Als sie auf der Höhe des Sampans angekommen war, machte meine Mutter halt und stöhnte: „Ich wollte zeitig zum Markt gehen, aber der Wind ist zu stark, ich komme nicht vorwärts. Was für ein Unglück.“

Meine Mutter ging davon aus, dass diese Frau wie mein Vater in einer solchen Nacht nicht schlafen würde. Und in der Tat, sie war dabei, im Licht einer Nachtlampe einen Kopfkissenbezug zu besticken. Als sie meine Mutter hörte, wandte sie sich ihr überrascht zu, nach einem kurzen Moment lächelte sie und sagte: „Ja, diese Nacht ist der Wind stark.“

Sie raffte die Kleider, die unordentlich auf dem Bambusbett lagen, zusammen. „Kommen sie herein, hier ist es warm. Sie können ja weiterfahren, wenn der Wind sich ein wenig gelegt hat; da draußen erkälten Sie sich nur.“

Meine Mutter sagte nicht nein, sie band ihre Schaluppe fest und wechselte hinüber auf den Sampan. Da sie groß gewachsen war, musste sie sich bücken unter dem Dach aus Palmblättern und Mangrovenzweigen. Sie saßen einander gegenüber. Meine Mutter fühlte sich seltsam ruhig; als sie dieses Treffen geplant hatte, war ihr eine dramatische Szene vorgeschwebt. Jetzt erschien ihr die andere sehr sanft, bekleidet mit einer kurzärmeligen Bluse von der Farbe der Blätter der Areka-Palme, über die sie eine kurze, leichte Weste geworfen hatte, die an vielen Stellen geflickt war. Einige Haarsträhnen, die schon sehr grau waren, fielen ihr ins Gesicht. Die Unbilden der Witterung hatten ihr Gesicht braungebrannt, es war voller Falten.

Bei sich dachte meine Mutter: „Sie ist viel hässlicher als ich!“ Sie fühlte, dass es sich nicht gehörte, sie so abzuschätzen, und wandte ihren Blick ab, schaute woanders hin. Die Dinge, die sich auf dem Sampan befanden, waren bescheiden und bunt zusammengewürfelt. Direkt hinter meiner Mutter, in einem angeschlagenen Geschirr wuchsen Pflanzen: feurige Chili und Kalanchoe-Kraut3, das seine Ähren durch die Gefäß-Öffnungen streckte. Die Frau räumte das Stück Stoff weg, das sie zu besticken begonnen hatte, und füllte Wasser aus der Thermoskanne in die alte Teekanne mit dem schartigen Schnabel, dann musste sie husten.

Meine Mutter rief aus:

„Ah! Tee, das brauche ich jetzt. Aber geht es Ihnen nicht gut? Kauen Sie einige Blätter von diesem Kalanchoe-Kraut: mit Salz ist das sehr gut gegen Husten.“

Die andere lächelte: „Ja, in dieser Zeit, mit diesen garstigen Winden, kann man das gut brauchen …“

Meine Mutter fragte: „Sind Sie denn allein auf diesem Sampan? Kommen Sie denn so zurecht?“

„Ja, es muss eben gehen.“

„Aber wo ist Ihr Mann?“

„Ach!“, antwortete sie verlegen, „er ist … er ist weit weg.“

„Meiner ist mit seiner Konkubine abgehauen“, warf meine Mutter ein.

Die andere erstarrte für einen Moment, schaute sie an, als wolle sie wissen, ob der Schmerz meiner Mutter, ihren Mann verloren zu haben, mit dem ihren vergleichbar sei. Nach einem langen Moment des Schweigens neigte sie plötzlich den Kopf: „Trinken Sie den Tee; Ihre Lage ist wirklich traurig. Aber er wird bestimmt zurückkommen. Glauben Sie mir, die Männer sind gut, jedenfalls die meisten.“

Gut? Wirklich? Er hat sie verlassen, um mich zu heiraten, und da soll er gut sein?, dachte meine Mutter erstaunt bei sich. Sie schwieg. Was sollte sie jetzt sagen? Es war vielleicht nicht der richtige Moment, um den wichtigsten Satz auszusprechen.

Sie schaute um sich; eine schwach leuchtende Lampe genügte, um einige zu Ketten aufgefädelte Chips aus noch grünem, gerösteten Reis sichtbar werden zu lassen, die an der Decke hingen, einige Gläser mit Bonbons und Süßigkeiten, Pfeffertöpfe, einige Knoblauchzehen auf der einen und Früchte – Ananas, Kürbisse, Süßkartoffeln – aufgereiht auf der anderen Seite. Auf der Bank, neben der Frau, lagen zwei Stapel Kleidungsstücke – sowohl für Erwachsene, als auch für Kinder – sorgfältig aufeinandergeschichtet, aber alle alt und mit ausgeblichenen Farben.

Meine Mutter stieß hervor: „Sie haben ein kleines Kind?“

Später hat meine Mutter mir gegenüber zugegeben, dass dies ein grausamer Satz war, der ihr entwischt war; er traf die Frau an ihrer verwundbarsten Stelle.

Diese richtete ihren Blick auf die Lampe, mit einem stummen Schmerz.

„Meiner kleinen Tochter Phuoc4 widerfuhr in Wahrheit großes Unglück! Ich passte nicht richtig auf, und da – sie konnte gerade erst krabbeln – fiel sie in den Fluss, der sie weggeschwemmt hat. Das ist jetzt fast zwanzig Jahre her. Wenn sie heute noch lebte, wäre es Zeit, ihr einen Kopfkissenbezug zu sticken für die Hochzeit! Ich … ich sehe sie oft in meinen Träumen, Träumen, die aus einer anderen Zeit kommen. Da sehe ich sie plötzlich, sie redet, und fleht mich an, sie um Himmels Willen nicht im Stich zu lassen! Ihre Stimme ist angenehm, und meine Seele antwortet ihr: 'Ich werde immer auf dem Fluss leben, immer, um dir stets nahe zu sein!', und ich sehe, wie sie lacht ...“

Sie redete noch lange so weiter, bis ihr fast die Stimme wegblieb.

„Mein Gott! Sie haben Ihr Leid und ich erzähle Ihnen noch eine traurige Geschichte! Sie müssen mich sehr aufdringlich finden. Diese Sachen hier, ich habe sie schon lange; ich habe Angst, dass sie verschimmeln, also hole ich sie alle paar Monate heraus und wasche sie. Es sind Sachen von meiner Tochter dabei, auch solche von meinem Mann. Mein Mann … von ihm habe ich nur noch das. Sie sehen, wie verrückt ich bin! Ich kann mich nicht davon abhalten, sie zu waschen, aber durch das dauernde Waschen verliert sich der Geruch meines Mannes, und ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie es war ...“

Ein angedeutetes schmerzliches Lächeln überflog ihr Gesucht.

Meine Mutter hielt ihre Seufzer zurück und sagte mit erstickter Stimme: „Warum sind wir Frauen immer so unglücklich?“

In der Ferne krähte ein Hahn. In dieser Nacht war die Flut sehr schnell gekommen, sie hatte schon die halbe Höhe auf der Stange erreicht, an der der Sampan angebunden war. Glücklicherweise schrie nicht der Kuckuck, um eine besonders hohe Flut anzukündigen. Dann wäre alles noch trauriger gewesen. Meine Mutter beruhigte sich und sagte sich: Ihr jetzt noch alles zu nehmen, was ihr geblieben ist, wäre unangebracht. Sie selbst könne ja noch Jahre mit ihm leben – auf den Feldern am Tag, im Bett in der Nacht. Beim Essen könnten sie einander anschauen, und auch im Schlaf könnten sie sich nahe sein… Dagegen könne diese Frau, wie intensiv sie auch immer an ihn denke, lediglich in diesem Sampan sitzen und das Haus anstarren! Wenn sie einander auf der Straße begegneten, dann könnten sie einander nur Blicke zuwerfen: es sei ihnen verboten, einander zu grüßen, miteinander zu sprechen. Das war sicherlich sehr schmerzhaft, kein Zweifel!

Meine Mutter schaute zum Himmel empor. Es war noch dunkel, aber man konnte schon die Schaluppen sehen, die sehr früh zum Markt fuhren. Die Ruderschläge klatschten auf die Oberfläche des süßen und sanften Wassers, sie wühlten es auf, und es sah aus, als schichteten sich die Wellen übereinander, wie die Schollen eines Ackers unter einer Pflugschar. Der Wind schien sich gelegt zu haben.

Die Frau beugte sich hinaus, um zum Himmel zu blicken und rief offensichtlich bedauernd aus: „Mein Gott, wie schnell die Nacht vorbeigegangen ist. Ich glaube, jetzt muss ich los.“

„So früh schon?“

„Ja, ich breche immer auf, ehe … die Leute wach werden ...“

„Und ich habe zu viel geredet und Sie davon abgehalten, Ihre Stickerei zu beenden. ...“

„Nein!“ Die Frau lachte, dann war ihr Gesicht wieder von tiefer Trauer geprägt: „Ich sticke, um die Nacht zu vertreiben; wenn ich fertig bin, löse ich alles wieder auf. Ich habe Angst, dass ich an meinen Mann und meine Tochter denken muss, wenn ich mich nicht beschäftige ... Denn dann muss ich unweigerlich weinen, kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Dieser Mann hat schon genug gelitten, ihn auch noch mit meinen Tränen zu belasten, das bringe ich nicht übers Herz.“

Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander. Der Motor des Sampans lief schon, stieß eine dichte Qualmwolke aus, als die Frau ihr noch einen letzten Rat mit auf den Weg gab: „Wenn er zurückkommt, seien Sie bitte nicht böse. Wo immer er hingeht, was er auch tut, er liebt nur Sie.“

Meine Mutter sagte nichts, wandte sich ab und weinte.

Im darauffolgenden Monat packte meine Mutter resolut alles zusammen, was wir hatten und ging, um in der Nähe des Marktes ein Haus zu kaufen. Mein Vater, der sich ein wenig auf die Schreinerei verstand, übernahm es, Schränke und andere Möbel für andere Leute anzufertigen; meine Mutter machte sich daran, Tofu zuzubereiten und den Händlern zu verkaufen, meine Schwester machte eine Schneiderei auf, und ich ging an die Universität.

Unser ganzes Leben war auf einer neuen Grundlage organisiert. Meine Mutter hatte meinen Vater vom Fluss weggeholt, aber sie wusste sehr wohl, dass seine Erinnerungen in seinem Herzen fortlebten. Sogar sie selbst konnte das Bild der Plattform aus geflochtenem Bambus nicht verdrängen, dessen Farbe schon verblasst war und auf der aufgestellt waren ein Teller, eine große Schüssel, drei Schälchen und drei Paar Stäbchen, wie zu der Zeit, als die Frau auf dem Sampan noch ihre ganze Familie hatte.

… Bis heute hat meine Mutter die Frau nicht wiederfinden können. Wenn ich sie fragte, warum sie nach ihr suche, antwortete sie, sie wolle, dass die beiden sich noch einmal treffen; Das könne das Gemüt meines Vaters beruhigen. Jetzt liegt mein Vater im dritten Grab an der Stelle, wo meine Großeltern auch begraben sind. Meine Mutter gibt die Suche nach der Frau nicht auf; wenn man sie nach dem Grund fragt, sagt sie, sie müsse ihr erzählen, was alles passiert ist und ihr sagen, dass sie zwar zu Lebzeiten von meinem Vater ferngehalten worden sei, aber herzlich eingeladen sei, sich in unserem Garten zur Ruhe zu legen nach ihrem Tod.

Das war die letzte Anstrengung, die meine Mutter machte, um diese Situation zu beenden, in der mein Vater Tag und Nacht bei ihr war, während seine Seele sich langsam zu den Flüssen hin verflüchtigte, die ihre Wasser unentwegt ins Unendliche treiben.

Anmerkungen:
1cai luong Theatertradition aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, eine Mischung aus Liedern und Szenen, in Südvietnam sehr populär.
2Vietnamesische Redewendung, bedeutet etwa: Niemand ist mit seiner Situation, seiner Position zufrieden, immer möchte er sie eintauschen gegen eine andere.
3Kalanchoe pinnata, Dickblattgewächs (Crassulaceae), eine Heilpflanze
4Der Name bedeutet auch „Glück“.

Quelle: Dong nho,
in: Canh dông bât tân [Endlos weite Felder]
Ho Chi Minh-Stadt 201434,
übersetzt von
Günter Giesenfeld und Marianne Ngo

Von der Autorin unserer Kurzgeschichte, Nguyen Ngoc Tu, übersetzen wir derzeit einen Band mit Geschichten, der Ende des Jahres in der von der Freundschaftsgesellschaft herausgegebenen Reihe „Neue vietnamesische Literatur“ als vierter Band im Mitteldeutschen Verlag, Halle, erscheinen wird. Nguyen Ngoc Tu ist eine sehr erfolgreiche Autorin, ihre Bücher reichen an europäische Bestsellerauflagen heran. Näheres zu ihrer durchaus spektakulären Karriere als Schriftstellerin finden Sie auf unserer Website
Red.

veröffentlicht im Vietnam Kurier 1/2016

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